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Die Frau Geheimrätin und der Hans

Seit zwei Tagen bewohnte sie ihre neue, schöne Wohnung mit den vier hellen, großen Zimmern und dem schönen Balkon nach der breiten, mit den herrlichsten alten Bäumen bepflanzten Lindenstraße hinaus, die alte, silberhaarige Frau. Das blanke, blitzende Namensschild an der Vorsaaltür sagte den Bewohnern des Hauses, daß sie eine Frau Geheimrätin sei und den Namen »von Werbelin« führe.

Der Hansel oben, der zwölfjährige Älteste in der Jungenpension des Herrn Doktor Elbert, behauptete, das klinge sehr stolz. Alle seine Bleisoldaten bekamen von ihm Namen, und den schneidigsten blauen Gardeleutnant auf schwarzem Rosse nannte er nun nach dem Beispiel des blitzenden Messingschildes im unteren Stock sofort Oberleutnant von Werbelin.

Hätte die alte Dame diese Ehre geahnt! Sie saß, die feinen Hände ringend, in großer Betrübnis, ja sogar in Tränen in ihrem schönen, behaglichen Wohnzimmer auf dem Fensterplatze. Marlene, ihr ältliches Dienstmädchen, hatte ihr eben auf einer blanken, silbernen Platte den Nachmittagskaffee auf den Nähtisch vor dem behaglichen Ruhestuhl gestellt. Aber die alte Dame sah zunächst den schwarzen Trank und hierauf ihre alte, treue Dienerin trostlos an.

»Ich trinke nicht! Wie sollte ich denn? Keinen Augenblick Schlaf haben meine Augen gefunden! Mein Kopf zerspringt noch vor Schmerzen! O hören Sie doch, Marlene!« rief sie aus.

Gleich darauf fuhr sie zitternd zusammen unter einem gewaltigen Knall, der eben ihr zu Häupten ertönte. Lautes Getrampel, Gepolter, Rufen, Schreien und ein zweiter Knall folgte. Ein schweres Rollen und ein eigentümliches dumpfes, halb donnerndes, halb walzendes Geräusch ließ sich darauf hören.

Die Frau Geheimrätin schrie: »O, o, es ist entsetzlich!« und hielt sich, ihren Tränen freien Lauf lassend, mit beiden Händen die Ohren zu. Unter Banditen sei sie ja hier gekommen, jammerte sie, in ein Haus mit Raub und Mord und Totschlag! Und sie sei doch so schwach und matt und alt und habe geglaubt, ein feines, ruhiges Haus zu beziehen, ihre Ruhe, ihren Frieden zu haben.

Ob sie nicht hinaufgehen und Ruhe gebieten solle, fragte Marlene teilnahmsvoll.

Die Frau Geheimrätin erwiderte, sie ängstlich und unsicher ansehend: »Zu diesen Banditen?«

Sie glaubte natürlich selbst, sie übertreibe. Für wirkliche Räuber, was man ja doch unter Banditen versteht, hielt sie die Leute über ihr nicht. Hätte sie aber einen Blick hinaufwerfen können, wie hätte sie dann gestaunt!

Es stimmte nämlich. Eine Räuberbande, braune Männer mit weißen Mänteln, von denen ein Zipfelende als Kapuze über den Kopf gezogen worden, war eben aus einem Felsentor herausgebrochen, um eine Karawane zu überfallen. Sie waren mit Flinten bewaffnet, einer von ihnen mit einer Pistole. Dieser war der Anführer. Er hatte blitzend weiße Zähne, kohlschwarze, aber eigentlich liebe, fröhlich und ehrlich blickende Augen und sprang eben von einem weiß und schwarz gescheckten Gaul herab, auf dem er in wuchtigem Ritte dahergesaust war.

»Halt!« riefen die Räuber der arglosen Karawane entgegen und ließen ihre Waffen, die absonderlich scharf geladen waren, gegen die Decke des Zimmers knallen. In die Karawane fuhr ein wirres Durcheinander, ein toller Schrecken. Männer und Weiber sprangen schreiend von ihren Kamelen. Erstere traten den Räubern mit Flinten und Säbeln entgegen, letztere fielen dem Hauptmann zu Füßen und hielten ihre vielen kleinen Kinder, die sie, in bunte Tücher eingehüllt, mit sich geführt, um sein Herz zu rühren, hoch empor.

