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Der Zwerg

Ein Märchen

In einem rauschenden Gebirgswasser, das von felsiger Höhe in ein mit grünen Feldern und einem herrlichen Forst gesegnetes Tal herniederfloß, lag eine Mühle, ein stattlicher Bau mit gewaltigem Räderwerk, über welches das schäumende, geschäftige Wasser tagein, tagaus in tausend und abertausend funkelnden Tropfen herabstob. Ein freundliches Wohnhaus mit vorspringendem schattendem Dach, feste Stallgebäude, Scheunen, Gärten und Felder umgaben die Mühle, und alles das lachte und glänzte vor Wohlstand, Sauberkeit und Behagen.

Vor Jahren war das anders gewesen. Als der junge Müller die Mühle von seinem alten Vetter, bei dem er lange in Dienst gestanden, als Erbe überkam, war der ganze Besitz verwahrlost, ärmlich und klein, und obgleich der brave Mensch samt seinem jungen, tapferen Weibe aus allen Kräften schaffte und sich abmühte, es wollte lange, lange nicht vorwärts gehen. Nicht einmal einen Gesellen konnte er damals halten, und die Dorfleute, die ihn ob seines unfruchtbaren Fleißes ohnehin über die Achsel ansahen, konnten des Gespöttes kein Ende finden, als er eines Tages gar einen verwachsenen, häßlichen Zwerg als Mahlburschen ins Haus nahm, ein verschrumpftes, kinderschwaches Männchen, einzig wohl, weil er keinen Lohn nahm, wie die Spötter sagten.

Aber die Sache stand doch noch anders. Das arme, breitmäulige Geschöpf, das in der Tat einer Kröte ähnlicher als einem Menschen sah, hatte einst in der Dämmerung während eines strömenden Herbstregens und eines brausenden Sturmes an die Mühlentür geklopft und um Gottes Barmherzigkeit willen um ein Unterkommen gebeten. Der Müller saß gerade nach schwerer Tagesarbeit friedlich und fröhlich mit Weib und Kind beim geringen Mahl, und der Gegensatz zwischen der traulichen Wärme und Helle seines Stübchens und dem zitternden Elend des durchfrorenen, hungernden Kleinen war so groß, daß er das Herz nicht hatte, den abschreckenden Gast hinauszujagen. Als vollends das Kind, das gerade zahnte und ein wenig fieberte, über das lustige Gebaren des Zwerges, der die paar warmen Kartoffeln in drolliger Hast hinunterschlang, hellauf zu lachen begann, da bot er dem armen kleinen Wandersmann von selbst ein Nachtlager an; und der Gedanke, ihn als Mahlgesellen zu behalten, kam ihm mitten in der Nacht, als er, vom Kornaufschütten kommend, leise durch die Kammer schlich und im schwachen Schein der kleinen Blendlaterne den schlafenden Zwerg auf der trockenen, reinlichen Streu so dankbar schmunzeln, so friedlich und ruhig atmen sah.

