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Viktors Reiseabenteuer

Es ist heiliger Abend.

Das ist ein Drängen, ein Gehen und Kommen auf dem Bahnhof! Viele Hunderte von Leuten wollen noch mit dem Nachmittagszuge fort, um zur Bescherung bei ihren Lieben zu sein.

Auch der kleine Viktor will noch mit. Er drängt sich, mit einem kleinen ledernen Reiseköfferchen und einem Paket voll Butterbrot beladen, an der Hand eines schmucken, jungen Offiziersburschen eben mitten durch alt und jung auf den Bahnsteig hinaus. Das ganze Kerlchen ist noch nicht vier Fuß hoch und will schon allein eine Weihnachtsreise machen.

Die Sache ist die. Der Onkel Oberst war vor zehn Tagen in Grünau, Viktors Wohnort, zu Besuch und nahm sich den Jungen, sein Patenkind und ein für allemal seinen Liebling, auf eine Woche mit nach der Hauptstadt. Viktor war eben von den Masern gesund geworden und hatte infolgedessen noch bis Weihnachten Schulurlaub. Am Christabend wollten Onkel und Tante ihn selbst nach Grünau bringen, aber leider sprang der gute Oberst gestern zu rasch vom Pferd und verstauchte sich den Fuß. Nun konnte er natürlich nicht reisen. Die Tante konnte auch nicht von ihm weg; Viktor mochte zu Weihnachten aber natürlich nicht in der Fremde bleiben.

»Was ist denn da weiter?« sagte der Onkel Oberst. »Solch ein famoser Junge kann doch eine Stunde allein im Eisenbahnwagen sitzen! Ich telegraphiere nach Grünau, daß ihn sein Vater dort vom Bahnhof abholt. Basta!«

Die Tante schüttelte den Kopf und meinte, die Sache sei doch zu bedenken; Viktors Mama könne sich halb zu Tode ängstigen.

»Bombenblitz!« sprach der Oberst, »die Mama braucht ja gar nicht eher etwas zu wissen, als bis ihr Junge da ist. Das telegraphiere ich dem Schwager gleich mit.«

Der Onkel Oberst war nun einmal gar nicht für das Verpimpeln. Alles auf der Welt sollte forsch sein und ein Junge vor allen Dingen. An Viktor konnte er in dieser Beziehung seine Freude haben, denn der kleine Kerl freute sich gerade auf das Alleinreisen am meisten.

»Fürchtest du dich wirklich nicht?« fragte Martin, Onkels Bursche, der ihn zur Bahn brachte, vertraulich.

Viktor sah den baumlangen Menschen halb empört, halb mitleidig an.

»Na, na, ein bissel in acht nimm dich nur!« meinte der. »Ich werde sehen, ob ich jemand finde, der nach Grünau fährt und dich unter seinen Schutz nimmt. Steige ja an keiner falschen Stelle aus! Das wäre schön! Schlaf auch nicht ein!«

Viktor fand diese Ermahnungen entsetzlich überflüssig.

»Grünau, zweiter Klasse!« rief er dem Schaffner statt aller Antwort lustig zu.

Dieser wies auf ein Abteil, in das eben ein alter, weißbärtiger Herr und ein kleines, zartes Mädchen, das in ein schneeweißes, schwanbesetztes Seidenmäntelchen gehüllt war, einstiegen. Der Bursche meinte flüsternd, das benachbarte Abteil sei besser, da dort Damen säßen, denen er Viktor anempfehlen könnte. Aber der forsche Junge wollte weder von Aufsicht noch von Damen etwas wissen, sprang rasch in das Coupé, wo der Herr und das Kind Platz genommen, und rief dem Diener recht von oben herab zu:

»Sie können jetzt ruhig nach Hause gehen, Martin! Gruß an Onkel und Tante! Schönen Dank! Adieu!«

Stramm legte er die kleine Hand in dem rot und braun gewürfelten Wollhandschuh an das Soldatenmützchen, das er trug. Der Bursche erwiderte ganz ernsthaft den Gruß und ging. Erst als Viktor es nicht mehr sehen konnte, fing er an, über das ganze Gesicht zu lachen.