Der Räuberhauptmann aber schien überhaupt kein Herz zu haben. Streng und ernst gebot er den Überfallenen, entweder sofort alle Waren abzuliefern, die die Kamele trugen, oder – –

Mit einer großartigen, drohenden Handbewegung wies er in der Reihe herum auf die armen, kleinen Kinder. Die Frauen kreischten laut auf.

»Gebt ihnen die Waren! Nie und nimmer trennen wir uns von unsern geliebten Kleinen!« schrieen sie ihren mit den Räubern verhandelnden Männern zu.

Darauf rief eine Stimme aus der Mitte der Karawane düster: »Es sei!« Vereint begab man sich zu den Kamelen, von deren Rücken man die Säcke lud. Gold, Reis, Getreide war deren Inhalt, wie die Kaufleute den Feinden angaben. Die Räuber schmunzelten, nachdem sie sich durch rasche Blicke von der Wahrheit der Behauptungen überzeugt hatten.

»Forttragen!« kommandierte der Hauptmann den Seinen. Da aber glänzten die Augen der Kaufleute und Weiber plötzlich in freudigem Entzücken.

»Seht, Jussuff!« schrieen sie und deuteten nach dem Tore, an das Abdel Said, der Hauptmann, vorhin sein scheckiges Roß festgebunden hatte. O Freude, Triumph!

Jussuff, einer der Reisenden, war, während die andern verhandelten, mit Schleichschritten an das Tier herangekommen, hatte es losgebunden, saß nun stolz auf dessen Rücken, brachte es mit kühnem Schwunge in wilden Trab und gab ihm dann unter dem Hallogeschrei der herbeistürzenden Räuber einen gewaltigen Ruck, um durch das Felsentor zu entfliehen.

Da geschah wieder etwas unerwartet Schreckliches. Das Felsentor, an welches das wilde Wüstenroß beim Ausgreifen mit dem Knie des gebogenen Vorderfußes gestoßen hatte, brach zusammen und fiel vollständig ein. Viele braune Kartons, eine Gardinenstange, eine alte, graue Tischdecke, ein hölzerner Baukasten, Zigarrenkistchen und ein paar Blumentöpfe purzelten mit lautem Krachen durcheinander, wodurch das Geschrei von Freund und Feind in vereinigtem Chor noch übertönt wurde. Und dazu tummelte der Pferdedieb, nur noch übermütiger gestimmt, immer toller sein Wüstenroß. Die Kaufleute hatten frischen Mut geschöpft und rauften mit den Räubern um ihre Säcke, die Frauen tanzten mit ihren Kindern, einige schwangen sich schon auf die Kamele, als plötzlich wie ein Ton aus einer andern Welt ein lauter, gellender Klingelruf durch den Tumult klang.

»Kann das schon der Vater sein? Die Mutter?« sagte einer der Räuber und schaute seine Kameraden verdutzt an.

Ein andrer schrie: »Oho, doch gar keine Idee!«

Aber alles stutzte doch und lauschte. Eine laute, sehr heftige, gellende Stimme wurde draußen laut. »Die Frau Geheimrätin!« hörte man wiederholt sagen. Und Lottens, des Dienstmädchens, Stimme rief schadenfroh:

»Ja, ja, sagen Sie's den Kindern nur einmal selber. Ich hab's ihnen ja gesagt, sie sollen leise spielen, aber die folgen ja nicht! Unsre gnädige Frau hat müssen zum Arzt gehen, und der Herr ist auf den Bahnhof gegangen, weil ein neuer Pensionär kommt. Ich putzte in der Hinterstube die Fenster.«

