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Der Mondschuster

Ein Märchen

Die beiden Kinder des Glöckners waren einst an einem Mainachmittag weit von ihrem Hause fortgegangen. Mitten im tiefsten Walde wußten sie eine Stelle, wo sie gar zu gern weilten. Dort ließen die Bäume eine goldgrüne, saftige Wiese frei, auf der im Frühling Schlüsselblumen und Erdbeerblüten nickten, und die im Sommer überreiche Mengen roter Beeren trug. Über den süßen Blüten dieser Wiese schwebten die schönsten bunten Falter, und wenn man still im Grase lag und lauschte, so hörte man vom Wald herüber das Hämmern des Spechtes und im Frühling das Locken der Nachtigall.

Die Kinder hatten Hand in Hand zu lange auf ihrer lieben Wiese gesessen, sich die Köpfe von der Sonne bescheinen und die Bäckchen vom sanften Wind umwehen lassen. So kam es, daß sie ein wenig zu spät an die Heimkehr dachten. Als sie mitten im Waldesdickicht waren, sank schon die Sonne, und nun war es schwer, den schmalen Pfad wiederzufinden, der nach dem Dorfe führte.

Das Lorle, das klug und bedächtig war, tröstete zwar den ängstlichen Kleinen und meinte, es könne den altbekannten Weg nicht fehlen.

»Wenn du weinst, Heinz, so lachen dich die Vögel und die kleinen Mäuse aus. Ein so großer Junge, wie du bist!«

Das leuchtete dem furchtsamen Bübchen ein, es trocknete die großen Tränen und ließ sich geduldig weiterführen. Aber so recht sicher war das Lorle doch nicht, ob sie wirklich den richtigen Weg einschlug. Der Mond, der voll und groß hinter den Bäumen heraufgestiegen war, gab allen Dingen ein so seltsames Aussehen; kein Busch schien ihr endlich mehr bekannt, und als sie an einen Kreuzweg kam, mußte sie sich Mühe geben, nicht selbst zu weinen, als sie den müden Bruder mahnte:

»Komm nur, Heinzel, sei brav! Ich glaube, da rechts geht's weiter. Wir sind gewiß gleich im Dorf.«

Der Weg aber, der rechts abbog, führte stundenlang weiter, ohne daß ein Dorf zu sehen war. Statt dessen schimmerte es auf einmal silberhell durch die Bäume, und das kleine Mädchen, das noch nie ein größeres Wasser als den Dorfbach gesehen hatte, sagte ganz lustig: »Du, Heinzel, ich glaube, jetzt kommen wir ans Meer.«

Da horchte das müde Kind neugierig auf, vergaß Hunger und Müdigkeit und ließ sich so schnell weiterziehen, als Lorle nur wollte. Als sie aber durch die Stämme hindurchkamen, sahen sie ganz verdutzt einander an.

Die silberne Fläche, die Lorle für das Meer gehalten hatte, war nichts anderes als ihre liebe, alte Waldwiese, auf der zarter Nebelduft lagerte, und auf deren Gräsern und Blüten jetzt unzählige Tautropfen perlten, die der volle Mond mit seinem schimmernden Licht übergoß, so daß das Ganze wirklich einem leise wogenden Meer von flüssigem Silber glich.

»Nun finde ich den Weg. Ein zweites Mal verirr' ich mich nicht!« sagte Lorle. »Komm, Heinz, wenn du müde bist, so trage ich dich ein Stück.«

»Ja, trag' mich!« rief Heinz und streckte ihr die dicken Händchen entgegen.

Umsonst aber versuchte sie, den schweren Jungen, der nur drei Jahre jünger war als sie selbst, auf den Rücken zu nehmen, und wie sie sich nun ängstlich und bekümmert nach Beistand umsah, gewahrte sie plötzlich einen seltsamen, glänzenden Lichtstreif, der wie ein helles Band vom Mond bis auf die Wiese reichte. Auch der Knabe sah es, als er durch die Zweige des Haselstrauchs blickte, und sagte:

»Schau nur, Lorle, das Treppchen!«

Und wirklich, je genauer Lorle hinblickte, desto deutlicher sah sie's. Eine richtige, schmale Silbertreppe war vom Mond auf die Wiese gebaut. Während die Kinder noch sprachlos auf das Wunder starrten, kam mit der Schnelligkeit eines Eichkätzchens ein kleiner Mann auf den winzigen Stufen herab. Er war nicht größer als Heinz, aber runzlig und alt, trug einen langen, silberweißen Bart und ein silbernes Käppchen auf dem Haar; auch sein kleines Gewand war ganz von Silberstoff.

