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Die Spinnprobe

Ein Märchen

In einem Ländchen, das irgendwo zwischen himmelhohen Bergen an einer der schönsten Stellen der Erde lag, herrschte einst ein guter, weiser König, der eine Fee zur Gemahlin hatte. Als diese dem Erdensohne die Hand reichte, verlor sie alle Wundergaben, so daß sie eine gewöhnliche sterbliche Erdenfrau wurde. Aber ein Schimmer ihres Feenwesens war ihr doch geblieben. Sie war schöner als alle andern Frauen. Dazu zeichnete sie sich durch wunderbare Geschicklichkeit und große Klugheit aus, und wenn ihr auch die Feengabe des Allsehens genommen war, so sah sie doch tiefer und weiter als andere Menschenkinder. Daß diese kluge, schöne, gütige Königin im Lande in hohen Ehren stand, kann sich wohl jeder denken.

Das glückliche Königspaar besaß auch ein Töchterchen, das der Mutter ähnlich zu werden versprach. Unter dem Prinzessinnenkrönchen und dem goldenen Haar sah das klare Kindergesicht so freundlich und bescheiden in die Welt, daß es sich mit einem Blick alle Herzen gewann. Prinzeßchen Viola war des Landes Kleinod und die Augenweide aller, der Ältesten und der Jüngsten. Wenn sie mit ihren Eltern im Königswagen mit den vier goldgeschirrten Schimmeln durch die Städte fuhr, ging ein Jauchzen durch die Gassen, Blumen flogen durch die Lüfte, und bunte Tücher flatterten aus allen Fenstern. Tagelang war es den Leuten nach dem lieben Anblick noch froh zumute.

Natürlich war das Kind der Eltern Augapfel, und jeder Wunsch, der nur im Bereich der Möglichkeit lag, wurde ihm erfüllt. Viel zu wünschen gab es für dieses Kind freilich nicht. Das schönste Spielzeug, die besten Bücher, die niedlichsten Kleidchen waren sein; es wohnte in einem weißen, goldschimmernden Marmorschloß inmitten eines herrlichen Gartens; es hatte sein Pferdchen, sein weißes Reh, seinen treuen, schönen Hund, seine Singvögel, seine Tauben.

Aber eines Tages merkte es doch, daß ihm etwas fehlte. Es sah auf der Landstraße zwei Mädchen, ziemlich gleich groß, in gleicher Tracht und eng umschlungen. »Zwei Schwestern aus dem nächsten Ort,« berichtete der Hofmarschall, den man fragte.

Da sagte die kleine Prinzessin sehnsüchtig: »Ach, eine Schwester möcht' ich auch haben, eine, die auch ungefähr so alt ist wie ich, mit der ich spielen, arbeiten und reden könnte.

Das Königspaar schaute einander an, und in beiden Gesichtern stand derselbe Gedanke. »Wir wollen unter den edelsten Geschlechtern des Landes eine Pflegeschwester für Viola aussuchen,« sagte der König am Abend dieses Tages zur Königin.

Aber die kluge, sanfte Frau schüttelte leise den Kopf. »Wenn es dir recht ist, nicht unter den edelsten Geschlechtern,« sagte sie. »Die Kinder der Reichen und Großen haben im eigenen Heim Freuden genug. Das beste, liebste, von Herzen reinste Kind aus dem Volke soll Violas Gefährtin werden. Wir wollen uns unseres Kindes Altersgenossinnen aus den Armenschulen ins Schloß holen lassen, und ich suche die beste aus.«

»Du Liebe!« erwiderte ihr Gemahl. »Wie willst du denn die Beste erkennen? Früher, ehe du mein liebes Weib wurdest, konntest du ja wohl die Gedanken sehen, aber jetzt –«

»Oh, ich sehe sie noch, wenn sie sich in Dinge verweben. Laß mich einmal schalten, mein Gemahl!« rief sie bittend. »Du wirst sehen, daß ich die Rechte finde. Sind deren Eltern dann damit einverstanden, so soll sie Violas Gespielin werden, und hat sie niemanden in der Welt, so wollen wir sie zu unserm zweiten Kinde machen, ob sie nun hold oder häßlich ist. Sie soll alles Schöne haben, was Viola hat, und soll ihr in nichts nachstehen. Bist du damit einverstanden? Darf ich auswählen?«

»Ich bitte dich darum,« sagte der König.