Da riß es auch schon die Tür auf, zwei weibliche Gestalten mit großen, weißen Schürzen und hübsch gefälteten Köchinnenhäubchen auf dem glattgescheitelten Haare standen mitten in der Wüste, unter Kamelen, Säcken, Kaufleuten, Weibern, Räubern, und den Trümmern des eingefallenen Tores. Die eine schlug nur immer die Hände über dem Kopf zusammen und rief: »Nein, so eine Wirtschaft! Das soll leise gespielt sein!« Die andre aber, dieselbe, die vorhin unten den Kaffee auf der kleinen, schönen Silberplatte in das Zimmer der Frau Geheimrätin gebracht, sprach deutlicher. »So etwas ist doch einfach nicht zu glauben!« wehklagte sie. »Man denkt unten, die Decke kommt herunter! So ein Gerumpel, Donnern und Krachen! Auf die Polizei sollte die Frau Geheimrätin schicken, denn was zu toll ist, ist zu toll! So eine alte, schwache Dame, die überhaupt keinen Lärm hören kann! – – Nun, wir werden uns jetzt schon zu hüten wissen, nun uns bekannt ist, woher der Trubel stammt!«

»Da habt ihr's!« sagte Lotte, das Hausmädchen.

Mit einem Blick, der Schlimmes verhieß, war die andre hinausgerauscht. Nun war einen Augenblick Totenstille in der Wüste. Blaß, starr, verschüchtert und ratlos sahen Männer und Weiber einander an.

Da riß der Räuberhauptmann plötzlich mit einem Ausdruck frischfröhlicher Entschlossenheit seinen weißen Burnus, der aus einem Betttuch bestand, vom Leibe. Ein kräftiger, schlanker Junge in blau und weiß gestreifter Flanellbluse und kurzen, blauen Pumphosen kam unter dem Wüstengewande zum Vorschein. Und dieser schlanke, sonnengebräunte Blusenmensch lachte, daß seine schöngeputzten, schneeweißen Zähne aus dem sonnengebräunten Gesichte nur so blitzten.

»O Kinder, nun steht doch nicht da wie die Sphinxe, oder wie die steinernen Wüstengeschöpfe heißen! So schlimm ist die Sache doch nicht! Wir haben einfach froh und fein gespielt. Daß das unten so stören könnte, das haben wir doch nicht geahnt.

Die Frau Geheimrätin und der Hans

Die Frau Geheimrätin und der Hans.

Das dumme Tor! Das war das Hauptgerumpel! Ich dachte, es stände wirklich felsenfest. Nun – geschehen ist geschehen! Jetzt zieht euch aus! Räumt auf! Dann gehen Bruno, Walter, ich und Else, wir vier Ältesten, einfach hinunter zur Frau Geheimrätin – nein, doch lieber wir alle neun! – und sagen, wir haben nur ein bißchen Beduinen und einen kleinen Karawanenüberfall gespielt, und entschuldigen uns höflich. Die Köpfe abreißen kann sie uns nicht. Lotte, Sie brauchen wirklich gar nicht weiter zu zanken! Wir räumen die Kamelhaardecken und die Betttücher ganz glatt in die Betten, stellen die Stühle an ihren Platz und die Kartons in die Kammer. Ihre Säcke räumen wir auch sofort wieder in die Speisekammer. Bitte, brummen Sie nicht! Es ist ihnen nichts geschehen, keine Graupe und keine Erbse fehlt.«

Bei diesen letzten Worten wurde Fräulein Lotte, die Hocherzürnte, aus den guten, kohlschwarzen Jungenaugen so ehrlich und freundlich angeschaut, daß sie auch wirklich das Zanken ließ.

»Ein toller Junge, man muß ihm aber doch gut sein!« vertraute sie ein paar Minuten später dem Fensterleder an, mit dem sie in der Hinterstube die Fensterscheiben wieder glatt rumpelte. »Der liebste von allen ist er einem doch!«

Der tätigste und rascheste unter den Spielgenossen, die sich nun nach und nach alle aus ihren Betttuchmänteln und bunten Tüchern herausschälten, schien er jedenfalls zu sein, dieser schwarzäugige Hans. Das ganze Spiel hatte er vorhin angegeben, den Bau des Tors hatte er vollführt; aus Stühlen und Schlummerkissen und hellbraunen Decken hatte er einen langen Zug von Wüstenkamelen hergestellt. Und nun löste er den ganzen Zauber ebenso geschwind in seine Bestandteile auf und fing an, alles wieder aufzuräumen.