Trotzdem sah er ganz und gar nicht aus wie ein Prinz oder ein vornehmer Herr; das Schurzfell, das er trug, gab ihm eher das Aussehen eines Handwerkers, etwa eines Schusters oder Zimmermanns.

Schnell wie ein Blitz huschte der kleine Mann, sobald er unten angekommen war, über die Wiese, zog ein winziges Messer aus der Tasche und begann von dem Pfaffenhütchenbaum am Waldrand eifrig und hastig eine Handvoll Zweige abzuschneiden. Darauf huschte er so schnell, wie er gekommen war, wieder nach dem silbernen Treppchen zurück und stieg, ohne zu verschnaufen, hoch, hoch empor, bis ihn die Kinder nicht mehr zu sehen vermochten.

Dem kleinen Heinz hatte die ganze Sache außerordentlich gut gefallen. »Komm schnell,« sagte er, indem er sein Schwesterchen nach der Treppe zog, »wir wollen auch da hinauf!«

»Ach nein, Heinzel, wir müssen heim. Was denkt sonst die Mutter, die schon lange auf uns wartet!«

Aber ungeduldig zerrte das Kind an ihrem Röckchen und bat, bis sie ihm widerstrebend nachgab und sich dem seltsamen Treppchen näherte. Sie konnten es ja einmal in der Nähe betrachten. Heinz sprang voraus. Kaum aber hatte der Kleine den Fuß auf die unterste Sprosse gesetzt, als eine unsichtbare Hand die ganze Treppe in die Höhe zog, so daß Heinz, der schnell herabsprang, gewiß tüchtig auf die Nase gefallen wäre, wenn ihn das gute Lorle nicht noch glücklich aufgefangen hätte.

War das ein Schreck! Heinz schrie entsetzt auf, verzog schon den Mund und drückte die Augen zu, um laut aufzuweinen, als er zu seinem Trost vom Walde her die Stimme des Vaters hörte, der ausgezogen war, die Kinder zu suchen. Lorle antwortete mit einem hellen Jubelschrei, und bald darauf hing sie froh und beruhigt an seinem Halse.

Schnell ging es nun auf dem nächsten Weg dem Dorfe zu. Das Bübchen schlief auf des Vaters Arm, und Lorle, die seine Hand umklammerte, erzählte beim Gehen ihr Erlebnis auf der Waldwiese.

»Das hast du geträumt!« sagte der Vater und lachte sie aus. Die Mutter zu Haus meinte dasselbe, aber Lorle glaubte es nicht, und auch der Junge beteuerte am andern Morgen, er habe das Treppchen und den kleinen Mann mit dem Schurzfell wahrhaftig gesehen.

Als der nächste Tag zu Ende ging und die Kinder im Dämmerlicht auf der Türschwelle saßen, um ihr Abendbrot zu verzehren, stand Heinz plötzlich auf, steckte den Rest seines Mahles in die Tasche und sagte ganz leise zu seiner Schwester: »Ich gehe jetzt in den Wald, Lorle, und suche das Treppchen.«

Erschrocken hielt ihn die Schwester an seinem Kittel fest. »Das geht nicht, Heinz,« sagte sie, »du darfst nicht allein in den Wald, und abends schon gar nicht.«

»So komm mit!«

»Nein, nein, Bubi, du sollst das Treppchen nicht wiedersehen, denn siehst du's, so willst du hinauf, und bist du einmal oben auf dem Monde, so tun sie dir gewiß ein Leid.«

Der kleine Junge schwieg eine Weile still, zog sein Brot wieder aus der Tasche und aß es nachdenklich bis zum letzten Krümchen auf. Dann ließ er sich von der Mutter zu Bett bringen, betete, machte die Augen zu und lag ganz still.

Auch Lorle legte sich nieder. Aber wie sie sich auch bemühte einzuschlafen, es wollte heute gar nicht gehen. Sonderbar angst war es ihr ums Herz, und ein paarmal trieb sie's, aufzustehen und nach dem Brüderchen zu schauen. Der aber lag so still und rosig zwischen den weißen Kissen, daß sie sich endlich beruhigte und einschlief, nachdem sie ihr Abendgebet wohl zum zehntenmal mit gefalteten Händen hergesagt hatte.

Am andern Morgen weckte, als sich der erste Lichtstrahl durch die Kresse und Reseda am Fenster hindurch in die Kammer stahl, ein böser Traum das Mädchen aus ihrer Ruhe.

