Joseph Victor von Scheffel
Ekkehard
Joseph Victor von Scheffel

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Zwanzigstes Kapitel

Von deutscher Heldensage

Auf dem Gipfel des hohen Twiel innerhalb der Burgmauern war ein zierlich Gärtlein angelegt; ein steiler Felsvorsprung, von Mauerwerk eingefaßt, umschloß den mäßigen Raum. Es war ein feiner Platz, als wie eine Hochwacht, denn steil abwärts sprang der Fels, also, daß man über die Brüstung gelehnt einen Stein mochte hinabschleudern ins tiefe Tal, und wer sich am Ausspähen erfreute, der mochte Umschau halten über Berg und Fläche und See und Alpengipfel, keine Schranke hemmte den Blick. Im Eckwinkel des Gärtleins ließ ein alter Ahorn vergnüglich seine Wipfel im Winde rauschen, schon war das beflügelte Samenkorn reif und gebräunt und wirbelte auf die schwarze Blumenerde hernieder; – eine Leiter war an den grüngrauen Stamm gelehnt, zu Füßen stand Praxedis und hielt die Enden eines schweren langen Zeltgetüchs, in den Ästen aber saß Burkard, der Klosterschüler, mit Nagel und Hammer und suchte das Tuch festzunageln.

Achtung! rief Praxedis, ich glaube, du schauest dem Storch nach, der dem Kirchturm von Radolfs Zelle entgegen fliegt. Paß auf, du Ehrenpreis aller lateinischen Schüler, und schlag mir den Nagel nicht neben den Ast.

Praxedis hatte das Tuch mit der Linken empor gehalten, jetzt ließ es der Klosterschüler fahren, da zog sich's gewichtig herab, riß von dem lässig eingeschlagenen Nagel und sank schwerfällig, so daß die Griechin schier ganz drein begraben ward.

Warte, Pfuscher! schalt Praxedis, wie sie sich aus der groben Umhüllung vorgewickelt, ich werd' einmal nachsehen, ob es keine grauen Haare mehr abzuschneiden gibt.

Kaum war das letzte Wort gesprochen, so ward der Klosterschüler auf der Leiter sichtbar, er kletterte die Sprossen bis zur Hälfte nieder, dann sprang er mit gleichen Füßen auf das Tuch und stand vor Praxedis.

Setzt Euch, sprach er, ich will mich gern wieder strafen lassen. Ich hab' heut nacht geträumt, Ihr hättet mir alle Haare ausgerauft und ich wär' mit einem Kahlkopf in die Schule gekommen und es hätt' mich gar nicht gereut.

Praxedis schlug ihm leicht auf das Haupt.

Werd nicht zu üppig in den Ferien, Männlein, sonst wird dein Rücken ein Tanzboden für die Rute, wenn du wieder im Kloster bist.

Aber der Klosterschüler dachte nicht an den kühlen Schatten seiner Hörsäle. Er stund unbeweglich vor Praxedis.

Nun? sprach sie, was gibt's noch? Was begehrt man?

Einen Kuß! antwortete der Zögling der freien Künste.

Hört mir den Zaunkönig an! scherzte Praxedis. Was hat Eure Weisheit für Gründe zu solchem Begehr?

Die Frau Herzogin hat's auch getan, sagte Burkard, und Ihr habt mich schon über ein dutzendmal aufgefordert, ich soll Euch die Geschichte erzählen, wie ich mit meinem alten Freund Romeias vor den Hunnen geflohen und wie er als ein tapferer Held gestritten hat. Das erzähl' ich Euch aber nur um einen Kuß.

Höre, sprach die Griechin mit ernst verzogener Miene, ich muß dir etwas sehr Merkwürdiges mitteilen.

Was? frug der Knabe hastig.

Du bist der törichste Schlingel, der je seinen Fuß über eine Klosterschulschwelle gesetzt!... sprach sie, verstrickte ihn schnell in ihre weißen Arme und küßte ihn derb auf die Nase.

Wohl bekomm's! rief eine tiefe Baßstimme von der Gartenpforte her, wie sie den Knaben schalkhaft von sich stieß. Es war Herr Spazzo.

Schönen Dank! sprach Praxedis unbetrübt. Ihr kommt gerade recht, Herr Kämmerer, um bei Aufrichtung des Zelttuchs zu helfen. Mit dem törichten Knaben bring' ich's heut nicht mehr zu stand.