Am nächsten Tage ging eine große Aufregung durch alle Städte und Dörfer des Landes. Das Königspaar hatte Boten umhergesandt, die etwas Seltsames verkündigten. Alle Mädchen von zehn bis zwölf Jahren, die in Armenschulen Unterricht empfingen, sollten sich am ersten Maisonntag im Königsschloß versammeln. Dort würden viele Hunderte von Spinnrädchen bereit stehen, und es sollte große Spinnprobe stattfinden. Nach einer Stunde sollten die gesponnenen Fäden geprüft werden, und die den schönsten Faden gesponnen, solle ein großes Glück erfahren: wenn sie wolle und möge, solle sie als zweites Prinzeßchen für immer im Schloß bleiben und Viola in allem gleich sein. Sie sei aber nicht gebunden; wenn sie ein Elternhaus besitze, von dem sie sich nicht trennen wolle, so könne sie in dasselbe heimkehren, wann es ihr beliebe, und brauche Viola nur, so oft sie Lust dazu habe, Gesellschaft zu leisten. In der Hauptstadt sollten sich die Mädchen an dem bestimmten Tage alle versammeln und dann zusammen auf der langen Schloßallee zum Königsschloß hinauswandern.

Es ist nicht zu beschreiben, welchen Eindruck diese Verkündigung machte. Die Armen, gerade die Armen waren die Auserwählten! Da beneideten endlich einmal die Reichen die Armen, und von den Armen beneideten wieder die Kinderlosen, die früher viel besser daran gewesen, die glücklichen Leute, denen ein Mädchen in dem besagten Alter beschert war. Ganz wohlhabende Bürgersleute wollten rasch noch ihre Töchter in die Armenschule schicken, aber das ging nicht; die königlichen Boten mußten darauf achten, daß keine Ungerechtigkeit und Unrichtigkeit vorkam.

Da waren die armen Leute einmal obenauf. Jeder hoffte, sein Mädel werde die Auserwählte sein, und deshalb wurde nichts gespart, um die Kinder so auszurüsten, daß sie sich vor den hohen Herrschaften sehen lassen konnten. Die Hübschesten und Geschicktesten bekamen von Schustern und Schneidern sogar Sachen geborgt mit der Mahnung, sie nur dann im Glück recht reichlich für ihre Hilfsbereitschaft zu belohnen. Da wurde in den Armenschulen so viel von hübschen Kleidern und Schürzen und Schuhen gesprochen wie noch nie; der König, die Frau Königin und das Prinzeßchen waren in aller Kinder Mund, und viele, namentlich die, die wirklich schön spinnen konnten oder es zu können glaubten, sahen sich schon ganz heimisch im goldschimmernden Märchenschloß. Die Faulsten wurden fleißig und probierten und übten und rühmten sich dann, wie hübsch und fein ihr Fädchen gerate.

Ein einziges kleines, armes Ding konnte trotz aller Sehnsucht nicht einmal dazu kommen, ein Spinnrad zu berühren. Sie war eine Waise und stand im Dienst bei harten, rohen Leuten, die ihr so viel Arbeit für sich und ihre Kinder aufbürdeten, daß ihr schwächlicher Körper schon ganz gebückt und ihr Gesichtchen alt und müde war. Recht traurig und häßlich sah sie aus, die arme, kleine Marei. Deshalb erschrak sie auch zuerst sehr, als sie in der Schule hörte, daß sie mit ins Königsschloß sollte. Sie konnte ja nicht spinnen und konnte überhaupt gar nichts; das hörte sie jeden Tag unter Schlägen und Schelten wohl hundertmal. Deshalb duckte sie sich auch ganz demütig zusammen, als ihre grobe Dienstherrschaft sagte, sie möge sich nicht einfallen lassen zu glauben, sie dürfe mit ins Schloß. In ihrem Lumpenkleidchen könne sie nicht gehen, und ihr ein besseres zu kaufen, das falle ihnen gar nicht ein. Sie brauche die Herrlichkeit des Schlosses nicht zu sehen; sie bekomme auch nichts davon vor die Augen. Und wer sollte denn arbeiten, die Kinder anziehen, Holz hacken, Wasser tragen und die übrigen Hausarbeiten verrichten, wenn sie fortliefe? Sie bleibe da, sie gehöre nicht zu den andern. Damit Punktum!