Es war, als sähe sie in einer kleinen, ganz silberlichten Kammer ihr Brüderchen auf einem winzigen Schusterschemel sitzen. Das Männchen vom Mond stand vor ihm mit einem bitterbösen Gesicht und unterwies es, in einen niedlichen, silbernen Schuh mit silbernem Hammer kleine Zwecken zu schlagen. Das Bübchen schluchzte und stellte sich mit den kleinen, dicken Händen über alle Maßen ungeschickt an, für jede Zwecke aber, die es fallen ließ, zauste es sein Lehrherr herzhaft an dem blonden Lockenbüschel, der ihm über die Stirne fiel. Dann schrie Heinzel jedesmal erbärmlich auf, und das kleine Mädchen schrie im Traume mit. Von einem besonders lauten Schrei wachte sie auf und lief nun mit bloßen Füßen an des Bruders Bett, um sich zu überzeugen, daß der Schelm gesund und heil darin lag. Aber das Bett war leer, und das blaue Röckchen, das daneben auf dem Stuhl gelegen, die Strümpfe und die neuen Lederschuhe waren auch verschwunden. Im ersten Schreck brachte Lorle kein Wort hervor; sie kniete neben dem leeren Bett nieder und schluchzte, dann aber faßte sie sich ein Herz, weckte Vater und Mutter, und alle drei machten sich nun auf, den bösen Jungen zu suchen, der so bei Nacht und Nebel davongelaufen war. Jeder suchte an einem andern Ort: der Vater im alten Klostergemäuer, wo die Nester der wilden Tauben waren, die Mutter im Gärtchen hinter den Stachelbeerhecken, das Lorle aber lief in ihrer Herzensangst auf die Waldwiese hinaus.

Traurig und sorgenvoll kamen sie wieder nach Hause. Jeder hoffte, den Kleinen nun daheim zu finden – aber er war nicht da. Keiner hatte eine Spur von ihm gefunden, und er kam auch während des Tages nicht nach Hause. Der Glöckner und seine Frau liefen von Haus zu Haus, fragten und klagten, aber niemand konnte ihnen Auskunft geben. Alle Nachbarn und Freunde halfen ihnen nun suchen, denn alle hatten den hübschen Jungen ja so gern gehabt. Am wehesten war es aber dem Lorle zumute: sie wußte genau, daß keiner ihn finden könne.

»Er ist auf den Mond gestiegen und kommt nie wieder heim!« klagte sie in sich hinein.

Vater und Mutter, denen sie dasselbe sagte, als sie abends müde und traurig nach Hause kamen, schalten sie und nannten sie töricht; aber als das Brüderlein gar nicht wiederkam und trotz aller Mühe auch nicht eine Spur von ihm zu entdecken war, so fingen sie selbst an, das Wunder zu glauben. Sie gingen nun in ihrer Betrübnis in hellen Nächten zuweilen mit dem kleinen Mädchen auf die Waldwiese hinaus, um das Treppchen zu suchen, dieses war jedoch ebenso wenig zu finden wie der arme Heinz.

Das Lorle aber fühlte sich von einer geheimen Sehnsucht immer wieder nach der Waldlichtung hinausgezogen, und einmal nahm sie sich beim Nachhausegehen einen jungen Trieb vom Paffenhütchenstrauch mit, von dem sie das Mondmännchen hatte pflücken sehen. Den pflanzte sie in ihrem Gärtchen ein und freute sich, als er bald darauf Wurzel schlug, grünte, weitersproßte und schließlich selbst ein Sträuchlein wurde, unter das sie sich setzte, wenn sie recht ungestört an das verschwundene Brüderchen denken wollte.

Einmal war Lorles Mutter, die von all dem Gram blaß und siech geworden war, zu einer Base über Land gegangen, und Lorle war mit dem Vater allein zu Haus. Als dieser nun um Mitternacht von seinem Lager aufstand, um die Glocken zu läuten, wachte auch Lorle auf, und weil es ihm in dem einsamen, mondhellen Kämmerchen bange war, so schlich es hinter dem Vater drein in den Turm hinauf, an dem Glockenstübchen vorbei und von der allerobersten und schmalsten Stiege hinaus auf den vergitterten Ausbau, von wo man einen so weiten, schönen Blick über das ganze Land hatte. Dort wollte sie den Vater erwarten und ihm sagen, daß ihr daheim so bange gewesen und sie ihm darum gefolgt sei. Wie sie nun im leichten Nachtröckchen mit dem flatternden Haar da droben zwischen Himmel und Erde stand und die großen Augen zu dem leuchtenden Mond erhob, der über ihr im tiefen Blau des Himmels stand, da sah sie plötzlich einen mächtigen Vogel von oben herab nach dem Kirchturm zu flattern. Ein freudiger Schreck ergriff Lorle. Das war ja das Mondmännchen! Sie konnte es nun deutlich sehen, wie es flink und behend vom Dache herniederkletterte. Nun sprang es auf den Ausbau herab, stand einen Augenblick neben ihr und eilte dann hurtig wie ein Wiesel an ihr vorbei durch das Treppentürmchen und die gewundene Stiege hinab. Aber eben so flink war Lorle hinter ihm drein; es war ein förmlicher Wettlauf, treppab, durchs Kirchentor und über die Straße bis an ihres Vaters Haus, dann um das Haus ins Gärtchen, – das Mädchen immer wenige Schritte hinter dem Manne drein. Endlich am Pfaffenholzstrauch stand der Kleine still. Da hatte ihn Lorle auch schon blitzgeschwind an seinem blanken Rock gefaßt und rief tief erregt: »Nun hab' ich dich und laß dich nicht frei, bis du mir sagst, wo du den Heinzel hast!«