So scheint es! sprach Herr Spazzo mit einem dreischneidigen Blick auf den Klosterschüler. Der hatte Angst vor des Kämmerers grimm gestrichenem Schnurrbart und drehte sich einem Rosengebüsch zu. Astronomie und Metrik, Aristoteles in der Ursprache und rote Frauenlippen schwebten in tanzendem Durcheinander durch das fünfzehnjährige Gemüt.

Gibt's keine besseren Leute zu küssen im Hohentwieler Burgfrieden, Jungfräulein? fragte Herr Spazzo.

Wenn man je eine Sehnsucht hätte, war Praxedis' Antwort, so sind die besseren Leute ausgeritten und fahren in Nacht und Nebel herum und kommen erst am hellen Tag in einem Aussehen wieder heim, daß man meinen könnt', sie hätten Irrlichter einfangen wollen.

Da hatte Herr Spazzo seinen Teil. Er hatte aber ein Gelübde getan, von seinem nächtlichen Ritt samt Kuckucksruf und vince luna kein Wörtlein zu verplaudern. Wozu soll ich Euch helfen? fragte er demütig.

Eine Laube herrichten! sprach Praxedis. In abendlicher Sommerkühle will die Herzogin hier Hof halten – es sollen Geschichten erzählt werden, alte Geschichten, Herr Kämmerer, je wunderbarer desto besser! Unsere Herrin hat das Lateinische satt bekommen, sie will was anderes, Ungeschriebenes, Einheimisches... Ich müßt auch Euer Scherflein beitragen.

Gott sei meiner Seele gnädig! sprach Herr Spazzo, wenn unter einer Frauen Herrschaftsführung nicht alles wunderbar herginge, so möcht' man sich noch verwundern. Gibt's keine fahrenden Sänger und Saitenspieler mehr, die um einen Helm voll Weines und eine Hirschkeule die Kehle heiser singen von derlei Mären? Da steigen wir hoch im Wert! Landflüchtige Possenreißer, Barden und derlei müßige Gesellschaft soll man mit Ruten aushauen, und wenn sie drum klagen, sei ihnen der Schatten eines Mannes an der Wand.. spillüten und allen den, die gut für ere nement und die sich ze aigen geben hant, den gibt man ains mannes schaten von der sunnen etc. Landrecht des Schwabenspiegels. verabreicht als Entgelt. Ich dank' für die Ehre.

Ihr werdet tun, was befohlen wird, als getreuer Dienstmann, der noch Rechenschaft schuldig ist über gewisse Geschäftsführungen beim klösterlichen Weinkrug, sprach Praxedis. Es ist doch lustiger als Latein buchstabieren. Habt Ihr keine Lust, den gelehrten Herrn Ekkehard auszustechen?

Der Wink leuchtete dem Kämmerer ziemlich ein. Gebt mir den Tuchzipfel, sprach er, daß wir das Zeltdach spannen. Er stieg zum Ahorn auf und festigte die Enden im Geäst. Gegenüber waren hohe Stangen eingeschlagen, von blauer Bohnenblüte umrankt, dahin trug Praxedis das Getüch an seinen andern Enden; in kurzem hing die schattige Decke über den luftigen Raum, die grauweiße Leinwand schimmerte anmutig zum Gelbgrün der Blätter und Ranken, es war eine lustige Gartenfrische.

Der Vesperwein möchte sich anmutig hier trinken lassen, sagte Herr Spazzo halb betrübt über das, was bevorstand, Praxedis aber ordnete Tisch und Sitze, der Herzogin Polsterstuhl mit dem durchbrochenen Schnitzwerk lehnte sich an den Stamm des Ahorn, niedrige Schemel für die andern, ihre Laute holte sie herunter und legte sie auf den Tisch, Burkard aber mußte einen großen Blumenstrauß binden, der ward vor den Herzogsitz gestellt. Dann band die Griechin einen roten Seidenfaden um den Baumstamm, zog ihn bis zur Bohnenhecke hinüber und von dort zur Mauer, so daß nur ein schmaler Durchgang frei blieb. So! sprach sie vergnügt, jetzt ist unser Plaudersaal umgrenzt und umfriedet, wie König Laurins Rosengarten,

dabei ein schönes Gärtelein,
Darumb gehet ein seiden Faden.
        Laurins kleiner Rosengarten.

die Mauern sind wohlfeil herzustellen.