Freilich hatte das kleine Geschöpf nur die Kräfte eines Kindes, es trug nur kleine Säcke und schüttelte nur mit kleinem Maß, aber wenn man es ein halbes Stündchen ohne Aufsicht hatte schaffen lassen, so wunderte man sich doch über die Menge Arbeit, die es fertig gebracht. Der Mann glaubte dann immer, die Frau, und die Frau meinte, der Mann habe dem Kleinen geholfen, aber keines fragte das andre, um es in seiner heimlichen Barmherzigkeit nicht zu stören. Womöglich ging jeder nur noch vergnügter und zuversichtlicher einher und lachte und sang noch fröhlicher bei dem harten Tagewerk. Dazu gedieh auch das Kind, das blonde Peterle, so gut. Seine Zähnchen kamen ihm ohne allen Schmerz glänzend wie blanke Perlen. Es lernte beinahe über Nacht laufen, und wenn es auch noch so eilig und froh über die neue Kunst durch die Stuben und Gänge der Mühle trippelte, so geschah ihm doch nie etwas Unrechtes, denn wo es nur irgend Gefahr geben konnte, stand jedesmal der Zwerg bei ihm und schützte und hütete es. Schon des Kindes wegen, das, noch nicht aufgeklärt über Schönheit und Häßlichkeit, an dem verschrumpften kleinen Wesen mit zärtlichster Liebe hing, gaben die Müllersleute den Gedanken, das häßliche Kerlchen jemals wieder fortzulassen, nach und nach ganz auf. Sie hatten übrigens zuletzt kaum mehr Zeit, darüber nachzudenken, ob das Zwerglein da war oder nicht, denn mit einem Male nahm das Geschäft einen merkwürdigen Aufschwung. Es kamen Bestellungen von nah und fern; das Korn auf dem eignen kleinen Felde strotzte von Körnern, so daß man Land dazu kaufen mußte, um reichlich aussäen zu können. In demselben Maße glückte der jungen Frau die Bestellung ihres Gärtchens und die Pflege ihrer paar Ziegen und Kühe; es mußten Knechte und Mägde ins Haus, ein neuer Flügel wurde an die Mühle gebaut, alles bar bezahlt, und doch war noch Geld übrig, um einen kleinen Sparschatz zu gründen, der bei einem Kaufmann in der Stadt niedergelegt wurde und dort mit Zins und Zinseszins und immer neuen Ersparnissen sich ebenso mehrte, wie der lebende, wachsende und blühende Besitz des Müllers.

Da, mitten im Glück und Gedeihen, traf die kleine Familie ein schwerer Schlag. Die sanfte, brave, fröhliche Müllerin legte sich hin und starb. Sie hatte im Scheiden dem Zwerg noch einen lieben Blick zugeworfen, auf das Peterle gedeutet, das ahnungslos mit Blumen spielend auf ihrem Bett saß, und gesagt: »Hüte und pflege es!« Dann hatte sie ihrem Manne die Hand gereicht und war entschlafen.

Nun folgte eine lange, bange, traurige Zeit für die Mühle. Das Rauschen und Tropfen des Wassers und das Stampfen der Räder, das man früher vor fröhlicher Geschäftigkeit nicht vernommen hatte, tönte jetzt schwermütig durch die Stille. Wie gut war es, daß wenigstens der Zwerg da war, der den Kopf nicht ganz verlor, der dem Kinde, wenn es nach seinem Mütterchen weinte, lustige Geschichten erzählte und die Nelken und Levkojen auf den Gartenbeeten und den Fenstersimsen pflegte, daß doch nicht alle Heiterkeit erstarb! Obgleich man es seinen schwachen Händen ja nicht zutrauen konnte, schien es doch, als ob er auch die Arbeit der Müllerin mit auf sich genommen, denn das Gesinde schaffte gewißlich nicht mehr als früher, und doch war alles imstande, blitzblank und sauber, wie es nur je gewesen war. Das Geschäft ging seinen Glücksgang weiter, und hätte der junge Müller sein liebliches Weib nur nicht so überaus gern gehabt, so hätte er nicht jahrelang so tiefsinnig und traurig zu sein brauchen. Es gab noch Schönes genug. Der Franzl, der Zwerg, suchte ihn auch, wo er konnte, auf heitere Gedanken zu bringen. Er schickte ihn geflissentlich in die Mahlstube, wenn irgend eine hübsche, brave Dirne etwas bestellen kam, damit er doch daran denke, sich wieder zu verheiraten. Er brachte die drolligsten Späße vor, was er früher nie getan hatte, ja, er schaffte sich, um Heiterkeit ins Haus zu bringen, einen gelehrigen Buchfinken an und lehrte ihn zu Peterles jubelnder Freude mit viel Mühe die Melodie eines hoffnungsfrohen Liedchens pfeifen, das die Müllersfrau immer gesungen hatte, und das mit den Worten anhob: »Liebe Seele, freue dich!« Das schmetterte das kluge Tierchen tagein, tagaus durch die stillen Stuben; aber der Müller, die treue Seele, schien das Freuen doch gar nicht wieder lernen zu können.