»Nein, nein,« murmelte er vor sich hin, »dem Jungen passiert nichts, der kann so bleiben; der kommt durch die Welt!«

Ein greller Pfiff, und der Zug setzte sich in Bewegung. Viktor sah sich nun seine Reisegesellschaft ordentlich an. Was für wunderliche Leute! Der alte Herr trug einen riesigen Pelzrock; sein Bart und Haar waren schneeweiß, und seine klaren, lichtbraunen Augen, die unter buschigen, weißen Brauen hervorsahen, hatten einen so sonderbaren, feierlichen und geheimnisvollen Ausdruck. – Die Kleine war zart wie ein Hauch, schneeweiß und still. Aber wenn sie auch schwieg und ihr Köpfchen wie zum Schlafen an den Alten lehnte, ihre großen Augen blitzten doch zuweilen mit einem raschen Schelmenblick zu Viktor hinüber, als wollten sie sagen:

»O du, wenn du wüßtest, was ich weiß!«

Der Schaffner kam nun, um die Billets zu kontrollieren. Viktor reichte ihm das seine hin; der alte Herr aber machte nur ein Zeichen mit der Hand, worauf der Schaffner sich verneigte und voll Ehrfurcht und Verständnis sagte: »Ach so, ja, – ja, – ja!«

Wer müssen die nur sein? dachte der Junge. Welch eine Masse von Schachteln und Paketen sie mit sich führten! Er hätte sich wie ein König gefreut, hätte eins von den beiden das Wort an ihn gerichtet. Aber beide hatten die Augen geschlossen, und ein leises Atmen tönte durch den warmen Raum.

»Wie kann man nur unterwegs schlafen!« dachte Viktor und blinzelte durch eine klare Stelle in den gefrorenen Scheiben in die öde Landschaft hinaus. Der Winterabend begann schon zu dämmern; einförmig, langsam flatterten die großen Flocken hernieder; schwarze Krähen hockten am Weg; die Räder rollten tick – tack – tick – tack; unwillkürlich schloß der kleine Mann die Augen, »aber einschlafen nicht, einschlafen nicht!« dachte er noch. Da faßte ihm auf einmal etwas eisig kalt ins Gesicht.

»Du!« rief ein Stimmchen, hell und klar wie ein silbernes Glöckchen. Er taumelte in die Höhe. Die fremde Kleine hatte sich zu ihm herübergebeugt; ihr schneeweißes Gesichtchen lachte, und ihre braunen, holden Augen blitzten dicht vor den seinen. Was ihn erschreckt hatte, war die Berührung ihrer kleinen, zarten, seltsam kalten Hand.

»Schlaf doch nicht!« sagte sie mit herausforderndem, übermütigem Ton. »Wir wollen uns lieber unterhalten! Rat einmal, wer wir sind!«

Verwirrt blickte Viktor sie an. »Ihr schlieft doch selbst –«

»Ja wir! Ja wir!« sagte sie schelmisch. »Wir dürfen wohl müde sein! Gelt du,« wandte sie sich zu dem Alten, »wir zwei, wir haben jetzt eine schlimme Zeit?«

Es sollte klagend klingen, aber das Stimmchen bebte dabei vor heimlicher Lust. »Kennst du uns?« redete sie wieder Viktor an. »Nein!« wollte dieser sagen. Aber plötzlich stieg ihm eine wundersame Ahnung auf. Er wußte nicht, – eigentlich glaubte er nicht so recht an den Weihnachtsmann; Mutter und Großmutter redeten zwar immer von ihm, die Jungen in der Schule aber sagten, es gäbe gar keinen; und doch, und doch, – wo hatte er nur seine Gedanken gehabt? Der Alte da im grauen Pelz mit dem freundlichernsten Blick, die Schachteln und Päckchen, der Lebkuchenduft da auf einmal im Abteil, es konnte nicht anders sein, es stimmte, es war der Weihnachtsmann!

Hat er es nur gedacht? Hat er es laut gesprochen? Die Kleine jubelte auf, klatschte in die Hände und zitterte vor Lust. »Ja, ja,« rief sie, »du hast's getroffen! Er ist's, der Weihnachtsmann, der Weihnachtsmann!«

Sie zog sogleich ein paar große Schachteln unter dem Sitz hervor, öffnete den Deckel ein wenig – o Gott, welche Pracht! War es denn möglich? So viel Hunderte und Tausende von Soldatenhelmen in dem kleinen, engen Raum, – und da ebensoviel Patronentaschen in der andern, schwarz mit Gold, genau so, wie er sie sich gewünscht hatte.

»Aber da erst!« sagte sie und zog eine dritte Schachtel hervor. Viktor beugte sich neugierig vor, aber sie legte beide Händchen auf den Deckel, streckte ihr Köpfchen vor und neckte.