»Bruno! Walter! Hier, angefaßt! Tragt jeder, bitte, zwei Säcke! Ich nehme diese drei!« gebot er seinen Kameraden, »Heinz und Fritz, ihr wascht euch vor allem das Braune von den Gesichtern herunter! Ihr Mädel auch! Dann alle Decken und Betttücher her! Elschen, du und ich, wir machen die Betten, die Lütten (darunter verstand er die drei kleineren blondlockigen Mädchen) räumen inzwischen die Puppen, Verzeihung, die Kinder an Ort und Stelle!«

Es war fein, wie die ganze kleine Bande dem Hansel ohne Widerrede freudig und gern gehorchte. Im Tone seiner hellen, frohen und freundlichen Stimme lag wohl das Zwingende, auch in seinem eignen Ordnungssinne, seiner eignen Tüchtigkeit. Ganz genau an seinen früheren Platz mußte jedes Ding kommen. Die elfjährige Else fand mit Bewunderung, daß der Hans sogar die Betten glatter und besser in Ordnung zu bringen verstand als sie. Auch ohne Räuber zu sein, war und blieb er offenbar ein Hauptmann und Befehlshaber in dem Kreise seiner Kameraden und Pflegegeschwister. Das sah man auch an dem Blicke, den er Bruno zuwarf, als dieser nach beendetem Aufräumen ihn leise fragte: »Du, Hans, kann ich nicht oben bleiben, wenn ihr hinuntergeht zur Geheimrätin?«

Hansels Blick antwortete klar und deutlich: »Nein, du kommst mit! Es gibt kein Sichdrücken! Feigling, du!«

Sie hatten alle ein bißchen Angst vor dem Gange, Walter und Else, und die Kleinen sagten es nur nicht; aber sie bewunderten Hans, der, nachdem er sich gewaschen und glatt gebürstet, so zuversichtlich sagen konnte: »Na, nun kommt!« dann vor ihnen her ohne Zögern und Besinnen die Treppe hinuntersprang, drei Stufen auf einmal, flott und keck unten klingelte und die noch von vorhin schrecklich bös aussehende Marlene mit heller, klarer Stimme gar freundlich fragte: »Ist wohl Frau Geheimrätin zu sprechen? Wir wollten uns entschuldigen, daß wir vorher solchen Radau gemacht haben.«

Die Frau Geheimrätin fuhr erst ganz erschrocken und aufgeregt auf ihrem Ruhestuhle in die Höhe, als Marlene ihr die Meldung brachte, die Kinder von oben seien da.

»Nein, nein,« sagte sie ängstlich; »wohin denken Sie, Marlene! Unmöglich kann ich diese wilden Kinder empfangen! Dazu bin ich doch viel zu matt und schwach!«

War es nun, weil sich draußen auch nicht der leiseste Ton von Wildheit hören ließ, oder weil die alte Frau vorhin beim Klange der hellen Jungenstimmen an eine ferne, glückliche Zeit denken mußte, in der ein paar so frohe, gute Stimmen um sie her getönt hatten? Die eine davon war längst verstummt. Mit dreizehn Jahren war ihr geliebter Ältester gestorben. Ihr zweiter Sohn war ein ernster, einsamer Gelehrter geworden, der jetzt in fernem Lande weilte. Vielleicht kam auch plötzlich etwas Mut in die Seele der alten Frau. Nicht aus Laune hatte sie so schmerzlich geklagt über den Lärm. Sie hatte viel durchgemacht im Leben, fühlte sich wirklich so recht angegriffen, schwach und alt. Der Gedanke, wieder aus der hübschen, neu eingeräumten Wohnung auszuziehen, war ihr furchtbar, jeder Lärm aber einfach unerträglich. Es war ihr vorhin immer zumute gewesen, als müsse sie die wilden Räuber da oben flehen und bitten: »Habt doch Erbarmen!« Nun waren diese Räuber tollende Kinder gewesen und kamen jetzt selbst zu ihr!

Ja, ja – und wenn es sie auch einen schweren Entschluß kostete – sie wollte sie doch selbst sprechen, wollte ihnen sagen, daß sie Rücksicht nehmen sollten auf eine alte, müde Frau.

*

Marlene öffnete die Tür. »Ihr dürft hereinkommen!« Und sie traten ein.