Endlich aber, nach Jahr und Tag, dauerte seine Witwerschaft den Vettern und Basen doch zu lange. Man redete ihm mit aller Macht zu, wieder eine Frau ins Haus zu bringen, und wußte vor allem viel von einer hübschen, reichen Bäuerin, einer Witwe, zu erzählen, die gewiß nicht nein sagen werde, wenn der Müller nur anklopfen wolle.

Um dem Geschwätz ein Ende zu machen, klopfte der Müller richtig eines Tages an, denn eine Wirtschaft ohne Frau, das glaubte er den Vettern und Basen, war wirklich nur eine halbe. Er bekam auch, wie vorauszusehen war, kein Nein, sondern die schöne Witwe richtete gleich alles zu einer prunkvollen Hochzeit ein, kaufte ihrem blonden Dirnlein rote Bänder für die lockigen Zöpfe, ein gesticktes Hemd und ein schönes Samtmieder. Es dauerte nicht vier Wochen, da hatte das Peterle, das damals sechs Jahre zählte, eine neue Mutter und ein kleines, lustiges, dralles Schwesterchen dazu.

Das letztere wollte er sich schon gefallen lassen, aber es war auch das einzige Hübsche und Liebe, was die Stiefmutter mit ins Haus brachte. Im übrigen teilte sie wenig Freude aus. Sie war stolz, unfreundlich und hoffärtig; wo die verstorbene Müllerin sanft gemahnt und gebeten hatte, da herrschte, schalt und befahl sie; hatte die Tote durch ihr liebliches Lächeln bezaubert, so versuchte jene es durch schöne Kleider und kostbaren Schmuck. Die Leute sollten wissen, daß sie eine reiche Frau war; die Mühle sollte noch weiter vergrößert und die Wohnräume mit neuem, prunkvollem Gerät versehen werden; alles Alte und Häßliche aber wurde verbannt und hinausgeworfen.

»Zuerst natürlich muß dieser abscheuliche Zwerg fort,« sagte sie, als sie ihre Musterung begann.

»Der Franzl?« riefen da der Mann und das Peterle wie aus einem Munde. Der Müller stellte ihr lächelnd vor, daß das häßliche Männlein mit der Zeit sehr gewinne und einem zuletzt ganz schön erscheine, so gut und freundlich sei es; das Peterle aber schrie laut auf und lief schnell hinaus, um den Freund seines Herzens aufzusuchen und an seinem Halse seinen großen Schrecken auszuschluchzen.

Aber weder des Müllers Vorstellungen noch Peterles Jammer halfen etwas. Sie fand den Zwerg widerlich und abscheulich, und der Zwerg mußte fort. Er packte still sein kleines Bündel, wies das Abschiedsgeschenk, das der Müller ihm anbot, freundlich ab, dankte ihm für alles Gute und ging, nachdem er von Peterle einen langen, herzbrechenden Abschied genommen hatte, arm und hilflos, wie er gekommen war, zum Tore hinaus.

»Du hast ja den Buchfinken, mein Junge,« war sein letztes tröstendes Wort. »Den behalte und pflege zum Andenken an mich. Und nun lebe wohl, und freue dich, liebe Seele!«