»Halt, noch nicht! Rate jetzt einmal, wer ich bin?«

Das Christkindchen, dachte er. Aber nein, Flügel hat sie ja nicht. Aber etwas Schimmerndes, Himmlisches haftete ihr an. Nun warf sie auf einmal das weißseidene Mäntelchen ab, und ein Kleid von dünnem, klarem, glitzerndem Stoff, fein und weich wie eine Blüte, wurde sichtbar.

»Kennst du die Prinzessin Schneeflocke nicht?« lachte sie und hielt ihr Händchen einen Augenblick an seine Wange. Eiskalt wehte es über ihn hin. Er wußte kein Wort zu reden vor Staunen und Bewunderung. Sie sprang von ihrem Sitz in die Höhe, jubelte, kicherte und wußte sich nicht zu helfen vor Übermut.

»Nur nicht so toll, mein Schneeflöckchen!« sagte jetzt mit tiefer, klangvoller Stimme der Weihnachtsmann. »Erhitze dich nicht, mein Töchterchen! Werde nicht krank! Was wäre der Welt ein Weihnachtsfest ohne dich!«

Die liebe Kleine nahm sich zusammen, saß still und hantierte wieder an der großen Schachtel herum. »Oh!« sagte sie begeistert, nachdem sie den Deckel ein wenig geöffnet und schelmisch hineingeblickt hatte.

»Bitte, zeig einmal!« bat Viktor ungeduldig.

Da nahm sie den Deckel ab.

»Ach, nur Puppen!« sagte Viktor in geringschätzigem Ton. »So dummes Zeug! Wenn's weiter nichts ist!«

»Puhuh!« räusperte sich der Weihnachtsmann. Schneeflöckchen sah den forschen Jungen bitterböse an.

»So wundervolle Puppen!« sagte sie schmollend und nahm nacheinander wohl ein Dutzend entzückender Wachskinder auf den Schoß, die so groß und so reich gekleidet waren, daß man gar nicht begreifen konnte, wie sie in der engen Schachtel Platz hatten. Die eine war sogar Braut und trug ein weißes Seidenkleid und einen wunderfeinen blühenden Myrtenkranz. Eine andre im rotkarierten Wintermäntelchen und rotseidenen Kapuzchen trug wie ein ordentliches Schulkind das Ränzel auf dem Rücken.

»Und erst diese hier!« sagte Schneeflöckchen und wiegte ein goldhaariges Engelskind, das ebenso weiß gekleidet war wie sie, auf den zarten Armen.

»Und diese, und diese!« Zärtlich liebkosend drückte sie ein paar Wickelpuppen in weißen Spitzenbetten ans Herz.

»Solch dummes Zeug!« brummte Viktor noch einmal vor sich hin.

Da sah ihn die schöne Kleine einen Augenblick traurig und zornig an, dann fing sie an zu lachen, legte die Puppen in die Schachtel, sprang auf die Bank und beugte sich zum Ohr des Weihnachtsmannes.

Viktor hörte nicht alles, was sie sagte, nur das eine schreckliche Wort: »Natürlich, natürlich! Wir schenken ihm eine Puppe zu Weihnachten, sonst nichts! Das soll seine Strafe sein!«

Eine Weile saßen sie sich nun stumm gegenüber. Schneeflöckchen packte die Puppen wieder ein, wobei sie immer verstohlen lächelte und endlich ganz leise, leise summte und sang: »O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!« Viktor war so beleidigt über den Puppenwitz, daß ihm beinahe das Weinen kam; aber er nahm sich zusammen, soviel er konnte, und um von seinem Ärger ja nichts merken zu lassen, setzte er sich recht stramm zurecht und redete ganz frisch und dreist den Alten an:

»Entschuldigen Sie, lieber Herr Weihnachtsmann, wo sind Sie denn eigentlich zu Hause?«

Der Greis nahm die vorlaute Frage nicht übel, denn er lächelte sehr freundlich und sagte:

»Weißt du denn, was man unter dem Nordpol versteht, mein Junge?«

Ei, natürlich! Viktor war nicht umsonst der Erste in der Klasse und der Beste in der Geographie.

»Der nördlichste und einer der beiden kältesten Punkte der Erdkugel,« sagte er ohne Besinnen.

