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Fräulein Lehrerin

Es waren einmal vierzig kleine Buben in einer Volksschulklasse, die hauten und pufften einander in der Freiviertelstunde auf dem großen Hof oft gehörig und schubsten einander manchmal gar von den Bänken, denn das Schulzimmer war klein, und in diesem Jahre waren so viel Buben in die Klasse gekommen, wie nur irgend hineingingen. Sie saßen ganz schrecklich eng.

In einem aber waren sich die Buben einig, nämlich in der großen Liebe zu Fräulein Fehrs, ihrer Lehrerin. Die war sehr zart, sehr gut und sehr jung, so jung, daß sogar die Buben es empfanden, denen eigentlich jede Lehrerin ganz furchtbar alt erscheint. Der kleine Rudi, der aus dem Kindergarten in die Schule gekommen war, nannte sie immer die kleine Tante und wollte sie durchaus streicheln. Das verbot sie sich aber mit großem Ernst. Überhaupt hielt sie sehr auf Würde und auf Ordnung in der Klasse. Kein Junge durfte unaufgefordert reden, und niemals durften viele durcheinander schreien.

Das war aber oft entsetzlich schwer durchzusetzen. Viele der kleinen Schüler hatten vor dem ersten Schulgang zu Haus gar nicht still sitzen und den Mund halten gelernt. Daß man erst die Hand in die Höhe halten sollte, wenn man etwas wußte, konnten sie gar nicht begreifen. Viele paßten auch nicht auf, brachten Spielzeug mit in die Schule und holten es auf einmal heraus, weil's ihnen langweilig wäre, wie sie sagten. Einmal brachte einer sogar eine kleine Katze mit, die mitten in der Religionsstunde über Tische und Bänke sprang, und die dann alle vierzig Buben haschten.

Wie mußte Fräulein Fehrs ihre Stimme anstrengen, um in solch einen wilden Lärm wieder Ruhe und Ordnung zu bringen! Sie stellte es ihren Jungen laut, streng, ernst und doch freundlich vor, was sich in der Schule schicke und gehöre. Manchmal strafte sie auch die Missetäter, indem sie sie in der Ecke stehen oder nachbleiben ließ, und war dann durch kein Strampeln und Weinen zu bewegen, von ihrer Strenge zu lassen. Erst wenn die Strafe abgebüßt war, gab's liebe, verzeihende und ermahnende Worte. Dann sprach sie so treu und sanft zu Herzen, daß der kleine Christian Ohls, dessen Mutter gestorben war, auf die Frage: »Willst du nun auch wirklich besser werden?« aus Versehen antwortete: »Ja, Mutter!« Ein andrer Junge, der ihr eine besondere Ehre antun wollte, nannte sie: »Herr Lehrer!« Das lehnte sie aber bescheiden ab. Nein, »Fräulein« hieße es. »Fräulein Lehrerin« nannten sie die Buben von da an samt und sonders.

In den Stunden sprach Fräulein Fehrs sehr laut, langsam und deutlich, damit sie ihre kleinen Rekruten besser zum strammen Aufmerken zwang. Nur manchmal wollte ihre Stimme gar nicht so laut herauskommen, wie sie wohl gewünscht hätte. Manchmal sah die junge Lehrerin weiß im Gesicht aus wie frischer Schnee, wenn sie in die Schule kam. Im Laufe der Stunden wurden die blassen Backen freilich rosenrot, und die Augen glänzten ganz wunderbar. Aber das schien von lauter Angst herzukommen, denn mit einem richtig angstvollen Blick trat die Lehrerin an solchen Tagen immer in ihre laute, lärmende Klasse ein. Die Engel, die in die Seelen schauen können, haben gesehen, was in der ihrigen stand. Ein Gebet war's: »Lieber, lieber Gott, hilf mir doch! Mir ist schlecht, meine Brust tut so weh, und mein Kopf schmerzt so sehr. Ich möchte meine Pflicht so gern tun, ich möchte so gern eine gute Lehrerin sein, aber ich habe so große Angst, daß ich es nicht kann! Nein, ich kann es nicht! Es ist mir das zu schwer! Vierzig Buben! Und so wilde! Ach, hilf mir doch, lieber, lieber Gott!«

An solchen Tagen, wo sie sich besonders schlecht befand, bat die junge Lehrerin ihre Buben immer mit einem ganz besondern Blick ohne Worte: »Liebe, gute Kinder, ärgert mich doch nur heute nicht! Seid recht aufmerksam und fleißig und gut! Es ist mir nämlich gar nicht wohl!«