Der Kleine wandte dem Mädchen sein blasses, bitterböses Gesicht zu und sagte: »Laß mich los, ich will mir ein paar Zweige pflücken; schnell, schnell, ich habe keine Zeit.«

Aber Lorle ließ ihn nicht los. Sie hielt seinen Arm fest und rief weinend: »Nein, nein, erst mußt du mir sagen, wohin du meinen Bruder gebracht hast!«

Nun erst schien sich der Kleine zu besinnen.

»Ist dein Bruder etwa mein nichtsnutziger Schusterjunge, der nichts lernen will und meine Treppe zerbrochen hat?« sagte er barsch.

»Mein Bruder heißt Heinz, und du hast ihn von der Waldwiese gestohlen,« erwiderte Lorle.

»Dann stimmt's schon!« knurrte das Männchen und fügte mit verschmitztem Lächeln hinzu: »Dann kannst gleich mitkommen und ihn heimholen.«

Das Mädchen war zufrieden.

»Nun, so komm und trage mir ein Bündel Pfaffenholz! Je mehr Vorrat ich habe, desto besser ist's.«

Damit begann er, Ast um Ast von ihrem Strauch zu schneiden und dem Kinde aufzubürden, so daß dieses wie ein wandelnder Strauch hinter ihm drein schritt.

Ohne Aufenthalt ging es nun durch das totenstille Dorf dem Walde zu. »Wer bist du denn eigentlich?« fragte das Mädchen, nachdem sie ein Weilchen schweigend hinter ihrem Führer drein gerannt war.

»Der Schuster vom Mond, du Naseweis,« entgegnete das Männlein. »Weshalb sollte es mir sonst einfallen, zu euch hinabzusteigen und Pfaffenhölzer zu pflücken?«

»Machst du denn Schuhe aus Holz?«

»Schuhe nicht, aber Schuhzwecken, Dummkopf.«

»Ja, gibt es denn bei euch kein Holz?«

»Nein, weder Bäume, noch Sträucher, noch Felder wie bei euch,« brummte der Zwerg.

»Ja, wovon lebt ihr denn da?« fragte das Kind in plötzlicher heißer Sorge um sein Heinzel.

Das Schustersmännchen zog seinen breiten Mund noch ein wenig breiter, dann griff es mit der faltigen Hand in die Tasche, klapperte ein Weilchen darin herum und brachte dann ein Häufchen erbsengroßer Körner hervor, die blanken Hagelstücken glichen. »Versuch einmal!« sagte er, indem er einige dem Mädchen reichte und selbst eins zwischen seinen spitzen, blitzenden Zähnen zerbiß.

Die Körner waren süß und fein, und Lorle, die wußte, wie gern ihr Brüderchen Zuckerwerk schleckte, lächelte, da sie ihn so wohl versorgt wußte.

In stiller, froher Erwartung ging sie nun hinter dem putzigen kleinen Führer drein, der seine Beinchen so flink zu bewegen wußte, daß Lorle Mühe hatte, es ihm gleich zu tun, obgleich sie fast doppelt so groß war als er.

Endlich, als der Wald, der sich stundenweit hinzog, schon licht zu werden begann, hielt der Mondschuster vor einer großen, einsam zwischen niederem Fichtengestrüpp emporragenden Kiefer still.

»Warte hier!« sagte er zu dem Mädchen, das mit heißen Backen und fliegendem Atem dastand und nun zusah, wie das Männchen schnell und sicher am Stamm emporkletterte und sich auf den Rand eines in der Krone hangenden riesigen Nestes stellte, aus dessen Innern sich alsbald der Kopf eines mächtigen Vogels mit roten Augen und großer Federkrause emporhob.