Der Hansel als Ältester schritt vornweg und verbeugte sich tief vor der Frau Geheimrätin. Dann kamen hinter ihm noch vier Jungen, dann Else im langen, blonden Zopfe und hinter ihr noch drei ihr im Aussehen gleichende kleinere Mädchen, eins immer genau um einen halben Kopf kleiner als das andere, alle vier in ausgeschnittenen, roten Kleidern, die beiden kleinsten mit offenem, lockigem Haar, das wie gesponnenes Gold um die kleinen, rosigen Gesichter stand.

Die Frau Geheimrätin mußte beim Anblick des unerwartet langen Zuges, der sich nach vier Verbeugungen und vier Knicksen vor ihr aufstellte, laut lachen.

Da fing auch der Hansel auf einmal ganz ungeniert zu lachen an. Er merkte, daß der alten Dame seine Mannschaft gefiel, und mit väterlichem Stolze musterte er sie selbst. Frank und frei, ohne eine Spur von Angst sah er dann mit seinen kohlschwarzen Augen die Frau Geheimrätin an.

»Wir wollten uns entschuldigen,« sagte er. »Bitte, verzeihen Sie uns doch, daß wir so laut waren! Wir haben gestern im zoologischen Garten die Beduinen gesehen; die führten die Beraubung einer Karawane auf. Das wollten wir nachmachen. Daß Sie es unten so deutlich hören würden, haben wir nicht gewußt. Ein solcher Lärm soll nicht wieder vorkommen!«

Ganz gerührt vernahm die alte Dame diese Zusage. Sie atmete auf. Der Anblick der gesitteten, hübschen Kinder hatte schon förmlich erlösend auf sie gewirkt. Nun dieses freiwillige, edelmütige Versprechen! Beglückt reichte sie dem Hans und seinem Nachbar Bruno ihre zarten, welken Hände hin. Sie wolle ja der Kinder Jugendlust nicht stören, sagte sie. Aber so etwas von Geknall und Gepolter und furchtbaren, dumpfen Donnertönen wie vorhin –

»Mein Schaukelpferd!« rief da beseligt eine Stimme aus der langen Reihe heraus. »Das Donnergerumpel, du, Hans, das war mein Schaukelpferd!«

Es wurde nun in aller Gemütlichkeit alles festgestellt, was einzeln zu der Ungeheuerlichkeit des Lärmes beigetragen hatte. Hans entwarf eine Schilderung des ganzen Wüstenspiels, seine Nachbarn wurden als Räuber und Kaufleute, die vier Mädchen als die schreienden Frauen vorgestellt; eine kleine Pistole, die Hans bei sich trug, wurde vorgezeigt. Hans erbot sich sogar, ein Zündplättchen, von denen er eine Anzahl bei sich trug, damit abzuknallen, als Probe, wie leise es eigentlich sei.

Die Frau Geheimrätin dankte aber. »Erzähle mir lieber etwas!« sagte sie. »Deine Eltern sind ausgegangen, wie ich höre? Und du als der Alteste sollst dann wohl immer schön aufpassen auf deine acht Geschwister?« Hansel nickte. Ja, aufpassen sollte er. Aber Herr und Frau Doktor Ebert seien nicht seine Eltern und die acht andern auch nicht seine Geschwister. Er, Bruno und Walter seien in Pension bei Doktors. Herr Doktor sei Lehrer an der Realschule, die sie alle drei besuchten. »Heinz und Fritz und die vier Mädchen sind Eberts Kinder,« berichtete er weiter.

Die Frau Geheimrätin fragte: »Deine Eltern leben wohl auf dem Lande, da du in der Stadt in Pension bist?«

»Nein,« sagte Hans, und sein hübsches, frohes Gesicht wurde einen Augenblick sehr ernst; »Walters und Brunos Eltern nur; meine Eltern leben in Brasilien.«

Wie die alte Dame staunte! So weit von hier! In welcher Stadt Brasiliens, wollte sie wissen, und wie lange Hans schon hier sei, wie lange er noch bleiben werde, und ob er denn gar kein Heimweh habe.