So klein und dumm die Buben noch waren, viele von ihnen verstanden ihn doch sehr gut, diesen bittenden Blick. Sie nahmen sich zusammen, setzten sich stramm und sahen die Lehrerin mit frommen, liebenden Blicken an. Aber wenn die andern, die ihn nicht verstanden hatten, dann anfingen, Unsinn zu machen, mußten sie doch oft sehr lachen und wurden zerstreut. Die Lehrerin mußte ihre volle, laute Stimme brauchen, um wieder Ruhe und Ordnung zu schaffen.

Da schloß sie oft für einen Augenblick die Augen, als könne sie nicht mehr, als müßte sie umsinken, aber gleich war sie dann wieder frisch und gab ihre Stunde ruhig und sicher weiter. Was erzählte sie nur für wunderbare Dinge von all den Zahlen und Buchstaben! Man lernte lesen und wußte nicht, wie; man lernte schreiben und wußte auch nicht, wie; mühsam war's gar nicht, aber herrlich! Wie ein Herr kam man sich vor, wenn man sogar seinen eignen Namen schon zu schreiben verstand.

Und so viel schöne biblische Geschichten hörte man, und so viel, was man gar nicht gewußt hatte, von den Häusern, in denen man wohnte, den Tischen und Schränken und Bänken darin! Daß die einmal Bäume gewesen waren im lustigen, grünen Wald mit Vogelnestern darin und Glockenblumen zu ihren Füßen, daran hatte man nicht im Traum gedacht. Und die Frühstückssemmel, die man in der Frühstückstrommel mitgebracht hatte, und an die man in der Stunde immer leise dachte, hatte als Ähre zwischen rotem Mohn und blauen Kornblumen auf dem Felde gestanden, hatte die Lerchen singen gehört, die weißen Wölkchen über ihrem Kopf am blauen Himmel und zu ihren Füßen kleine Mäuse huschen sehen. Aber auch große, dicke, blauschwarze Gewitterwolken hatte sie geschaut, aus denen der Donner grollte und Blitze zuckten wie ein feuriges, riesengroßes geschriebenes N oder M. Schaurig schön war es, daran zu denken.

Eine Lehrerin, die alles das wußte und noch tausendmal mehr, mußte man wohl lieb haben. O, wie lieb hatten die Buben die ihre! Sie hatten herausgebracht, sie sei die schönste und bravste von allen Lehrerinnen der Welt. Deshalb brachten sie ihr manchen Gänseblumen- und Löwenzahnstrauß, als es Frühling war. Wie der Christian einmal damit angefangen hatte, machten sie's alle nach, und der Christian wollte es immer noch feiner haben als die andern und brachte einmal zu Fräulein Fehrs großem Entsetzen einen schönen Strauß Narzissen direkt von seiner Mutter Grab.

Am meisten Blumensträuße türmten sich natürlich immer Montags auf dem Katheder auf – lauter Mitbringsel von den Sonntagsspaziergängen der Buben. Es waren oft kuriose Sträuße, große, wilde, liederliche mit allem möglichen Unkraut darin, aber auch schöne, zarte, feine, aus Waldblumen und Zittergräsern, die die Mütter mit binden geholfen hatten. Der Lehrerin war es immer viel zu viel. Sie freute sich und bedankte sich, um die Buben nicht zu kränken, bat aber immer inständig: »O, ja nicht so viel!« Denn wenn die Buben nach Hause getrappelt waren, hatte sie immer sehr große Arbeit, um die Blumenmassen wegzuräumen. Auf keinen Fall konnte sie sie mit nach Hause in ihr Stübchen bringen. Nur wenige bescheidene Sträuße wählte sie sich immer aus. Sie wohnte bei einer alten Verwandten, die Blumen gar nicht liebte und jede kleine Unordnung geradezu verabscheute. Sie putzte und wischte und scheuerte den ganzen Tag und erzählte dabei den Tischen und Stühlen, von denen sie den Staub wegwischte, leise, nur murmelnd, es sei gräßlich, wie viel man zu tun habe. Fertig werde man nie!

Der kleinen Lehrerin waren diese Reden schrecklich, und sie hatte immer ein bißchen stille Angst vor der alten Frau.