»Nun wohl, da oben steht unser Schloß,« erzählte der Alte. »Mitten auf einem großen Gebirge von Eis mit Eisbäumen und Eisblumen ragt es empor mit seinen sieben schimmernden Türmen. Alle Säulen und Wände, alle Decken und Dielen, alle Pforten und Gänge sind von Eis.«

»Ist denn das nicht furchtbar kalt? Und zerbricht denn das Eis nicht?« fragte Viktor gedankenvoll.

»Kalt?« lachte Schneeflöckchen. »Wir wissen gar nicht, was das heißt! Wir frieren nie. Sieh, in so dünnen Kleidern, mit bloßem Hals und bloßen Armen gehen wir tagaus, tagein umher, laufen wir Schlittschuh auf dem See und fahren wir in silbernen Schlitten die Eisberge hinunter. Nur auf der Reise wird so ein seidenes Mäntelchen übergezogen.«

»Und zerbrechen,« belehrte der Weihnachtsmann, »kann das Nordpoleis auch nie. Es ist so hart und fest und glänzend wie Edelstein.«

»Du solltest sehen, wie das funkelt und blitzt,« rühmte Schneeflöckchen. »Gar erst, wenn es ein Fest gibt und die rosenroten Lampen angezündet sind. Da fällt ein Widerschein von dem Rosenlicht weit über Himmel und Erde. Die Menschen nennen das Nordlicht. So etwas kann man sich nicht vorstellen, wenn man es nicht gesehen hat.«

»Ein Fest?« fragte Viktor. »Seid ihr denn so viele Leute dort oben?«

»Na, höre,« meinte der Weihnachtsmann, »meine wilden, weißen Schneeflöckchen und die vielen lustigen Jungen, die Winde, das gibt ein Gewimmel! Dann wohnt ja mein lieber Freund, der Winter, sobald der Frühling, der Grobian, ihn von der Erde vertreibt, samt seinem ganzen vornehmen Hofstaat auch mit droben.«

»Mein Vater,« sagte Schneeflöckchen stolz.

»Und der Knecht Ruprecht, der dritte von uns Alten,« sprach der Weihnachtsmann.

»Das ist ein lustiger!« lachte Schneeflöckchen. »O du, wenn du wüßtest, was der uns immer vor euch Erdenkindern erzählt, von den kleinen, dummen Mädchen, die sich vor ihm fürchten, und den großen, stolzen Jungen, die nicht beten wollen! Er sammelt auch die Wunschzettel der Kinder von den Fenstern ein und bringt sie mit nach Norden, daß der Weihnachtsmann sich danach richten kann. Oh, die sehen manchmal drollig aus! »Ein kroses Färt,« »Eine Bubbenstuppe,« »Ein Puch mit Pildern.« Voriges Jahr wünschte sich gar ein kleiner Junge ein »Fällozibeet!«

»Werden denn die Sachen alle bei euch gemacht?« fragte Viktor schnell. Er ist auf einmal purpurrot geworden, denn der kleine, dumme Junge mit dem »Fällozibeet« ist er gewesen.

»I bewahre!« belehrte ihn der Weihnachtsmann. »Wozu wären denn die vielen Spielzeugfabriken und die großen, schönen Läden in der Welt? Seit vierzehn Tagen reise ich mit Schneeflöckchen in allen Ländern umher und kaufe ein. Nur das zerbrochene und verdorbene Spielzeug, das Knecht Ruprecht einsammelt, wird bei uns oben wiederhergestellt; zwei Säle im Schloß sind dazu da. Dort werden Puppenköpfchen aufgefrischt, lahme Pferde und Hunde und Kaninchen geheilt und mit neuem Fell bezogen, alte Wagen neu bemalt und mit frischen Rädern versehen.«

»Ach, lieber Weihnachtsmann, da wissen Sie vielleicht auch, wo meine alte Festung hingekommen ist?« fragte Viktor ganz aufgeregt. »Wir hatten neulich einmal Schlacht bei Sedan gespielt, Thiems Fritz und ich. Dabei sind fünfzig Mann gefallen, Franzosen und Deutsche, denn wir hatten ein neues Geschoß erfunden, nämlich Glasperlen statt Erbsen in den Kanonen. Leider schossen wir in Mamas kleinen Spiegelschrank, und auch die Festung war ein bißchen arg verbogen. Mama war sehr böse, und am andern Tage war alles weg: Soldaten, Festung und Kanonen. Ich dachte mir aber gleich, daß es zu Weihnachten wiederkommen würde. Nicht wahr, Sie haben alles gehabt und bringen es mir zurück?«

Der Weihnachtsmann schmunzelte.