Hans richtete sich straff auf und beantwortete alle Fragen deutlich und ausführlich der Reihe nach. Seine Heimat sei die Stadt Porto Alegre, die zweitgrößte Stadt der südbrasilianischen Provinz Rio Grande do Sol. Sein Vater sei dort Kaufmann. Er besitze aber auch noch eine Farm im Innern des Landes mit achthundert Stück Vieh. »In Deutschland,« ging es dann weiter, »bin ich seit drei Jahren. Ich kam damals nach der Unterquarta, jetzt bin ich in Untertertia. Heimweh hätte ich wohl manchmal, aber ich will keins haben. Ich darf keins haben. Mein Vater will, daß seine Jungen in Deutschland etwas Ordentliches lernen. Meine beiden größeren Brüder haben's nicht getan. Die hatten immer Heimweh und mochten nicht auf der Schulbank sitzen, weil sie beide auf der Farm geboren waren und schon von der frühesten Jugend an auf den wilden Pferden gesessen und so viel geritten haben. Die schrieben immer Briefe, sie möchten wieder heimkehren, und die Lehrer schrieben, die Eltern möchten sie nur kommen lassen. Das taten sie. Und dann wurde ich geschickt.«

Die Frau Geheimrätin lächelte. »Nun? Und du?«

»Ich bleibe in Deutschland, bis ich das Gymnasium absolviert habe,« sagte Hans fest.

»Und dann?«

»Dann studiere ich auch noch hier!« Schiffsingenieur wollte er werden, berichtete er. Und erst wenn er das sei, ein ganzer Mann, der etwas Ordentliches könne, wolle er zu seinen lieben Eltern zurückkehren. So lange müsse er aushalten. Und er werde es schon können. Doktor Eberts seien ja so gut. Und es sei lustig, mit den andern Jungen zusammen zu wohnen und mit Else, die seine Freundin sei, und den Lütten, Hilde, Hede und Maus.

*

Über eine halbe Stunde dauerte schließlich der Besuch der neun Kinder bei der Frau Geheimrätin, und er gipfelte darin, daß die alte Dame neun Stück Kirschkuchen vom Bäcker für die kleinen Räuber holen ließ. Während sie dann, um den großen, runden Tisch sitzend, schmausten, ward ein Vertrag geschlossen. Hans versprach im Namen seiner Freunde und Pflegegeschwister und in seinem eignen Namen, daß in der Zeit von zwei bis vier Uhr, in der die Frau Geheimrätin ihr Mittagsschläfchen hielt, die Ruhe gehalten werden sollte. Von vier bis sechs Uhr fuhr oder ging die Geheimrätin gewöhnlich aus, und in diesem Falle wollte sie dann immer hinaufsagen lassen, die Kinder brauchten sich jetzt nicht zurückzuhalten, könnten toben und tollen, das Feld sei frei. Mit neun Händedrücken wurde dieser Vertrag beim Abschiede von allen neun Kindern bestätigt.

Wie war die Frau Geheimrätin froh und vergnügt! Marlene zweifelte zwar, daß die Kinder Wort halten würden, jene aber war davon überzeugt. »Dem großen Jungen, dem Hans, traue ich,« sagte sie; »der hat gesagt, er stehe dafür, und darauf verlasse ich mich. Es war doch hübsch, daß sie ungeheißen alle herunterkamen, sich zu entschuldigen! Das hat auch der Hans angegeben!«

Marlene machte ein schlaues Gesicht. »Hat vielleicht Angst gehabt, daß Sie sich sonst bei den Pensionseltern beklagen würden,« meinte sie.

Angst? – Nein, das traute die Frau Geheimrätin dem Hans trotz der kurzen Bekanntschaft nicht zu. Wie würde sie sich gefreut haben, wenn sie hätte hören können, wie recht sie mit ihrem Vertrauen hatte!