Deshalb schlug ihr Herz so sehr, und ihr blasses Gesichtchen sah so sorgenvoll aus, als sie eines Tages lange, ehe die Schulzeit zu Ende war, in einer Droschke von der Schule nach Hause fuhr.

Sie war krank geworden, ohnmächtig hingesunken in der Freiviertelstunde im Lehrerzimmer. Leise und ernst hatte eine andre Lehrerin es den Buben gesagt und sie ermahnt, recht artig und still zu sein, sie wolle sie vom Nebenzimmer aus mit beschäftigen. Sie saßen auch wirklich mäuschenstill und schrieben in feierlichem Schweigen die Worte: Maikäfer, Mieze und Mütze, die gerade an der Reihe waren, von der Wandtafel ab auf ihre Schiefertafeln.

Fräulein Lehrerin krank! Das ging ihnen sehr zu Herzen. Kranksein ist immer so was Besonderes. Der kleine Max hatte einmal eine Schachtel mit Bleisoldaten bekommen, als er krank war, und seine Mutter hatte ihn immer mit Tränen in den Augen so leise und so süß geküßt in jener Zeit. Kranksein war für ihn etwas Festliches. Bei Christian war's anders. Dem wurde bei dem Worte Kranksein bang und feierlich zumute, und seine kleine Seele füllte sich mit großer Angst. Seine Mutter war krank gewesen, so sehr! In Filzschuhen hatten die Kinder damals herumgehen müssen, und Vater hatte die Schuhe immer vor der Türe ausgezogen, so leis', so leis' hatte es zugehen müssen. Jeder Laut tat der kranken Mutter weh. Und dann war alles noch leiser und noch stiller geworden: die Mutter war gestorben. Zwei große, bunte Kränze lagen auf ihrem Bett. Und dann ward sie leise, leise hinausgetragen. Nie mehr kam sie nun, nie mehr streichelte und küßte sie ihre Kinder.

Ob es bei Fräulein Lehrerin, die ihn manchmal so sanft gestreichelt hatte, auch so ging? Eine große Sorge beschlich den Christian. Er blickte auf einmal mit ganz erschrockenen Augen nach dem leeren Katheder. Der lag noch über und über voll Blumen gepackt. Es war Montag. Ein kleiner Resedenstrauß von Christian lag auch dabei aus seiner Tante Gärtchen. »O, der ist schön! Der duftet!« hatte Fräulein Lehrerin gesagt, als er ihn ihr gab.

Nun lag der Strauß mit da, vergessen, verlassen. – –

Aber dem Christian kam auf einmal eine feine Idee. Flüsternd teilte er sie seinem Nachbar mit, und der sagte sie weiter und sein Nachbar ebenfalls, und auf einmal war ein solches allgemeines Geflüster in der Klasse, daß die fremde Lehrerin den Kopf ganz aufgeregt ins Zimmer steckte und in strengem Ton fragte: »Ja, was ist denn das?« Und »Ja, was ist denn das?« fragte ein paar Stunden später auch Fräulein Lehrerins Tante in sehr erzürntem Ton. Sie hatte heute schon Aufregung genug gehabt, als ihre Nichte Anna in der Droschke mit einem so starken Fieber nach Haus kam. Und der Arzt, den der Herr Rektor gleich geschickt, hatte gemeint, es sei gar nicht abzusehen, wie lange sie im Bett würde liegen müssen. Sie sei sehr, sehr krank. Da gab es zu tun: Wärmflaschen, Tee und Umschläge besorgen und nach der Apotheke rennen und noch tausenderlei mehr. Und das war noch nicht einmal das Schlimmste. Nein, die Hauptsache war die schreckliche innere Angst. Auf einmal, wie ein Blitz, hatte es die alte Frau gespürt, sie liebte das kranke Mädchen, die einzige Tochter ihrer verstorbenen Schwester, sehr. Das regte sie ganz furchtbar auf. Nein, man werde nie, nie fertig im Leben, sagte sie allen Töpfen in der Küche und dem Feuerherd und sogar der Wärmflasche, an der sie sich in ihrer Unruhe die Hände verbrannt hatte. Leise murmelnd sprach sie freilich heute nur. Ruhe, tiefe Ruhe, hatte der Arzt gesagt, sei das allernötigste für die Kranke.

Und als sie gerade trotz aller Aufregung ganz mäuschenleise mit der Wärmflasche sprach, ging auf einmal ein gewaltiges Trippeltrappel auf der steilen, kleinen Holzstiege los. Empört riß sie die Türe auf und rief laut und zornig: »Was ist denn das?« in den kleinen Vorsaal hinein.