Die Herzogin freute sich ihres Einfalls und schmückte sich mit einer gewissen Absicht. Es war noch früh am Abend, da stieg sie zur Laube hinab. Blendend rauschte die stolze Erscheinung einher; sie hatte ein weites Gewand umgetan, Saum und Ärmel mit schimmerndem Gold durchstickt, ein stahlgrauer mantelartiger Überwurf wallte bis zum Boden herab, von edelsteinbesetzen Agraffen gehalten; übers Haupt trug sie ein schleierartig Gewebe, licht und durchsichtig, von güldenem Stirnband anschmiegend zusammengefaltet. Sie griff eine Rose aus Burkards Strauß und heftete sie zwischen Band und Schleier.

Der Klosterschüler, der schon nahe daran war, Klassiker und freie Künste zu vergessen, hatte sich die Gnade erbeten, der Herzogin Schleppe zu tragen, und ihr zu Ehren ein Paar abenteuerliche Schnabelschuhe, an beiden Seiten mit Ohren versehen, angelegt»Was soll ich aber von ihren abenteuerlichen Schuhen sagen? Denn in dieser Hinsicht sind die Mönche so unvernünftig, daß ihnen der Nutzen einer Fußbekleidung großenteils entgeht. Sie lassen sich nämlich ihre Schuhe so eng machen, daß sie darin fast, wie in den Stock geschlossen, am Gehen gehindert sind. Auch setzen sie denselben vorne Schnäbel, an beiden Seiten aber Ohren an und tragen große Sorge, daß sie sich genau dem Fuße anschließen; halten auch ihre Diener dazu an, daß sie mit besonderer Kunst den Schuhen einen spiegelhellen Glanz verleihen. – Dritte Ereiferung des Primas auf der Synode zu Mont Notre-Dame bei Richer III. 39. und machte sich verschiedene Gedanken über das Glück, einer solchen Gebieterin als frommer Edelknabe zu dienen.

Praxedis und Herr Spazzo traten mit ein. Die Herzogin schaute sich flüchtig um: Ist Meister Ekkehard, zu dessen Belehrung wir den Abend geordnet, unsichtbar?

Er war nicht erschienen.

Mein Oheim muß krank sein, sprach Burkard. Er ist gestern abend mit großen Schritten in seiner Turmstube auf und nieder gegangen, und wie ich ihm die Sternbilder vor dem Fenster erklären wollt', den Bär und Orion und den mattschimmernden Fleck der Plejaden, hat er mir keine Antwort gegeben. Dann hat er sich angekleidet aufs Lager geworfen und im Schlaf gesprochen.

Was hat er gesprochen? fragte die Herzogin.

Meine Taube, hat er gesagt, die du in den Spalten der Felsen dich verbirgst und den Ritzen des Gesteines, zeig mir dein Angesicht, laß deine Stimme klingen in meine Ohren, denn die Stimme ist süß und dein Angesicht schön; und ein andermal hat er gesagt: Warum küssest du den Knaben vor meinen Augen? was hoff' ich und säum' ich noch in libyschen Landen?

Da schaut's gut aus, flüsterte Herr Spazzo der Griechin zu, habt Ihr das auf dem Gewissen?

Die Herzogin aber sprach zu Burkard: Du wirst selber geträumt haben. Spring hinauf und such deinen Ohm, daß er heruntersteige, wo wir seiner warten.

Sie ließ sich anmutig auf den thronartigen Sitz nieder. Da kam Ekkehard mit dem Klosterschüler in den Garten. Er sah blaß aus; sein Blick war unstet und trüb. Er neigte sich stumm und setzte sich an des Tisches entgegengesetzt Ende. Burkard wollte seinen Schemel zu Füßen der Herzogin rücken wie gestern, da sie Virgil lasen, aber Ekkehard stund auf und zog ihn an der Hand zu sich herüber. Hierher! sprach er. Die Herzogin ließ ihn gewähren.