Damit winkte und lächelte er noch einmal zurück und war verschwunden. Zu spät fiel es der neuen Müllerin ein, daß sie ihn eigentlich erst so manches hätte fragen sollen. Er war kaum eine Stunde aus dem Hause, da fehlte er hier und dort. Die Leute wußten bei den einfachsten Dingen nicht genau Bescheid; es war eine Verwirrung, als sei plötzlich aus einer großen Maschine ein kleines, aber wichtiges Rädchen herausgefallen, auf dem doch das ganze Werk beruhte. »Ja, dies und das finden wir nicht!« – »Jenes finden wir nicht!« – »Das hat immer der Zwerg getan!« – sagten die Knechte und Mägde, wenn die Frau um dieses und jenes drängte und schalt. Es schien auf einmal, als habe das häßliche Geschöpf mit seinen armen, schwachen Händen still und lautlos den großen Haushalt besorgt. Einige der Leute, die fanden, das, was die Frau jetzt von ihnen verlange, sei viel zu viel, kündigten gleich den Dienst. Die neugeworbenen wurden aber erst recht nicht mit der Arbeit fertig; die Zahl der Dienstboten mußte vermehrt werden, und doch fehlte es an allen Ecken und Enden. Zum erstenmal, seit der Müller wirtschaftete, kam es vor, daß die Kunden nicht zur rechten Zeit ihre Ware erhielten, andern hatten die Knechte in der Verwirrung das Mehl falsch zugewogen, und es erhoben sich Anklagen wegen Übervorteilung und Betrugs. Der arme Müller war oft der Verzweiflung nahe. Er wehklagte und schalt, daß die Frau den Zwerg aus dem Hause geschickt, und sie höhnte und lachte dagegen, daß solch ein armseliger Tropf von Mann ohne das häßliche Gespenst nicht auszukommen wisse. Um der Unordnung und dem Ärger im Hause zu entgehen, fuhr sie am liebsten in schönstem Putz über Land, spielte vor den Leuten die reiche Frau, ließ Geld aufgehen und zeigte den Verwandten, daß es mit dem Ruf des Verkommens, der plötzlich über die Mühle hereingebrochen war, doch noch nicht so arg sei.

Aber daheim wurde es von Tag zu Tag schlimmer. Wie früher das Glück in reicher, goldener Fülle über die Wirtschaft hereingekommen war, so kam nun auch das Unglück in Menge. Zum Überfluß machte auch der Kaufmann Bankrott, dem der Müller seine Ersparnisse anvertraut hatte, und das gerade in einer Zeit, als der Müller eine große Summe zum Ankauf von Korn brauchte, da seine eigene Ernte durch die Saumseligkeit der Leute ein paar Tage zu lange auf dem Felde gestanden hatte und von einem Hagelwetter in Grund und Boden geschlagen worden war. Da mußte der unglückliche Mann zum erstenmal von fremden Leuten borgen, und damit hatte er dem Unglück vollends die Hand gereicht.

Und nun wurde auch noch das Peterle krank! Es war ein rätselhaftes, schleichendes Dahinsiechen, ein Erblassen und Welken ohne eigentlichen Grund, das über das Kind gekommen war. Fragte man es, was ihm eigentlich fehle, und was ihm weh tue, so sagte es: »Ich weiß nit! Wenn der Franzl nur da wäre!« Es aß und trank fast nichts und lächelte nur noch hie und da über sein liebliches Schwesterchen, das treu zu ihm hielt, und über den Buchfinken, der über all das Elend hinweg unverdrossen sein »Freue dich, liebe Seele!« in die Welt schmetterte.

Aber auch den Finken liebte der Junge bloß, weil er ihn an den Franz erinnerte, und vielleicht auch das Mägdlein nur, weil es nicht müde ward, von dem Franzl zu hören. Dem Kinde zuliebe fand der Müller endlich Mut, das zu tun, was er aus Scham vor seiner Frau immer noch unterlassen hatte: er sandte Boten nach allen Richtungen in die Welt und ließ nach dem Zwerge forschen. Aber niemand hatte den kleinen Wandersmann gesehen und niemand etwas von ihm gehört. Nur ein Bübchen meinte, es hätte ihn, da er aus der Mühle Abschied genommen, mit seinem Bündel in den Wald einbiegen sehen. Aber das Bübchen war als Schwätzer bekannt, und der Wald, den er meinte, breitete sich endlos weit, mit verworrenen Pfaden und Stegen über die Berge aus, so daß an ein Wiederfinden auch nicht zu denken war.