Dem gestrengen Pensionsvater, der eben heimgekehrt war, stand er oben straff und kerzengerade gegenüber. »Nein, wir sind leider nicht sehr artig gewesen,« berichtete er auf seine Frage; »wir haben so gelärmt, daß die Frau Geheimrätin heraufgeschickt hat. Aber sie ist nicht mehr böse. Wir gingen alle neun hinunter, entschuldigten uns und haben einen Vertrag geschlossen. Neun Stück Kirschkuchen hat sie für uns holen lassen!«

Das beruhigte den Herrn Doktor, dem die Sache im Grunde sehr unangenehm war. »Nun sorge nur, daß der Vertrag gehalten wird,« sagte er; »ich verlasse mich auf dich, Hans!«

*

Auf den Hans verließ man sich nicht umsonst. Weder der Herr Doktor Ebert noch die Frau Geheimrätin hatten es zu bereuen, daß sie ihm vertrauten. Mit Sorgfalt achtete er darauf, daß in den Stunden, in denen die leidende Dame zu Hause weilte, über ihrem Haupte Ruhe herrschte. Früher hatten die Jungen ihre wildesten Spiele im großen Eß- und Arbeitszimmer, das gerade über dem Wohnzimmer des unteren Stockwerkes lag, vollführt. Nun verlegte Hans mit Herrn und Frau Doktors und Lottes Genehmigung den Schauplatz der Taten in ein anderes Quartier.

Die Familie des Herrn Doktor bewohnte das ganze große Stockwerk, die Frau Geheimrätin nur die Hälfte eines solchen. Neben ihr hauste ein junger Assessor, der den ganzen Tag auf dem Gerichte zu tun hatte. Schrankstube, Mädchen- und Jungenschlafstube der Ebertschen Wohnung befanden sich über dessen Wohnräumen. Da konnte man getrost ein bißchen lärmen, ohne daß es eine Menschenseele störte. Und wenn die Frau Geheimrätin sagen ließ, daß sie ausgehe, wurde mit um so größerer Freude das andere Feld bezogen. Ein so wildes, ausgelassenes Spiel wie an jenem Nachmittage, vielleicht dem einzigen aufsichtslosen des ganzen Jahres, kam überhaupt nicht wieder vor. Aber die Kinder durften ihre Jugend genießen, sie durften fröhlich spielen nach gründlicher, ordentlicher Arbeit. Und neun Kinder waren es ja! Da konnte sich die Geheimrätin mit Recht verwundern über die überaus große Rücksicht, die ihr widerfuhr. Seit sie die lieben Kinder selbst gesehen, hatte sie sich mit Geduld gewappnet. Ein bißchen Lärm wollte sie sich schon gefallen lassen. Aber sie brauchte sie gar nicht, diese Nachsicht und Geduld. Von lautem, wüstem Lärm, Krachen und Poltern war nie die Rede mehr. Aber auch sonst siel ihr allerlei Rücksicht auf. Die Stühle wurden leiser vom Tische abgeschoben als in den ersten Tagen, und ganz deutlich merkte sie's, daß man sich mühte, die Türen leise zu schließen, nicht zu stapfen, nicht zu schreien.

Sie war glücklich. Als sie Frau Ebert eines Tages auf der Treppe traf, konnte sie es nicht unterlassen, sie anzureden und ihr in herzlichen Worten für die Beachtung ihrer Wünsche zu danken. Frau Doktor Ebert wollte von Dank nichts wissen. Es sei doch natürlich, daß sich einer nach dem andern richte, und daß Kinder zur Rücksichtnahme erzogen werden müssen. »Das heißt, bei dem einen unserer Pensionäre ist das nicht einmal nötig,« fügte sie hinzu; »der Hans, der älteste unserer Pflegesöhne, der tut's von selbst. Sie können gar nicht glauben, gnädige Frau, wie der immer an Sie denkt! Daß alle Kinder gleich nach der Schule die Hausschuhe mit den dünnen Sohlen anziehen müssen, darauf ist er gekommen. Fortwährend ist er besorgt um Ihre Ruhe. Und was der Hans einmal im Kopfe und im Herzen hat, das hat er ganz darin, nicht nur vorübergehend. Der hat Treue und Ausdauer!« Die alte Frau Rätin war ganz gerührt.