Die arme Marei sah das alles ein und sagte auch nicht ein Wort dagegen, obgleich ganz allmählich auch in ihrem Herzen die Sehnsucht erwachte, mit dabei zu sein. Nicht an Glanz und Glück dachte sie, sie war ja so ungeschickt und würde den Preis nie gewinnen, aber aus den Reden der andern erfuhr sie immer mehr von der guten, schönen, klugen Königin und dem liebreizenden Prinzeßchen, so daß der Wunsch in ihr lebendig wurde, die beiden nur ein einziges Mal von fern zu sehen. Wachend und schlafend träumte sie von den beiden und pries die andern Kinder glücklich, weil sie in die Nähe der herrlichsten Frau und des freundlichsten, besten Kindes kommen durften.

So kam endlich der Tag der Spinnprobe heran. Die Kinder von auswärts waren schon in der Hauptstadt; alle Straßen wimmelten von kleinen, sauberen, glatt gekämmten, hübsch angezogenen Mädchen. Der Zug sollte bald abgehen, als die Königsboten noch einmal das Verzeichnis aller zehn- bis zwölfjährigen Armenschülerinnen mit den Anwesenden verglichen. Da stellte es sich heraus, daß eine zehnjährige namens Marei fehlte. Die mußte herbei um jeden Preis. Die Frau Königin hatte streng befohlen, keine einzige zu vergessen. In großer Aufregung fragten die Boten, wer denn das Mädchen sei, und wo sie wohne. Ach, das Waisenkind, das bei dem bösen Kupferschmied im Mauergäßchen diene, sei es nur. Die habe wohl nichts anzuziehen und könne daher nicht mit, sagten die Leute geringschätzig.

Aber die Boten nahmen den Befehl ihrer geliebten Königin sehr ernst. Augenblicklich machte sich einer nach dem dumpfen, dunklen Haus im Mauergäßchen auf und brachte das zitternde, erschrockene Kind, wie er es gefunden hatte, im dünnen Hemd und schlechten Röckchen, barfüßig, die Spuren der Asche, die sie eben aus dem Herde geräumt, noch an den Händen.

Spott und Gelächter wollte sich erheben, aber dazu war keine Zeit. Die Turmuhr schlug eben zwölf, und mit dem letzten Glockenschlage der Mittagsstunde sollte sich der Zug in Bewegung nach dem Schlosse zu setzen.

»Frischauf,« rief ein Herold, »im Namen des Königspaares!« Und ein anderer fügte hinzu: »Die Frau Königin läßt verkünden, jetzt fange die Spinnprobe eigentlich schon an.«

Auf die letzten Worte achtete niemand, und niemand verstand sie recht. Unter den Klängen kleiner, silberner Trompeten wandelte die geschmückte, erregte Mädchenschar dahin. Marei schloß als letzte den großen, langen Zug.