Indessen machte die Hast und Unruhe, das ziellose Suchen und Ängsten, das über den Müller gekommen war, die Leute immer mißtrauischer, so daß zuletzt keiner mehr Lust hatte, sein Korn in der verwahrlosten Mühle mahlen zu lassen oder dort Mehl zu kaufen. Die fleißigen Räder standen tagelang still und die geduldigen Mülleresel hatten gute Tage, weilten im Stall oder köpften unter verständnisvollem »I – a! I – a!« auf der Weide die Disteln. Der Müller saß an solchen unfreiwilligen Rasttagen mit gefalteten Händen, tiefgebeugt, bleich und in Sinnen verloren in der Stube und dachte über sein Schicksal nach. Manchmal, wenn die Frau ihn so verzweifelt sah, war ihr's wohl, als rühre ihr eine Hand ans Herz, und als mahne sie eine Stimme, den Mann zu trösten und selbst im Hause mit Hand anzulegen zum Besserwerden, aber die Hoffart und der Leichtsinn waren stärker als die guten Regungen, und so fuhr sie fort, den Armen zu verspotten und, so gut es noch gehen wollte, in Putz und Lustbarkeit Trost für das Elend des Hauses zu suchen. – So schritt das Schicksal seinen Gang weiter; das Mühlrad stand bald ganz und die Schulden und die Not wuchsen wie das Moos auf den Speichen der Räder. Unerbittlich forderten die Gläubiger jetzt ihr Recht, und es kam der Tag, wo die Mühle verkauft werden mußte, um sie zu befriedigen.

Eine unheimliche, schwüle Stille lag am Nachmittag vor jenem letzten traurigen Ereignis über dem sonst so lauten, fröhlichen Besitz. Verweinten Auges schlichen die letzten treuen Mägde umher, schnürten ihre Bündel und pflückten sich noch ein paar rote Nelken aus dem verwilderten Gärtchen zur Erinnerung. Auch die Müllerin hatte ihr Hab und Gut gepackt; sie wollte mit dem Mägdlein in die Heimat zurückkehren und den Mann und den blassen Buben, die ja von morgen an nichts als Bettler waren, ihrem Schicksal überlassen. Aber obgleich ihrer Abreise nichts im Wege stand und auch der Wagen ihres Bruders schon im Wirtshaus wartete, um sie heimzuholen, fand sie doch nicht den Mut, dem verzweifelten Manne Lebewohl zu sagen und die Kinder, die sich wie zur Abwehr gegen ein schweres Leid fest aneinander geklammert hatten, auseinander zu reißen. So saßen sie alle schweigend in der großen Stube, der Mann mit seinem tiefen Schmerz, die Frau mit heimlicher Reue und Scham kämpfend; keiner fand ein Wort, und nur der Buchfink pfiff: »Liebe Seele, freue dich, freue dich!«

»Mußt du auch den Buchfinken den fremden Leuten lassen?« rief das Dirnlein auf einmal erschrocken.

Die blassen Wangen des Buben überzog eine feine Röte. »Den Buchfinken?« rief er. »Nein, den lasse ich nicht, den lasse ich nicht!« Wild und weinend, als ob man ihm sein liebes Eigentum schon bedrohe, sprang er auf und riß das kleine Bauer vom Nagel. Dabei brachen ein paar Stäbe vom Gitter, und ehe der Junge es hindern konnte, flog der Fink mit einem aufjauchzenden »Freue dich! Freue dich!« durchs offenstehende Fenster ins Blaue hinaus.

Da kam auf einmal Leben und Bewegung in die schweigenden, finster sinnenden Menschen. Der Peterle weinte und wehklagte so laut, und sein Schwesterchen stand ihm so treulich mit Zeterschreien bei, daß die beiden Müllersleute ihr eigenes großes Unglück vergaßen und nur vereint bemüht waren, die Kinder zu trösten. Alle vier liefen vor das Tor und sahen dem Flüchtling nach, der sich von Baum zu Baum schwang und dann mit flatternden Flügeln, schlank und zierlich und immer sein »Freue dich!« flötend, nach dem Walde zu schwebte.

»Lauft ihm nach!« rief die Frau, die froh war, etwas gefunden zu haben, um die schreienden Kinder zu zerstreuen und zugleich das Trennungswort, das ihr immer schwerer wurde, noch hinauszuschieben.