»Kannst du denn auch recht schön mit Soldaten spielen?« fragte er, statt zu antworten. »So mit Sinn und Verstand, meine ich?« Während er sprach, zog er einen großen Reisesack unter dem Sitz hervor, griff hinein und brachte ein kleines Stück grüne Pappe zu Tage, das sich unter seinen Händen auf einmal mächtig vergrößerte und in eine Landschaft mit Wällen, Wegen und Gräben verwandelte.

»Nun Paß auf, wir schlagen eine Schlacht!« sagte er, und im Nu war der Inhalt von mindestens hundert Schachteln Bleisoldaten, die sich ebenfalls in dem Sack befanden, aufgestellt, in viele, viele Regimenter, in Fußvolk und Reiter abgeteilt. Deutsche und Franzosen standen einander gegenüber, die tapferen Generale voran, die blitzenden Kanonen in Reih und Glied, die Mannschaften in geraden Reihen, die blauen, die weißen, die roten Uniformen, wie an Fäden gereiht, alle Gewehrläufe in scharfen Linien, alle Rosse in glatter Front.

Auf einmal Blitz und Krach – die erste Kanone ging los. Was war das? Rückten die kleinen Heere nicht wirklich gegeneinander? Oder schob der Weihnachtsmann die Mannschaften zusammen, daß es nur so aussah? Hüben und drüben schlugen die Kugeln ein. – – Ach, leider pfiff es da gerade!

»Station Wielitz?« sagte der Weihnachtsmann. »Schneeflöckchen, hier müssen wir aussteigen. Es wird dunkel, und wir müssen anfangen zu bescheren, wenn wir fertig werden wollen.«

Im Nu, ehe der Zug noch hielt, waren alle Soldaten in die richtigen Schachteln eingepackt, die Pappe wurde zusammengelegt und alles im Reisesack verschlossen. Der Weihnachtsmann steckte die Pelzmütze ein, zog die Kaputze des großen Mantels über den Kopf und raffte alle Schachteln, Taschen und Säcke zusammen.

Auch die Kleine, die schnell in ihr weißes Mäntelchen geschlüpft war, bekam ihren Teil zu tragen.

»Ach, müßt ihr denn schon aussteigen?« fragte Viktor ganz traurig. Er konnte sich über das jähe Ende der entzückenden Schlacht gar nicht beruhigen.

»Na, sei nur ruhig, wir kommen schon heute noch zu dir,« tröstete der Weihnachtsmann.

Viktors Reiseabenteuer

Viktors Reiseabenteuer.

»Oder komm du mit uns!« schlug Schneeflöckchen mutwillig vor.

Das war eine Idee! Der Zug hielt jetzt.

»Darf ich? Darf ich?« fragte Viktor atemlos.

Der Weihnachtsmann schmunzelte wie ein rechter Schelm und sagte kein Wort.

»Station Wielitz!« schrie der Schaffner und öffnete die Tür. »Was da, ich komme heute schon noch nach Haus,« dachte Viktor; er konnte sich einfach nicht von den beiden trennen.

»Gib her!« sagte er, nahm Schneeflöckchen die Hälfte ihres Gepäcks ab und sprang hinter ihr ruhig mit hinaus.

Ein wundervoller Schlitten, mit ein Paar schlanken, starken Schimmeln bespannt, wartete hinter dem Stationsgebäude. Die beiden Weihnachtsboten stiegen ein, und Viktor nahm ihnen gegenüber auf dem Rücksitze Platz.

»Da bist du ja!« sagte der Weihnachtsmann ganz ruhig und wieder mit jenem eigentümlichen Schmunzeln. Schneeflöckchen klatschte in die Hände, lachte und lachte.

Die Fahrt ging fort. Gleich hinter dem Stationsgebäude führte die Straße an ein paar kleinen Häusern vorüber in den mächtigen, weißbeschneiten Tannenwald hinein. Wie im Flug ging es dahin; erschreckt flatterten ein paar piepende Meislein auf. Hunderte von silbernen Glöckchen, mit denen das rote Zaumzeug der Schimmel geschmückt war, ließen ihr leises, märchenhaftes Geklingel ertönen.

Nun öffnete sich der Wald.