»Nur nicht faul, Greif! Trag mich!« sagte der Schuster.

»Was zahlst du mir heute?« krächzte der Vogel.

»Ein Paar Silberstiefel für deinen Nestling,« entgegnete der Kleine, indem er ein paar Schuhe unter dem Schurzfell hervorzog, die für den kleinsten Menschen noch viel zu winzig gewesen wären. Der Vogel nahm die Schühchen in den Schnabel und betrachtete sie von allen Seiten, dann ließ er sie ins Nest fallen, nickte, ließ den Schuster auf seinem Rücken behaglich Platz nehmen und probierte seine Schwingen.

»Da unten wartet noch eine, die mitreisen will,« sagte der kleine Reiter, auf Lorle deutend; »ich zahle dir ein Paar Holzpantoffel, wenn du sie mitnimmst, denn umsonst tust du's ja doch nicht.«

»Das läßt sich hören,« meinte der Greif und ließ sich vor dem erschreckten Kinde nieder. Der Kleine winkte. Sie dachte an das Brüderchen, und so stieg sie denn klopfenden Herzens auf das seltsame Reittier, ganz voll von freudiger Erwartung des Wiedersehens.

Als sie kaum die Arme um den Hals des großen Vogels geschlungen hatte, hob sich dieser auch schon empor, erst langsam und schwerfällig mit flatternden Flügelschlägen, dann schneller und schneller, bis endlich die Wiesen, Häuser und Wälder, die anfangs klein, wie einer Spielzeugschachtel entnommen, vor den Augen des Kindes gelegen hatten, unter ihm zu verschwimmen begannen. Endlich sah sie gar nichts mehr, nur der blasse, blaue Mondnebel, der die Spätsommerluft erfüllte, umwallte sie. Sie schloß die Augen und legte ihre Wange fest an den weichbefiederten Hals des Vogels. Da vergingen ihr die Sinne, als ob sie einschliefe. – –

Wie lange der Flug nun von der Erde bis zum Monde gedauert, hat das Lorle nie erfahren. Sie kam erst wieder zu sich, als des Schusters unfreundliches: »Steig ab!« ihr in die Ohren gellte. Da hielt das Flügelroß vor einem kleinen, aus silberschimmernden Steinen aufgeführten Haus, hinter dessen blitzenden Scheiben ein schmales, neugieriges Kindergesicht hervorlugte.

»Heinzel! Heinzel!« jubelte die Kleine. Im Kopf war ihr's mit einemmal wieder klar; sie schwang sich vom Rücken des Vogels herunter und eilte die Stufen hinan, die zu der zierlichen Eingangstür führten. Aber die Tür gab nicht nach, als sie sie zu öffnen versuchte.

»Glaubst du, ich lasse mein Haus offen steh'n, daß der Gesell' entwischen könnt'?« murmelte der Schuster, indem er ein feingedrehtes Schlüsselchen aus der Tasche zog.

Als das Schloß aufsprang, fielen sich die beiden Kleinen jubelnd in die Arme. Sie sprachen beide lange kein Wort, sondern schluchzten nur, lachten, küßten und streichelten einander.

Der Schuster stand daneben und zankte über das törichte Getue, aber die armen Kinder hörten es gar nicht vor lauter Glück. Da schwieg er endlich, murrte nur noch ein wenig und ging in das Stübchen, um die versprochenen Pantoffel zu suchen, weil der Vogel draußen unruhig zu krächzen begann.

»Laß den Greif gleich warten, er kann uns wieder mit hinunter nehmen,« sagte das Lorle, als es hörte, wie der kleine Mann den Vogel ablohnte und ihm glückliche Reise wünschte.

Da lachte der Schuster, und auch der Vogel stieß ein sonderbares Krächzen aus, das sich ungefähr wie Gelächter anhörte, nickte dann dem Schuster zu, schwang sich mit ausgebreiteten Schwingen empor und flog darauf von dannen.

»Wie sollen wir denn nun nach Hause kommen?« brachte das erschrockene Mädchen unter Tränen hervor.