»Nein, reitet ihm nach!« rief der Müller, der, um die Kleinsten zu trösten, einen Anflug seiner alten Laune wiederfand. »Die Esel stehen im Stall, heute sind sie noch unser. Es ist so wie so der letzte Spaß, den ihr armen Tröpfe zusammen habt.«

Und während die Frau und die Kinder das Vöglein im Auge behielten, eilte der Mann, den Schmerz vergessend, nach dem Stall und zäumte das munterste Grauchen mit dem gelbledernen Riemenzeug, das noch aus den guten Tagen des Zwerges her in Peterles Besitz war. Dann hob er die beiden Blondköpfe auf das friedliche Reittier, gab dem Buben Zaum und Gerte in die Hand und ermahnte die Kleine, ihre Händchen nur ja recht fest um das Peterle zu schlingen.

Flink ging der Ritt dann zum Mühlentor hinaus dem Walde zu, immer dem Vöglein nach, das sich nun erst, da es sich verfolgt sah, in lustige Bewegung zu setzen schien. Bald verschwanden alle, Fink und Reiter, vor den Augen der Müllersleute im Waldesgrün.

Hoch und hehr breitete sich das rauschende, durchsonnte Laubdach der Buchen über den Kindern aus. Das »Freue dich, freue dich!« des Vogels, der immer in geringer Entfernung vor ihnen herflog, klang auf einmal so verheißungsvoll durch den grünen Wald, die Sommerblumen nickten, und die Wellen des Quellchens tanzten neben ihnen her. Wie waren sie doch eben noch so verzagt gewesen! Warum denn nur? – Konnten sie nicht den Finken noch wieder fangen? Konnte nicht alles noch gut werden?

Immer lustiger trabte der Esel zu, immer weiter und weiter auf unbekannten, dicht umwucherten Pfaden ging's in die grüne Wildnis hinein. Jetzt saß der Buchfink dicht vor ihnen auf einer schwankenden Staude, sie meinten, nur die Hand ausstrecken zu dürfen, um ihn zu fangen – aber doch flog er wieder auf, tanzte und zwitscherte vor ihnen her und lockte sie stundenweit in die schweigende Einsamkeit.

Da endlich kam etwas wie eine heimliche bange Angst über die Kinder. »Werden wir auch den Rückweg finden?« fragte der Knabe. Jetzt eben saß der Vogel dicht am Boden vor ihnen; sie sprangen vom Rücken ihres grauen Reittieres ab, um ihn zu haschen, aber seltsam, da flog auch über ihnen ein buntfiedriger Sänger auf und pfiff: »Liebe Seele, freue dich, freue dich!« Und da rechts, hoch im Grün, pfiff es wahrhaftig ein dritter.

»Wir wollen nach Hause,« bat die Kleine, der es immer unheimlicher wurde. Die Kinder stiegen wieder auf und lenkten den Esel zurück. Aber wohin? Woher waren sie doch gekommen? Seltsam strahlend flammte das Abendrot durch die Zweige, alles war so fremd und so schön! Große, prächtige Waldblumen, duftend und bunt, wie sie solche nie gesehen, ragten wie farbige Kerzen aus dem moosigen Grün; dazu klang dieses seltsame, melodische Vogelsingen, dieses »Freue dich! Freue dich!« – überall, wahrhaftig nicht nur dreimal, nein zehnmal, hundertmal – von allen Zweigen.

Ein Schauer ging durch der Kinder Herz. Ihre Augen standen voll Tränen, und doch lächelten sie sich an, als müsse jetzt ein großes Glück zu ihnen herniederkommen.

Und da, als sie nun den Esel nach der Lichtung hinlenkten, von der es wie silbernes Licht in die grüngoldene Dämmerung hereinfloß, sahen sie sich plötzlich einer Höhle aus weißflimmerndem Gestein gegenüber, um die eine Linde ihren zitternden Schatten wob. Auf den Lindenzweigen saßen ganze Scharen von Vöglein aneinander gereiht wie Kinder in der Schulstube, dieselbe Weise singend. Vor ihnen aber am Eingang der Höhle, kaum einige Fuß über dem Boden derselben gelegen, auf einem schwebenden Brette thronend, einen wilden Rosenzweig als Taktstock schwingend, gemütlich, weltvergessen und voll Behagen, saß ein seltsames Geschöpf, das mit seiner verschrumpften Häßlichkeit ganz und gar nicht in diese Waldespracht passen wollte.