Sie schaute in die Runde. Wir haben gestern behauptet, sprach sie, daß wir in unsern deutschen Sagen und Geschichten so viel schöne Gelegenheit und Kurzweil besitzen, als weiland die Römer in ihrem Heldenlied vom Aeneas. Und sicher weiß ein jedes von uns etwas von schneller Helden Fechten und fester Burgen Brechen, von treuer Liebsten Scheidung und reicher Könige Zergängnis; des Menschen Herz ist mannigfach geartet, was der eine seitab liegen läßt, mutet den andern an. Darum haben wir die heutige Tagfahrt geordnet, daß von jedem unserer Getreuen, wie das Los entscheidet, ein anmutig Stück erzählt werde, und behalten uns vor, dem liebreizendsten einen Preis auszusetzen. Siegt einer von euch Männern, so mög' er das alte Trinkhorn gewinnen, das aus König Dagoberts Zeiten her droben im großen Saale hängt; siegt meine treue Praxedis, so wird ein Schmuckstück ihrer harren. Halmzug bestimme den Anfang!

Praxedis hatte vier Grashalme von verschiedener Länge geordnet und reichte sie der Herzogin. Soll ich für den jungen Verskünstler auch ein Hälmlein beifügen? fragte sie.

Aber Burkard sprach mit weinerlicher Stimme:

Ich bitt' Euch, verschonst mich. Denn wenn meine Lehrer in Sankt Gallen erfahren möchten, daß ich mich wiederum an unnützen Mären ergötzt, so würd' ich gestraft wie damals, als wir auf Romeias' Wächterstube die Geschichte vom alten Hildebrand und seinem Sohn Hadubrand aufführten. Der Wächter hat immer seine Freude dran gehabt und hat uns selber die hölzernen Rosse geschnitzt und die langen dreieckigen Schilde; ich bin der Sohn Hadubrand gewesen und mein Mitschüler Notker machte den alten Hildebrand, weil er eine so große Unterlippe hat wie ein alter Mann. Und wir sind aufeinand eingeritten, daß eine Staubwolke zu des Romeias Fenster hinauswirbelte; just hatte Notker den Armring losgelöst und mir als Gabe gereicht, wie das Lied es vorschreibt,Hildebrandslied v. 70 u. ff. – Noch Prätorius (†1680) in seiner Weltbeschreibung erwähnt »närrische Gaukelerszelte, wo der alte Hildebrand und solche Possen mit Docken gespielt werden, Puppen-Komödieen genannt.« und ich sprach zu ihm:

Du scheinst mir, alter Heune, doch allzuschlau; lockest mich mit deinen Worten, willst mich mit deinem Speer werfen, bist du so zum Alter gekommen, daß du immer trogest? mir kündeten Seefahrende westlich über den Wendelsee: hinweg nahm ihn der Krieg, tot ist Hildebrand, Heribrands Erzeugter! –

Da kam Herr Ratolt, unser Lehrer der Rhetorica, heraufgeschlichen und fuhr mit seiner großen Rute so grimmig zwischen uns, daß Roß und Schild und Schwert den Händen entfielen: den Romeias schalt er einen altväterischen Bärenhäuter, der uns von nützlichem Studium ablenke, und mein Kamerad Notker und ich sind drei Tage bei Wasser und Brot eingesperrt gesessen und haben zur Strafe fürs Hildebrandspiel jeder hundertundfünfzig lateinische Hexameter zu Ehren des heiligen Othmar anfertigen müssen...

Die Herzogin lächelte. Da sei Gott für, daß wir dich wiederum zu solcher Sünde verleiten, sprach sie.

Sie faßte die Halme in der Rechten zusammen und reichte sie anmutig den andern zum Ziehen. Ekkehards Augen hafteten unverrückt auf der Rose am Stirnband, wie er vor sie trat. Sie mußte ihn zweimal auffordern, bis er zog.

Mord und Brand und Weltende! wollte Herr Spazzo herausfahren; er hatte den kürzesten Halm gegriffen. Aber er wußte, daß keine Ausrede ihn loswinden könne, und schaute betrüblich über die steile Felswand hinunter ins Tal, als ob sich von dort ein Ausweg auftun müsse. Praxedis hatte die Laute gestimmt und spielte ein Präludium, das klang lieblich zum Rauschen der alten Ahornwipfel.

Unser Herr Kämmerer hat keine Strafen zu fürchten wie der Klosterzögling, wenn er uns etwas Schönes bringt, sprach die Herzogin. Nun denn!

Da neigte sich Herr Spazzo vorwärts, stellte sein Schwert mit dem breiten Griff vor sich, so daß er seine Arme drauf stemmen konnte, strich seinen Bart und hub an:


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