»Gar nicht!« eiferte der Zwerg. »Denkst du, ich finde meine Pantoffel auf der Gasse, daß ich sie dem Greif als Bezahlung für dich gebe, um dich dann wieder frei zu lassen? Ihr seid jetzt beide meine Gesellen. Der Junge hämmert und zieht den Draht, und du mit deinen spitzen Fingern kannst Zwecken schnitzen. Dazu ist er doch zu ungeschickt.«

Das war eine schlimme Antwort. Die Kinder erschraken nicht wenig. Das Männchen aber rückte einen zweiten Schusterschemel zu dem kleinen Arbeitstisch, auf dem neben niedlichem silbernem Handwerkszeug weißschimmerndes Leder und feines Seidenzeug aufgehäuft lag, breitete dann das frische Pfaffenholz in der Ofenröhre aus und langte getrocknetes hervor, das er auf das Tischchen vor Lorle legte. Sie mußte sich gleich hinsetzen und unter seiner Aufsicht Zwecken schnitzen, wobei er sie zuweilen heftig auf die Finger schlug, wenn sie zitterte und die Sache nicht machte, wie er's haben wollte. Auch dem Heinzel ließ er nicht Ruhe, bis er wieder zu dem angefangenen Schühchen griff, in dessen weiche Seide er die kleinen, silberblanken Schnürösen einschlug.

Tag für Tag saßen nun die Kinder in ihrem Arbeitswinkel, während das böse Männlein, das sonst die ganze Arbeit selbst zu tun hatte, zankend und keifend dabei stand und sie unterwies oder die fertigen Schuhchen an Ort und Stelle trug.

Hatte er dann beim Fortgehen die Haustür fest hinter sich zugeschlossen, so legten die verschüchterten Kinder für einen Augenblick Hammer und Draht beiseite, schmiegten sich aneinander und küßten sich zum Trost für all das Leid, das sie erfuhren. Klapperte dann aber ihr kleiner Hammer wieder auf den Sohlen, so klangen leise, scheue Hoffnungsworte dazwischen vom Wiedersehen mit den Eltern auf der fernen Erde, die des Nachts wie eine große, leuchtende Sonne am Mondhimmel stand.

So ging die Zeit in traurigem Einerlei dahin, und die Kleinen hätten von der Welt nichts gehört und gesehen, wenn nicht zuweilen einer der Mondleute in die Hütte gekommen wäre, um sich Schuhe anmessen zu lassen und die zwei fremden Gesellen anzustaunen, die im Vergleich zu ihrer eigenen Zierlichkeit groß und plump erschienen.

Aus dem Geplauder der Kunden erfuhren dann die Kinder auch gar manches über das Leben auf dem Monde. Der war nicht weit und breit bewohnt wie unsere schöne, fruchtbare Erde.

Seine Oberfläche bedeckten kahle, öde, seltsam gezackte Felsgebirge, zwischen denen schaurige, stille, dunkle Täler und steinige Ebenen sich dehnten. Kein rauschender Wald überkleidete die schroffen, strengen Formen der Berge, weder lichtgrüne, buntdurchstickte Wiesen, noch freundliche Rebengärten bedeckten die Hänge und die Täler; kein Vogelsang, kein Tierruf, kein Menschentritt erscholl – alles war schaurig still, glanzlos, freudlos und unbelebt, denn es fehlte das Eine, was unsere Erde nährt und erquickt und zu einem so wechselvollen, schönen, lust- und farbenreichen Aufenthalt macht: das Wasser.

Weder Meere, noch Flüsse, noch Seen gab es auf dem Mond, kein Regentropfen fiel vom Himmel auf ihn nieder, und kein Tau netzte den ewig starren, unfruchtbaren Boden.

Nur eine einzige Stelle gab es auf dem ganzen großen Gestirn, wo ein hellglänzender Zauberquell der trockenen, rissigen Steinrinde entquoll. Rings um diesen köstlichen, lebenspendenden Quell war nun ein winziges und emsiges Völkchen erblüht, das einen kleinen, von einem silberhaarigen König beherrschten Staat bildete. Dieser umfaßte nicht mehr als sechs Straßen, die wie sechs Strahlen von einem runden Platz ausgingen, in dessen Mitte sich das aus zartem, durchsichtigem, bläulichem Gestein erbaute, mit sieben schlanken Türmen geschmückte Schloß erhob, vor dessen breiter Freitreppe der in Silber gefaßte Quell sprudelte.

Jeder der niedlichen Staatsbewohner hatte sein Amt und seine Pflichten, denn da es im ganzen nur ein paar hundert Untertanen dieses Reiches gab, so mußte einer dem andern dienen, um das Ganze im Gange zu erhalten.