Das Mädchen, das es zuerst wahrgenommen, schrie erschrocken auf, aber dem Peterle floß es wie Rosenlicht über das blasse, abgemagerte Gesicht.

»Franzl! Franzl!« rief er in heller Freude. »Liebes, liebes Franzl! Endlich haben wir dich!«

Das war ein seliges Wiedersehen! Der Zwerg tat erst ein bißchen fremd und scheu und sah dem Knaben prüfend ins Gesicht, ob er auch noch der alte treue Junge sei, aber die aufrichtige Freude, die ehrlichen Tränen auf den blassen Wangen des Bübchens ließen keinen Zweifel zu. Gerührt und zutraulich setzte sich der Kleine neben die Kinder ins Gras und ließ sich berichten, was sie daher in sein Versteck gelockt, und wie es daheim ginge.

Weinend erzählte das Peterle von all seinem Leid, seiner Sehnsucht nach ihm und all dem Unglück, das über die Mühle hereingebrochen.

»Ja, das ist bös!« sagte der Zwerg hüstelnd. »Ich sag' es längst, die Menschen sind schlimm – schlimm – schlimm – nur wenige anders! Lebe darum jetzt auch ganz hier im Wald nur mit Vögeln. Die tun einem häßlichen Geschöpf nichts zuleide. Wißt, bleibt ihr auch ganz hier bei mir! Die Höhle hat Platz für uns drei, sie ist warm mit Moos ausgepolstert, und ihr sollt es gut haben.«

Der Zwerg

Der Zwerg.

»Nein, nein, das geht nicht!« rief das Peterle. »Den Vater kann ich nimmer im Stich lassen in dieser Not. Ach, wenn du mit uns gingest, dann würde gewiß alles wieder gut!«

Davon aber wollte der Zwerg nichts wissen. »Die Menschen sind schlimm, schlimm!« murrte er mit nachdenklichem Gesicht. Als aber das Büblein bat und bat und auch die kleine Dirne mit ihrem schmeichelnden Stimmchen zu flehen anfing, wurde er weich und meinte endlich: »Nun ja, Kinder, wenn mich der Rechte abholt, mag es sein!« Die Vögel schmetterten bei diesem Worte lustig um ihn her.

Darauf zeigte er – und schmunzelte behaglich dabei – den Weg nach Haus, und sie wunderten sich beim Weiterwandern, daß es ein ganz naher, oft begangener Holzweg war, auf dem sie, von einer andern Seite herkommend, schon oft ins Dorf gelangt waren.

Atemlos kamen die Kinder heim, und ihre Nachricht brach wie ein heller Sonnenstrahl in die Schwüle und das Schweigen, das auf der Mühle lastete. Der Müller faltete die Hände wie im Gebet, und die Müllerin nickte zustimmend. Auch über sie kam ein neues Hoffen. Der Mann machte sich sogleich auf den Weg, um den einst so schnöde Vertriebenen mit allen Ehren wieder heimzuholen.

»Wenn wir morgen auch alles verlieren, ist der treue Geselle nur bei uns, so hoffe ich noch einmal von vorn beginnen zu können und mir und den Meinen den ehrlichen Namen zu retten. Ach, wenn sie uns nur die Mühle lassen wollten!« sagte er und ging.