An den Berg gelehnt, tauchte eine kleine Stadt mit ihren aufblitzenden roten und gelben Lichtern aus der bläulichen Dämmerung auf.

Vor jedem Hause stand der Schlitten still. Der Weihnachtsmann und Schneeflöckchen stiegen aus; nur einen Augenblick, dann ging es weiter so schnell, so schnell, daß Viktor es gar nicht fassen konnte. In dem winzig kurzen Zeitraum, den die beiden Leute in den Häusern zubrachten, bauten sie drinnen die ganze Bescherung auf. Viktor sah den Strahlenglanz der Weihnachtslichtchen durch die Scheiben schimmern – Bücher, Puppen, Baukasten, Spiele und glänzendes Soldatenzeug prangte unter den schwerbehangenen, lichtertragenden Zweigen.

Und weiter ging es und weiter.

Das ganze Städtchen war nun versorgt bis auf das letzte Haus, die in einem großen Garten stehende Schule.

»Hier müssen wir leise auftreten,« sagte der Weihnachtsmann; »es wird ein stilles Fest, denn zwei von den sieben lustigen Schelmen sind krank.«

Da hielt der Schlitten schon weit vom Hause still. Schneeflöckchen flog auf den Fußspitzen leicht und leis wie ein Hauch ins Haus, ebenso lautlos folgte ihr der Weihnachtsmann. Auch Viktor blieb diesmal nicht sitzen, sondern schlich seinen Freunden nach.

Da sah er in einem stillen Kämmerchen eine blasse Frau auf den Knieen liegen, zwei fieberheiße Köpfchen lugten zwischen weißen Kissen aus zwei kleinen Betten hervor. »Gesundheit!« flehte die Frau. »Kein anderes Christgeschenk, nur Gesundheit für die beiden armen Herzen!«

Und nebenan, in einem großen, gemütlichen Zimmer, saßen vier andere Kinder um einen runden Tisch und redeten davon, daß heute Weihnachten sei. »Ich habe den lieben Gott gebeten, daß er mir gar nichts schenkt,« sagte ein kleines Mädchen mit süßen, blauen Augen, »als nur – das Eine.« Die andern nickten. »Wir wollen auch nichts weiter haben,« sagten sie. »Höchstens einen tanz tleinen Pflaumentoffel,« meinte der kleine Junge mit wehmütigem Tränenstimmchen.

»Aber dafür bescheren wir den Eltern jetzt; nicht wahr?« fragte der blonde Große. Alle brachten nun ihre kleinen Arbeiten herbei, die Knaben schöne Sachen aus Pappe und Waldfrüchten, die Mädchen allerhand Gesticktes und Gestricktes.

Da fiel Viktor etwas Entsetzliches ein.

Er hatte unter Tantes Leitung ja auch ein schönes Kästchen für sein Mütterchen geklebt und dazu einen großen Wachsstock zum Siegeln für den Vater gekauft. Dies alles war in seinem Reiseköfferchen geblieben, und das Köfferchen lag samt den Butterbroten im Eisenbahnwagen!

Eine schreckliche Angst erfaßte ihn.

Wie sollte er wieder zu seinen Sachen gelangen? Wie sollte er überhaupt nach Hause kommen? Erst jetzt fiel es ihm ein, wie unvernünftig, wie unbegreiflich leichtsinnig er war.

Er lief am Haus entlang, um nach seinen beiden Gefährten zu suchen. Das Eckzimmer erstrahlte eben von hellem Licht; der Weihnachtsmann hatte den guten Kindern doch eine Bescherung aufgebaut, und daneben im Schlafstübchen stand Schneeflöckchen neben den kleinen Krankenbetten, legte ihre kalten Händchen auf die fieberheißen Stirnen und nickte und lächelte den Eltern zu:

»Seid getrost, der heilige Christ schickt mich, nun werden sie gesund!«

Gleich darauf kamen die beiden aus dem Haus und fanden den verzweifelten kleinen Burschen.

»Siehst du, siehst du?« sagte der Weihnachtsmann. »Warum folgst du nicht? Wir wollen einmal sehen, was sich tun läßt!«

Wieder sauste der Schlitten pfeilschnell davon.

»O bringt mich doch nach Grünau!« flehte Viktor in immer größerer Angst.

Aber die Fahrt ging auf ganz fremden Wegen über Berg und Tal, durch Dörfer und Städte, immer weiter und weiter. Eine heiße Sehnsucht nach zu Haus, nach Vater und Mutter stieg in Viktors Herzen auf.