Da gab es für jedes Handwerk nur einen Meister: einen Bäcker, der die süßen Kügelchen, von denen die Leutchen lebten, buk, einen Steinmetz, der Schränke und Bänke aus Erz und Gestein zu bilden wußte, einen Töpfer, der die niedlichsten Gefäßchen formte, einen Silberschmied, einen Schneider, einen Schuster, der also eine sehr wichtige Person im Staate war, denn die kleinen Mondleute waren gar eitel und hielten etwas auf feines Schuhwerk. Sie hatten alle ihren Teil bezahlt, um dem Schuster eine lange Leiter, die sich ineinanderschieben und ausziehen ließ, kunstvoll aus Silbererz schmieden zu lassen, mit der er sich die Pfaffenhölzer von der Erde holen konnte, um die Schuhe fest und dauerhaft zu zwecken. Nun hatte der ungeschickte Heinzel, als er einmal zu entfliehen versuchte, das zarte Leiterchen zerbrochen und den größten Teil in den großen, leeren Raum fallen lassen, der sich zwischen Himmel und Erde ausdehnte.

Deshalb sahen die Mondleute immer gar grimmig nach dem Bürschchen hin. Sie hatten nun eine neue Leiter bestellen müssen, die sie gar viel kostete. Die Reise auf dem Rücken des Vogels Greif war dem Schuster nur selten gestattet, denn der Riesengeselle war eigentlich auf der Sonne daheim und flog nur alle zehn Jahre auf einer großen Rundreise um die Welt über Mond und Erde hinweg.

Hätten die Mondleute in traurigen Menschenkindergesichtern zu lesen verstanden, so hätten sie dem Knaben das Zerbrechen der Mondtreppe trotz alledem verziehen, denn der Ausdruck seiner blassen Züge war elend und jämmerlich geworden. Auch das Lorle wurde trotz der süßen Nahrung von Tag zu Tag blässer und schmäler.

Als die Kinder fast ein Jahr lang auf dem Monde vertrauert hatten, gab es große Aufregung im kleinen Königreich. Die junge Prinzessin, von der die Mondleute immer viel Gutes zu erzählen wußten, sollte mit ihrem Vetter, dem alle die reichen Silbergruben auf dem Monde gehörten, Hochzeit halten. Der war ein schöner, schmucker Herr, der nicht zu stolz war, um sich selbst zuweilen in der niedrigen Schusterstube sehen zu lassen und über die Anfertigung der hohen, mit faltigen Schäften und glänzenden Stulpen versehenen Stiefel, die er zu tragen pflegte, seine Befehle zu erteilen. Die Kinder lauschten stets entzückt auf, wenn sie von all dem Glanze, von den kostbaren silbernen Tischen, Stühlen und Betten, von den Silberstoffen, Silberblumen und den silbernen Kleinodien hörten, die der reiche junge Herr seinem Bräutchen geschenkt hatte. Es fehlte ihr nichts mehr als ein Paar silberne Brautschuhchen, und diese bestellte sich das Prinzeßchen selbst bei dem alten, grämlichen Schuster, dessen Stube von dem herrlichen Schimmer ihres mit Gold und Edelsteinen gestickten Gewandes, ihres flimmernden Schleiers und ihres reichen Schmuckes wie von strahlendem Lichte erhellt wurde.

Nun wollte es aber das Glück, daß der Schuster an einem schrecklichen Schnupfen zu Bette lag. Da er aus den geschwollenen Augenlidern heraus die Zahlen auf seinem Zollmaß nicht erkennen konnte, so mußte Heinzel vor der reizenden Prinzessin niederknien und das feine Füßchen, das unter dem Spitzenrande ihres silbernen Florkleidchens hervorschaute, der Länge und der Breite nach messen.

»Nun nehmt euch zusammen, Gesellen, daß ihr mir etwas Kostbares, einzig Feines zustande bringt,« drohte der Schuster, als das Königskind samt seinem Hofstaat wieder davongerauscht war. Er stand auf und wollte eine Handvoll trockener Zweckenhölzer aus dem Ofenrohre langen – aber siehe da, die letzten Hölzer, die noch darin gelegen, waren am Morgen zu Staub und Asche gebrannt, da der Schuster, um seinen Schnupfen zu kurieren, ein fürchterliches Feuer angesteckt hatte.

Nun war guter Rat teuer. Die Schuhchen mußten bis zum andern Abend abgeliefert sein, und der Schuster konnte, obschon die neue Leiter seit drei Tagen fertig war, doch nicht auf die Erde hinabsteigen und seine Schnupfennase der kühlen Zugluft, die durch den Weltraum wehte, aussetzen.