Eine schöne Bescherung war's! Kleine Jungen, so viel, daß man sie unmöglich in der Eile zählen konnte, in Matrosenanzügen, in Leinenkitteln, in ganzen und geflickten, in neuen und alten Hängeschürzen, in Mützen und Strohhüten, alle durchweg mit sehr schmutzigen Schuhen und Stiefeln, denn es hatte geregnet, und die Straßen waren alle patschnaß. Da sah die Treppe natürlich gräßlich aus. Das war aber noch nicht einmal das Schlimmste. Ein Haufen zusammengewurstelter nasser Sträuße lag vor der Tür, der wirklich nicht anders aussah als ein triefender Heuhaufen.

Dafür hielt ihn die Tante wohl auch in ihrem ersten Schreck. Sie zankte entsetzlich.

»Ihr ungezogenen Bengel mit euren nassen Schuhen, was fällt euch denn ein? Der ganze Flur und die ganze Treppe ein Schmutz! Man wird so wie so nicht fertig!«

So zankte sie noch eine ganze lange Weile. Als sie endlich einmal eine kleine Minute schwieg, trat ein blasser, kleiner Junge in einer viel zu langen blauen Schürze, der Christian, rasch entschlossen als Sprecher vor.

»Einen schönen Gruß an die Fräulein Lehrerin, und wie's ihr ging?«

»Schlecht!« sagte die Tante und warf die Türe zu. »Kein Wunder wahrscheinlich, ihr werdet sie wohl schön geärgert haben!« klang es noch von drinnen heraus, deutlich genug, daß es die Vordersten hörten.

Die erschraken sehr, und die andern, denen sie es wieder sagten, erschraken auch. Ungeheuer aufgeregt und unter großem Lärm trappelten die vielen kleinen Füße die Treppe hinunter.

Ja, geärgert hat freilich mancher die geliebte Lehrerin! Die Gewissen waren durchaus nicht ganz rein. O, wenn man es nun gut machen könnte!

Wunderbare Gedanken gingen in manchen der kleinen Köpfe herum an diesem Nachmittag. Wie konnte man die kranke Lehrerin nur erfreuen? Mancher hätte ihr mit Freuden Ball und Reifen, Peitsche und Schaukelpferd geschenkt, so lieb hatten sie sie. Aber das nützte ihr doch nichts! Nur Blumen waren eigentlich möglich. Ein bißchen hatte sie doch immer gelächelt über die vielen Sträuße, wenn auch oft nur ganz leise. Ja, Blumen, Blumen! Woher man sie bekam, das war nun ganz egal. Aus Nachbarsgärten gebettelt, von Wegrainen abgerupst, nicht alle schön, sehr staubig manche, aber jedenfalls viel, sehr viel!

Mit solchen Schätzen beladen, machte sich die Bubenschar am nächsten Mittag nach Schulschluß wieder auf den Weg nach Fräulein Lehrerins Wohnung. Sie war noch krank, denn wieder hatte die Lehrerin aus der Nachbarklasse sie mit beaufsichtigt und beschäftigt.

»Einen schönen Gruß, und wie es Fräulein Lehrerin geht?« –

Christian schrie es heute als Wortführer mit noch lauterer Stimme tapfer der erzürnten Tante entgegen. Tapfer schluckte die ganze Klasse die Schelte, womit die alte Frau sie heute noch reichlicher überschüttete, herunter.

»Laßt euch's nicht einfallen, noch einmal zu kommen!« rief sie zornig. »Ich hab' wohl weiter nichts zu tun, als hinter euch die Treppe rein zu machen, ihr nichtsnutzigen Buben? Fräulein Lehrerin geht es schlecht. So ein Getrappel, das war was für sie! Adieu!«

Ja, es ging ihr schlecht, sehr schlecht, das war leider wahr! Sie lag in ihrem schneeweißen Bett ganz still, ganz regungslos, ihr Kopf und ihr ganzer Leib ein einziger brennender Schmerz. Sie hatte die Hände gefaltet, die Tränen rannen aus ihren Augen. Eben hatte sie süß geschlafen, aber das Getrappel hatte sie in der Tat geweckt.