Sie wunderte sich nur, daß ihr das Herz nicht zersprang, so heftig arbeitete und pochte es in ihrer Brust. Was ging alles darin vor! Die Schmach und Schande, so schlecht gekleidet, so verwahrlost, ja mit schmutzigen Händen sogar im festlichen Zug zu schreiten, wollte die arme Kleine zu Boden drücken. »Ich bin die Allerniedrigste! Ich kann, ich kann so nicht mit!« dachte sie tief beschämt. Dann aber zuckte doch die seligste Wonne durch ihr Herz; sie durfte ja die Königin und die Prinzessin sehen, wenn auch gewiß nur ganz von ferne. Recht inbrünstig dachte sie an die Seligkeit derjenigen, die den Preis gewinnen und das Glück erringen würde. Wenn es eine ihrer Kameradinnen träfe! Wie wonnig das wäre! Welcher sie es am liebsten gönnte? Ach, allen! Die, welche leer ausgingen, taten ihr innig leid. Daß sie fast alle immer häßlich und hämisch zu ihr gewesen waren, hatte sie ganz vergessen. Ach, solch ein Glück! Sich nur hineinzudenken, war schon eine Seligkeit. Immer in der Nähe der herrlichen Königin sein, von ihr Gutes lernen, ihr dankbar und gehorsam sein bis ans Ende der Tage und dem süßen Schwesterlein in Liebe dienen – oh, glücklich, überglücklich die, welche diese Wonne traf! Viele aus ihrer Klasse waren ja so geschickt. Sie allein konnte nichts. Aber wer sollte ihr auch etwas zeigen? Die Frau, bei der sie diente, hatte mit den vielen Kindern ihre liebe Not. Aus Sorge war sie wohl auch nur so böse. Wenn das Glück doch einer so kleinen, dummen Marei zuteil werden könnte. Es war ja gar nicht daran zu denken, gewiß nicht, aber gesetzt einmal den Fall – wie sie dann austeilen wollte! Alles, was sie bekam, wollte sie mit den Kindern der Leute teilen, bei denen sie gedient. Und nicht im Staat und Glanz wollte sie dann zu ihnen gehen, nein, im einfachsten Kleid. Und der Königin wollte sie nie ein Wort davon sagen, daß die Leute sie so oft geschlagen, ja nicht einmal denken wollte sie mehr daran, wie schlecht sie von ihnen behandelt worden sei.

So sann sie, und dabei sah sie nicht, wie viele Blicke sich verächtlich auf sie richteten.

»Man muß sich ihrer schämen,« dachten viele der Kinder. »Sie sieht ganz weiß aus im Gesicht. Wenn sie doch nicht mit fortkäme, das wäre am allerbesten!«

Dann sahen die, die so gedacht, wohlgefällig an ihrem eigenen netten Anzug hinab. »Ich bin die Hübscheste,« dachte die eine, »ganz gewiß die Allerhübscheste, und die Geschickteste auch. Ich muß es gewinnen und gewinne es auch und passe ganz allein zur Prinzessin.«

So ähnlich dachte eine andere auch. Sie rieb sich die Hände, wenn sie an die weichen Betten und die schönen Mahlzeiten im Schloß dachte. »Natürlich lasse ich mich ganz als Kind annehmen. Nach Hause brauche ich nie mehr. Meines buckligen kleinen Bruders würde ich mich doch nur vor den Königsleuten schämen.«

Eine dritte dachte anders. »Ich fahre jeden Tag ins Heimatdorf im funkelnden, goldenen Wagen, daß die Leute mich sehen und bewundern. Seidene Kleider trage ich alle Tage, und wenn ich Prinzessin werde, muß ich auch eine goldene Krone haben mit rosenroten Steinen.«

Einer vierten war nicht so rosig zumute. Sie hatte heute früh gesehen, wie gut das Nachbarstöchterchen spann. So gut konnte sie es lange nicht. Ihr Herz verbrannte ihr beinah vor Neid, und sie dachte sich allerlei aus, um den glatten Faden der Beneideten zu verwirren und zu zerreißen.

Die gute Spinnerin ahnte das nicht. Sie hatte in aller Eile so fein spinnen gelernt und sich tüchtig geplagt. Aber dafür wollte sie nun im Glück auch die Hände in den Schoß legen bis ans Ende ihrer Tage, wollte sich bedienen lassen, befehlen und genießen. Das sollte prachtvoll werden!

Viele, viele Gedanken gingen beim Klange der kleinen Silbertrompeten noch in den Mädchenköpfen hin und her, und unter solchen Gedanken kam man dem Schlosse immer näher und näher. Endlich taten sich die hohen Tore des Palastes auf. Eine herrliche Frau winkte den Kindern vom hohen Altane den Willkommensgruß zu, und das schönste Kind streute mit anmutiger Gebärde Rosenblätter und Vergißmeinnicht auf die kleine Schar hinab.