Der Weihnachtsmann schien sein Flehen gar nicht zu hören.

Überall, vor jeder Hütte, jedem Haus, hielt der Schlitten still, – nur unglaublich kurze Zeit, aber doch schienen viele, viele Stunden vergangen zu sein während der raschen Fahrt.

Der Himmel wurde immer dunkler, goldene Sterne funkelten; überall, im ganzen Lande, läuteten die Glocken.

»Nach Hause! Nach Hause!« flehte Viktor jetzt mit Tränen in den Augen.

Sie waren wieder mitten im Walde, aber ein paar silberhelle, glitzernde Gleise führen mitten über die verschneite Straße. Sausend und pfauchend kam aus dem Walddunkel etwas daher, zwei glühende Augen flammten auf.

O Wunder – die Eisenbahn!

»Ja, ja, wir haben die Eisenbahn eingeholt,« sagte der Weihnachtsmann ganz ruhig, »da können wir ja wieder einsteigen!«

Der Schlitten hielt, und auch die Eisenbahn stand still.

Ehrerbietig öffnete der Schaffner den Schlag. Der Weihnachtsmann selbst nahm Viktor auf den Arm und setzte ihn, nicht gerade sanft, auf seinen Platz im Abteil nieder. Es schwindelte ihm, wie ohnmächtig schloß er die Augen.

Bis er sie wieder öffnete, sah er, daß auch der Weihnachtsmann und Schneeflöckchen eingeschlafen waren.

Ach, wie froh war er! Seine Reisetasche stand heil und ganz neben seinem Platz.

Eben tönte wieder ein langer, greller Pfiff – schon wieder hielt der Zug.

»Station Grünau!« hörte er rufen.

»Steigen Sie hier mit aus, Herr Weihnachtsmann?« fragte er höflich den Alten, der eben sehr langsam und verschlafen die Augen öffnete.

Ein seltsames, spöttisch-erstauntes Lächeln huschte über das welke Gesicht. Auch Schneeflöckchen war erwacht und sah Viktor mit fremden, verwunderten Augen an, als habe sie ihn nie vorher erblickt.

»Nein, mein lieber Kleiner,« sagte der Alte mit ganz merkwürdiger, fremder Betonung.

»So leben Sie wohl!« sprach Viktor mit einer putzigen, kleinen Verbeugung. »Mein liebes Schneeflöckchen, ich habe dir deinen dummen Witz nicht übel genommen! Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen heute abend!«

Er ärgerte sich. Das kleine Mädchen sah ihn noch immer so fremd und seltsam an. Doch zum Überlegen war keine Zeit.

Die Tür wurde aufgerissen. »Guten Abend, Junge!« rief sein Vater und hob ihn aus dem Wagen. –

Es war schrecklich, niemand wollte sein Erlebnis glauben.

Er habe geschlafen und geträumt, meinten sie alle und lachten ihn aus.

Er wußte gar nicht, wie er ihnen versichern sollte, daß alles wahr und wirklich so gewesen war, wie er es erzählte.

Leider sollte er sein Mütterchen, die während seiner ganzen Reise krank gewesen, vor dem Abend nicht sehen. Aber eine große Freude sollte er dann bei der Bescherung erleben. »Natürlich keine Puppe!« dachte er frohlockend.

Und doch – der Abend war da, – die Klingel tönte, wie ein Strom von Licht brach durch die geöffneten Fenstertüren der Kerzenglanz.

Klopfenden Herzens stürzte Viktor auf seinen Platz.

Da stand er still, – beschämt, bestürzt, außer sich, – ihm, einem »bald« neunjährigen Jungen, eine – – –

»Schatz, es ist ja eine lebendige!« rief ihm da auf einmal der Mutter liebe Stimme ins Ohr.

Nun ging er erst näher. Wahrhaftig, es zappelte, es rührte sich, das kleine Püppchen, das da im Spitzenbettchen mitten unter lauter Soldatenzeug im Schatten der aufgefrischten Festung auf einem Platz unter einem Baume lag.

»Ein Schwesterchen?« fragte er noch halb ängstlich mit leuchtenden Augen. Und als man es ihm bestätigte, meint er altklug:

»Na, und da will Papa die Geschichte mit dem Weihnachtsmann und Schneeflöckchen noch nicht glauben! Also so hat sie's gemeint! Na, so kann man sich die Geschichte ja gefallen lassen!«


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