So mußte er es wohl oder übel zugeben, als das Lorle sich anbot, die Zweige zu holen. Sie mußte heilig versprechen, sofort wiederzukehren, und als sicheres Pfand behielt sich das schlaue Männchen ja ohnedies den Heinzel zurück. Seine Nachbarn, die selbst viel zu furchtsam waren, um die gefährliche Reise anzutreten, legten die Leiter droben an, so daß ihr Ende richtig inmitten der Waldwiese aufschlug, und schauten dem herabsteigenden kleinen Mädchen nach, bis es im Nebel ihren Blicken entschwunden war.

Das Lorle wäre vor Entzücken beinahe von der Treppe hinabgestürzt, als sie nach langem Abwärtstrippeln plötzlich zwischen hellbetauten Tannenspitzen die perlende Grasfläche der lieben, bekannten Waldwiese vor sich sah. Drunten im feuchten Gras fiel sie laut aufschluchzend vor Glück und Leid auf die Knie; die Sehnsucht nach der alten, seligen Zeit im trauten Vaterhaus kam ihr ans heiße Herz. Sie vergaß die Leiter und die Pfaffenhölzer und rief nur immer: »Vater, Mutter – Vater, Mutter!« laut und inbrünstig in die stille Nacht hinein.

Da geschah plötzlich etwas ganz Unerwartetes. Ein Paar starke Arme hoben das weinende Kind aus dem Gras empor, und liebe, bekannte Stimmen jubelten: »Sie ist es, sie ist es, das Lorle, unser gutes, liebes Kind!«

Das gab nun ein schnelles, frohes Erzählen und Verstehen. Die Glöcknersleute waren, wie schon so oft von Sehnsucht und Hoffnung getrieben, gerade wieder des Spätabends auf die Waldwiese hinausgeeilt, um doch vielleicht endlich eine Spur ihrer Kinder zu finden. Nach so vielem vergeblichem Suchen und so zahlreichen Enttäuschungen war nun heute ihre Hoffnung erfüllt worden. Das war ein Jubel mitten in der schweigenden, nebelfeuchten Herbstmondnacht!

Lorle berichtete schluchzend, was sie mit dem armen, kleinen Heinz auf dem Monde erlebt hatte. Als sie nun auch ihr Versprechen erwähnen mußte, heute noch mit den Pfaffenhölzern heimzukehren, sagte der Vater: »Würde mich denn das Trepplein auch tragen, Kind?«

»Du mußt's probieren!« antwortete die Kleine.

Er tat es, und die Treppe hielt wirklich. »Ei,« sagte der Vater lustig, »ich komme mit! Wir wollen dem Schlingel von Mondschuster eine mächtige Rute aus dem Pfaffenholzgebüsch binden und hinauftragen; das wird ihm wohl den Schnupfen vertreiben.«

Und wie er's gesagt hatte, tat er es auch. Er stieg mit einem tüchtigen Büschel und seinem wiedergefundenen Kinde auf dem Arm richtig das lange Treppchen bis zum Monde empor, stieß droben gleich die gebrechliche Tür des Schusterhäuschens mit seinem derben Stiefel ein und zählte dem verschnupften Schuster, der am ganzen Körper vor Schreck zitternd dastand, fünfundzwanzig kräftige Hiebe auf. Der Schuster jammerte, daß man es im ganzen Königreiche hörte – aber niemand wagte, ihm zu Hilfe zu eilen. Da nahm der Vater die jubelnden Lieblinge auf den Arm, und als er das Treppchen erreicht hatte, jubelte er leicht auf und stieg dann so rasch, als er konnte, mit ihnen wieder nach der Waldwiese hinab, wo die Mutter schon lange ihrer harrte.

Als die drei ziemlich unten angelangt waren, hörten sie ein heftiges Kreischen über sich in den Lüften. Das waren die Mondleute, die der Schuster zusammengerufen hatte, und die nun den flüchtigen Gesellen nachsetzten. Voran trampelte der Mondschuster so arg in seinem Zorn, daß die Leiter zerbrach, als der Glöckner gerade den Fuß auf die Erde setzte; ein gutes Teil fiel quer über die Waldwiese. Der Glöckner aber zerschlug die Stücke und Sprossen und gewann einen ganzen Sack voll Silber, für den er sich später ein schönes, großes Landgut mit Äckern und Wiesen, Pferden und Kühen erhandelte.

Wohin der andere Teil der Leiter gefallen ist, weiß niemand. Jedenfalls ist er mitsamt dem bösen Schuster in den großen Spalt zwischen Himmel und Erde hineingepurzelt, denn seit jener Zeit ist niemand wieder vom Mond auf die Erde gekommen, um Pfaffenhölzer zu Schuhzwecken zu holen.

Das Mondprinzeßchen aber mußte gewiß in Schlafpantoffeln zur Hochzeit gehen.


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