Oh, wie Marei in ihrem schlechten Röckchen unter den strahlenden Blicken von Mutter und Kind erzitterte! So blendend hatte sie sich die Königin nicht gedacht, so engelsschön nicht die goldhaarige Viola.

Wie im Traume schritt sie mit in den großen Saal, wo die Mädchen standen. Sie wußte, es würde sie nun gleich jemand hinausweisen und wegen ihres dürftigen Aussehens schelten. Aber nur noch einmal sehen wollte sie die Königin!

Keine Minute verging, so erschien diese mit der freundlich blickenden Viola an der Hand im Saal. Sie grüßte alle Kinder und die kleine Marei ebenso liebevoll wie die andern. Ein Singen und Klingen begann in deren Brust. Nun wollte sie gern gehen und ihr Leben lang an diesen Augenblick gedenken. Sie huschte leise durch den Kinderschwarm durch zur Tür.

Viola aber rief ihr nach: »Du kleine Blasse dort, wo willst du denn hin?«

»Fort!« stammelte Marei erglühend. »Ich kann nicht spinnen!«

Mutter und Kind sahen sich an, und beide lächelten.

»Nein, bleibe nur!« sagte die schöne Fürstin. »Wenn du gar nicht spinnen kannst, will ich es dir zeigen. Fort darf keine wieder, die einmal gekommen ist.«

Sie wies nun jedem der Mädchen ein Spinnrad an, und an das letzte setzte sie sich selbst und zeigte der Kleinen, wie man den Faden dreht.

»Nun versuche es!« sagte sie gütig und stellte das Kind so vor sich hin, daß ihr goldiges Haar und ihre Schleierfalten es umwehten. Da begann Marei zu schluchzen vor tiefer, tiefer Scham. »Ich kann nicht! Ich habe so rauhe Hände!« stieß sie endlich hervor.

Die Frau Königin aber sagte mild und ernst: »Das schadet nichts. Spinne nur! Und wenn dein Faden nicht glatt und fein wird,« fügte sie leis hinzu, »so gräme dich nicht. Auf die Glätte und Feinheit kommt es gar nicht an, sondern auf etwas ganz anderes.«

Dann empfahl sie den Kindern, recht fleißig zu sein, und ging hinaus. Das Königstöchterlein rief an der Tür mit hellem Stimmchen freundlich: »Auf Wiedersehen!«

Da saßen sie nun und ließen die Rädchen schnurren und drehten den Faden über die Spule und sprachen kein Wort vor brennendem Eifer. Manche Fäden wurden wirklich silberweiß und seidenfein, manche verwirrten sich und rissen und manche wurden ungleich und rauh.

Mareis Faden sah am allerschlimmsten aus. Sie hatte beim Zusehen gedacht, sie müsse die Sache gleich begreifen, aber nun zitterten ihre Finger so sehr, und sie waren von der schweren Arbeit zu Hause auch so voll Risse und Narben, so rauh, so grob und so steif. Alle Augenblicke stockte ihr Rädchen, riß ihr Garn. Sie mußte anknüpfen und wieder versuchen, und ehe sie ein paar Ellen Garn fertig gebracht hatte, ging schon die Saaltür auf, und umwoben vom hellen Sonnenschein traten die Königin und Viola ein.

»Nun steht auf und stellt euch neben eure Rädchen! Ich will sehen, was jede gesponnen hat,« sagte die Herrin.

Da standen die guten Spinnerinnen gar stolz und erwartungsvoll neben ihrem Werk. Die Königin setzte sich gleich neben das nächste Rad, dessen Garn seidenhell schimmerte. Es war das der Kleinen, die auf dem Wege die Nachbarstochter beneidet hatte. Nun war ihr der Faden doch viel besser gelungen als der.

»O weh, kleines Mädchen,« sagte die Königin, als sie das Gespinst sah, »was hast du getan! Das sieht arg aus! Neid und Mißgunst hast du ja gesponnen! Das möge dir Gott verzeihen!« Sie ließ die verdutzte, erschrockene Kleine stehen und ging an das zweite Rad.