Als er fort war, schickte die Müllerin des Bruders Wagen heim. Sie wolle nun doch noch ausharren, wo eigentlich ihr Platz wäre, ließ sie ihm sagen. Daß das Glück des Hauses in irgend einer geheimnisvollen Weise mit der Anwesenheit des Zwerges zusammenhing, stand auch bei ihr lange im stillen fest, wenn sie es auch laut nicht zugeben wollte. »Ich brauche ja nie ein Wort mit ihm zu reden und ihn nie anzusehen, wenn er nur da ist,« dachte sie. »Meine schlimmsten Fehler will ich schon lassen, wenn's nur einmal wieder bergauf geht. Ich will meinem Mann gewiß zuliebe leben und den Zwerg zu ertragen suchen.«

So war sie mit dem Gedanken an den neuen Hausgenossen im stillen ausgesöhnt und erschrak fast ebenso sehr wie die Kinder, als der Müller in später Abendstunde wieder heimkam und verkündete, er habe wohl den Zwerg getrosten, der lieb und freundlich zu ihm gewesen sei, aber mitkommen habe er nicht wollen. Er sei der Rechte nicht, der ihn holen müsse.

»So will ich,« rief die Müllerin halb im Spott und Zorn, »dem Grundbauern meinen letzten Schmuck verpfänden, daß er uns Wagen und Pferde borgt, um den hohen Herrn zu holen. Das wird ihm wohl der Ehre genug sein!«

Und so fuhr in sinkender Nacht mit Fackeln und Laternen wirklich der Staatswagen des reichsten Bauern den Holzweg entlang, und der Müller versuchte noch einmal sein Glück. Aber der Zwerg kam auch diesmal nicht mit ihm.

»Wenn du ihn bitten wolltest, du wärest gewiß die Rechte,« sagte der Müller verzweifelt zu seinem Weibe, als er wieder unverrichteter Sache heimkam. Aber die Frau trotzte, weinte und schwieg und konnte sich zu der Demütigung vor dem Kleinen nicht entschließen, bis am frühen Morgen des andern Tages der Büttel mit den Gläubigern in der Mühle erschien – da erst brach der schmerzliche Wehelaut, mit dem der arme Müller sein Geschick empfing, ihren starren Sinn.

»Wartet noch eine Stunde mit der Versteigerung, bis ich zurückkomme!« bat sie in ihrer Verzweiflung den Büttel, den sie aus guten Tagen her kannte, und lief aus dem Hause dem Walde zu. Der Büttel brummte zwar arg, aber er versprach doch noch eine Stunde zu warten.

Was die Müllerin dort im Walde mit dem Zwerge gesprochen, hat nie ein Mensch erfahren. Aber jedenfalls mußte sie die Rechte gewesen sein, die das Männchen gemeint, denn sie brachte den Retter wirklich mit heim.

Im Augenblick, da die Versteigerung eben beginnen sollte, trat sie mit dem Zwerg in die Stube ein. Alle schauten erstaunt und schier spöttisch auf den Kleinen. Aber dieser trat ernst grüßend an den Tisch, holte ein winzig kleines Beutelchen hervor, das voller Kinder- oder Zahlpfennige zu sein schien, und merkwürdig, aus dem kleinen Beutel holte der Kleine nach und nach eine Menge harter, blanker Silbertaler hervor, und immer mehr und mehr, bis der ganze Tisch mit Silber bedeckt war und er alles gezahlt hatte, was der Müller dem reichen Mann schuldete.

Während dieses Wunder zum Staunen aller Anwesenden geschah, sah der Müller mit großen, von Tränen glänzenden Blicken nur auf sein Weib. Der Kleine mußte ihr mit wunderbaren Worten Herz und Gewissen verwandelt haben, denn sie sah zwar bleich, aber mild und fromm darein. Auf ihrem schönen Gesicht stand der ernste Entschluß geschrieben: »Es soll besser werden mit mir!«

Und von Stund an ward wirklich alles besser in der Mühle. Der Zwerg blieb wieder bei ihnen, und Rührigkeit, Ordnung und frommer Sinn wohnten aufs neue unter dem alten, traulichen Dache. Die Kunden von früher kamen nach und nach wieder; das Peterle blühte auf, und statt des einen entkommenen Buchfinken kamen täglich Hunderte vom Walde herübergeflogen, um ihren entschwundenen Freund zu grüßen. Das war ein Gezwitscher, ein Pfeifen und Flöten um das neu aufblühende Glück in der Mühle:

»Liebe Seele, freue dich, freue dich!«


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