Nun dachte sie nur eins:

»Lieber, lieber Gott, kannst du mich nicht zu dir nehmen? Ich möchte gar nicht mehr leben! Meine lieben Eltern sind ja auch tot und sind bei dir! Und ich habe keine Kraft, ich kann es nicht, das mit den vierzig Buben! Nein, ich möchte lieber nicht mehr! Lieber nicht! Lieber nicht!«

Während sie das dachte, kam ihr doch wieder so ein bißchen wohltuender Schlaf. Daraus wachte sie freilich mit noch größeren Schmerzen auf. Die ganze Nacht schlief sie nicht, warf sich herum, stöhnte und seufzte laut, ohne es zu wissen. Die Tante war wohl zwanzigmal in der Nachtjacke an ihrem Bett, und sie kannte sie nicht einmal.

Auch am andern Morgen kam kein Schlaf, erst gegen Mittag. Da nahte die Ruhe auf einmal so leis und süß. Die Tante war so unendlich froh. »Gott sei Dank!« sagte sie leise und sanft zu allen Medizinflaschen auf dem Krankentischchen, über die sie mit ihrem Staubtuch fuhr.

»Daß ich's den Buben nun endlich ausgetrieben habe zu kommen, ist das Allerbeste,« dachte sie stillvergnügt. »Das Getrappel auf der Treppe, das könnten wir heute gerade brauchen! Das wär' so was!«

In diesem Augenblick ertönte ein lautes, überlautes: »Bim, bim, bim!« Die kleine Klingel schrie so gellend, als ob ihr jemand ans Leben wollte. »Bim, bim, bim!« ging es immer wieder, ohne Aufhören beinahe. Die Jungen konnten es doch nicht sein, es hatte ja nicht getrappt. Ein Bettler vielleicht? In höchster Aufregung riß die Frau Tante die Tür auf.

Da erstarrte ihr wahrhaftig das Wort im Munde vor Ärger und Überraschung. Das war doch zu arg! Die Buben waren es wahrhaftig wieder. Barfuß waren sie alle die Treppe heraufgeschlichen, Schuhe und Strümpfe hielten sie in der Hand. Und Unkrautsträuße hatten sie auch wieder in Unmenge. Und Christian begann seine Rede:

»Einen – schönen – Gruß« – – – Weiter aber kam er nicht.

»Ihr Nichtsnutze, ihr Schlingel, ihr unverschämten! Wenn Fräulein Lehrerin jetzt stirbt, so ist's eure Schuld! Und ganz recht geschieht's euch, daß ihr's wißt! Untersteht euch nur und kommt mir noch einmal! Ihr fliegt die Treppe runter, sag' ich euch! Wer noch einmal an dieser Klingel zieht, der kriegt eine Tracht – – – «

Das war ein Gewitter mit Donner und Blitz, schlimmer als das, welches über dem Ahrenfelde sich entlud, aus dem dann die schönen Semmelwecken entstanden sind, wie Fräulein Lehrerin ihnen einmal erzählt hatte.

»Wollt ihr jetzt folgen?« hieß es zuletzt noch, als letztes verhallendes Donnergrollen.

Christian sagte zitternd und leise: »Ja!«

Und die andern Jungen sprachen es ihm nach. Im vollen Chore schrieen sie »Ja!« und sahen die zürnende Frau mit erstaunten Blicken respektvoll und treuherzig an.

»Ich hab' gesiegt!« sagte sie drinnen dem Topf und der Pfanne, in denen sie ihr bescheidenes Mittagessen kochte. »Die kommen mir nicht wieder ins Haus!«

Es herrschte eine leise Freude darüber in ihrem Gemüt. Und das war gut, denn der Tag war sorgenvoll und schwer, und die kommende Nacht war noch viel schwerer.

Fräulein Lehrerin fieberte so stark. Sie war in ihren Fieberträumen wieder ein ganz kleines Kind, hieß Anni, saß auf der Mutter Schoß, lief an der Mutter Hand durch einen großen, großen Blütengarten, ganz voll Duft und schwebender Schmetterlinge und Sonnenschein. Aber die Mutter war dann fort. Sie suchte sie unaufhörlich. Sie schrie so laut, so herzzerreißend: »Mutter, Mutter, ich will zu dir!«

Erst als die Morgensonne ins Zimmer schien, wurde sie ruhiger. Sie schlief nun sanft, so sanft, als sei sie wirklich im Mutterarm. Aber dabei sah die Tante sie ängstlich an. Wie schwach sah sie aus, wie totenbleich! Sie atmete ja kaum.