»Und du?« sagte sie traurig. »Wer hätte dir das angesehen, Kind! Hoffart ist ja dein Gespinst, lauter Hoffart. Das ist ein abscheuliches Garn!«

»Laß sehen,« sagte sie zu der dritten, »ob du's besser hast! – Nein,« rief sie dann, »schlimmer noch! Hartherzigkeit! Das hätte man dem feinen, glatten Faden auch nicht angesehen.«

Und sie ging weiter von Rad zu Rad, und Viola folgte ihr, ganz verstummt und verstört.

Die Königin wurde immer trauriger.

»Du hast Eitelkeit gesponnen!« sagte sie zu einem hübschen, blondzopfigen Mädchen. Und dann kamen noch viele, deren Gespinst sie tadelte; bei manchen lächelte sie ein klein wenig freundlicher, aber ganz hell und klar wurde ihr Antlitz nie.

»O Gott, was wird sie nun erst zu meiner Arbeit sagen, die so schlecht, so schmutzig und häßlich ist!« dachte Marei mit Zittern und Zagen. Ihr Herz schlug laut vor Angst, und als die Königin sich vor ihrem Rade niederließ, stürzte sie ihr in ihrer Herzensnot zu Füßen und rief:

»Meines ist das schlechteste! Ich weiß es, ich weiß es! Und ich schäme mich so sehr!«

Mit tränenden Augen sah sie empor. Aber die Königin sah gar nicht mißbilligend auf ihr Gespinst, sondern ein Strahl heller, reiner Freude ging wie Sonnenschein über ihr Gesicht.

»Liebes Kind,« sagte sie innig, »stehe auf und trockne deine Tränen! Was du gesponnen hast, ist ein zarter, reiner, köstlicher Faden, der einzige wirklich schöne Faden auf allen diesen Spulen. Aus Demut und Liebe, aus Edelmut und Herzensgüte ist er zusammengesponnen; darum glänzt er vor meinen Augen so wunderbar rein.«

»Wisset, Kinder,« rief sie und hob die glockenklare Stimme über den ganzen Saal, »nicht auf Geschicklichkeit der Finger kam es bei eurer Arbeit an, sondern auf die Gedanken, die ihr hegtet vom Augenblicke an, da ihr das Tor der Stadt verließet. Alles, was euch seitdem durch Kopf und Herz ging, sehe ich in euren Fäden. Darum erscheinen mir die glattesten Gespinste so häßlich und fleckig, nur dieses armen Kindes Garn allein sehe ich demantrein. Blickt einmal auf eure Arbeit! Ihr werdet jetzt auch sehen, wie's steht.«

Und wirklich, wie erschraken die Kinder, als sie ihre Arbeit jetzt beschauten! Verwirrtes, verknotetes, beschmutztes Garn fast überall! Nur Mareis Faden war völlig glatt, völlig rein und schön.

»Du bist die Erwählte,« sagte die Königin und hob das erschütterte, von freudigem Schreck halb ohnmächtige Kind zu sich empor.

Die kleine Viola jubelte: »O wie schön, wie schön! Die kleine, zarte Blasse mit dem lieben Gesicht hat mir gleich am besten gefallen!«

»Sie soll nun schön aufblühen,« sagte die Königin, »und fröhlich werden. Alles, was sie für sich und andere wünscht, wollen wir ihr erfüllen. Fasse dich, Marei, dein weißes Kleidchen und ein Rosenkranz liegen für dich bereit. Gute Frauen werden dich baden und ankleiden, und dann kommst du mit zu unserm heiteren Mahl. Fortan bleibst du unser eigen; Viola wird deine Schwester sein, und der König und ich sind deine Eltern. Eine glückselige Zeit bricht für dich an!« –

So war in den Schoß der Ärmsten, aber Herzensreinsten das wunderbare Glückslos gefallen.

Die andern wußten nicht wie ihnen geschah. Sie wurden auf einer großen Wiese mit guten Dingen bewirtet und zogen dann in stillem Zuge nachdenklich nach Hause.

Durch den fliederduftenden Schloßgarten aber wandelten schon an demselben Abend, gefolgt von ihrem weißen Reh, die beiden Schwestern Viola und Marei Hand in Hand in herzlicher, seliger Vertraulichkeit und Liebe.


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