»Lebt sie überhaupt?« dachte die alte Frau einmal einen kurzen Augenblick. Der Doktor war heut noch nicht dagewesen. Ihr wurde immer mehr angst. Es war bald Mittagzeit. Anna schlief weiter und weiter, so reglos, so schneeigweiß.

Wenn der Doktor nur käme!

Da, ja endlich! Ein ganz leises, ganz behutsames Klingeln, so daß man's kaum hörte, so machte er's immer!

Die Tante eilte hinaus.

Nein, es war der Doktor nicht.

Erst dachte sie, es sei überhaupt gar niemand, denn es stand niemand vor der Tür.

Dann sah sie den winzigen Gast erst. Er war so klein, man konnte ihn wirklich sehr leicht übersehen, namentlich wenn man so aufgeregt war wie sie.

Ein Hündchen war's, ein winziges, weißes. Das trug einen großen Vergißmeinnichtkranz um den Hals. Mit einigen zusammengeknüpften rosa und blauen Wäschebändern war es vermittelst seines Halsbandes an die Türklingel festgeknüpft, und auf diese Weise hatte es so leise und manierlich zu klingeln vermocht.

Es saß nun da und hob die Pfötchen so niedlich, daß die Tante in all ihrem Jammer ganz gerührt und freundlich fragen mußte: »Was willst denn du?«

Das Hündchen sagte es nicht, aber die Tante, die genauer hinschaute, sah es nun. Ein zusammengerolltes Schreibheftblatt trug das kleine Tier an seinem Vergißmeinnichtkranz. Das scheint ein Brief zu sein, dachte die Tante. Ihr Herz war heute so bewegt. Sie machte ihn ganz vorsichtig und leise ab und liebkoste das Hündchen immer leise dabei. Das: »Ei, ei, liebes, kleines Tier! Braves, kleines Tier!« klang gar freundlich, so freundlich, wie die Tante lange nicht gesprochen hatte, ja so freundlich, so traulich, daß auf einmal eine leise Stimme aus dem Krankenzimmer heraus rief: »Tante, bist du das? Mit wem sprichst du denn da so lieb?«

»Anni,« rief die Tante, ganz freudig verwundert, »bist du endlich wieder wach? Ich fürchtete schon – – «

Sie eilte flugs hinein in das Krankenkämmerchen, den kleinen Hund mit dem großen Vergißmeinnichtkranz und dem nachschleifenden bunten Band auf dem Arm und das zusammengerollte Schreibheftblatt in der Hand.

Ja, die blasse Kranke saß wirklich aufrecht im Bett. Sie war erwacht, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als die Tante draußen auf einmal so schmeichelnd liebkosend zu jemandem sprach. Nun lächelte sie noch viel lieblicher. O, was war das? Wie sah das süß aus, das schneeweiße, winzige Tierchen mit dem großen Kranz! Die Tante setzte es ihr auf das Bett, sie streichelte es mit ihrer zarten, blassen Hand.

Dann las sie den Brief.

Der lautete:

»Libes Fräuhlein Leererin!

Wir dirfen nich mer komen, einen schönen Grus, un wie ket es inen den? Wir wolen si nich mer ergern, imer libhaben. Bite, wern si toch kesund!

Ale fierzig Buben.

Geschriem hat es der kristian. Der Hund is auch fon den.«

*

Als der Doktor bald nach Tisch zur Fräulein Lehrerin kam, fand er sie wohl sehr schwach, aber die Gefahr sei doch vorüber. Sie müsse nur recht wollen, recht ernstlich wollen, fleißig essen und trinken und guten Mutes sein, dann werde sie schon wieder gesund werden.

Fräulein Lehrerin nickte ihm freundlich zu. Sie las, als er fort war, den Brief ihrer Buben wohl zum zehntenmal. Eine Träne hell wie ein Tautröpfchen fiel darauf.

Sie faltete ihre Hände und sprach mit Gott.

»Ja, wenn es denn dein Wille ist, lieber Gott, so will ich noch weiterleben! Ich dachte, ich könnte es nicht, das mit den vierzig Buben, aber ich fühle nun Kraft und Mut, es wird schon gehen, wenn sie mich so lieb haben und so gut folgen wollen. Die Tante ist ja jetzt auch so freundlich und gut! Ja, ich will, ich will! Dein Wille geschehe, lieber Gott, im Himmel und auf Erden! Amen!«


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