Sie sprachen dann noch eine lange Weile zusammen, die beiden Damen. Der Hans habe ihr gleich so gut gefallen, sagte die Alte. Frau Ebert sprach freudig: »Ach, das ist ja auch unser aller Liebling!«

Und in fröhlicher Gesprächigkeit erzählte sie lauter gute Sachen vom Hans. Wie lustig der immer sei und was für ein braver, tüchtiger Schüler dabei. Er habe sich's felsenfest vorgenommen, seinen Eltern Ehre und Freude zu bereiten. Und davon weiche er nun nicht ab. Alle Kräfte nehme er zusammen in der Schule und beim Lernen. Da sitze er mucksmäuschenstill. Dann aber gehe die frohe, ausgelassene Bubenwildheit los. Man glaube es gar nicht, wenn man ihn so lustig sieht, daß er eigentlich einen Kummer habe: stilles Heimweh und Sehnsucht nach seinen Eltern. Sie habe ihn einmal in der Nacht schluchzen hören und habe geglaubt, er sei krank. Da habe er die Arme fest um ihren Hals geschlungen und ihr gestanden, es sei ihm so unbeschreiblich bange nach Vater und Mutter. Nur dieses eine Mal wollte er sich ausweinen. Er müsse und wolle es bezwingen. Denn zehn Jahre lang müsse er ja mindestens noch tapfer sein. Hinüberreisen nach Brasilien zu Besuch und wiederkommen, das gebe es nicht, das koste viele, viele hundert Mark. Wenn er etwas Tüchtiges werden wolle, müsse er ausharren, habe ihm sein Vater gesagt. Und das wolle er. Nur manchmal komme die Sehnsucht nach den Eltern so wild über ihn.

Er habe sich ausgeschluchzt an ihrem Herzen. Dann sei's vorbei gewesen. Am andern Morgen habe er wieder aus blanken Augen tapfer in die Welt gesehen, ihr froh und freundlich zugenickt, als sie ihn besorgt betrachtet habe.

Die alte Frau Rätin sagte: »Das ist ja ein wahres Glück, wenn dieser Hans sich meiner annimmt!«

Mit herzlichem Händedruck wie ein Paar alte, gute Bekannte gingen die beiden Hausgenossinnen auseinander.

*

Zwischen den beiden Stockwerken, dem ersten, in dem die Geheimrätin wohnte, und dem zweiten, herrschte von nun an gemütliche Freundschaft. Der alten Dame war kein einziges Mal mehr Anlaß zu Tränen und Klage gegeben worden, die Kinder oben aber hatten desto mehr Grund zu Freude und Dank.

Kam da eines Sonntags mittags im Konditorwagen eine feine, eisgekühlte Schaumtorte anspaziert, die ein schneeweiß gekleideter Konditorlehrling bei Eberts abgab. Eine Karte lag dabei: »Wohl bekomm's der Kinderschar! Eine alte Hausgenossin.« Wer die war, darüber herrschte keinen Augenblick ein Zweifel. Mit Selterwasser tranken die Kinder auf das Wohl der lieben Frau Geheimrätin. Hans und Else gingen nach Tisch hinunter und statteten im Namen aller ihren Dank ab.

Seit der Zeit schien es, als könne die Frau Geheimrätin nichts Gutes mehr verzehren, ohne daß die Kinder oben nicht wenigstens ein Häppchen davon gekostet hätten. Wenn die Marlene irgend etwas buk, wurde ein Pröbchen davon hinaufgeschickt. Daß der große, schöne Balkon der Geheimrätin gerade unter dem kleinen von Eberts lag, traf sich noch besonders günstig. Denn wenn die alte Dame wohl war und das Wetter schön, lag sie nachmittags oft stundenlang auf ihrem schattigen Platze hinter der Wand von wildem Weine. Da gab's oft ein lustiges Grüßen und Rufen und Nicken hinauf und herunter. Und manchmal gab's sogar eine Art direkter Postverbindung zwischen oben und unten. Auf dem unteren Balkon fanden oft allerhand sehr leckere häusliche Verrichtungen statt. Kirschen, Himbeeren und Erdbeeren wurden da ausgekernt, gelesen oder abgestielt. Und »Körbchen herunter lassen!« klang es dann freundlich herauf, wenn sich oben über dem Balkonrande ein Kindergesicht blicken ließ.

Die Frau Geheimrätin und der Hans hatten diese Verbindung miteinander beraten, und der Hans hatte sie hergestellt. Ein Henkelkörbchen aus Weidengeflecht war an einem langen Bindfaden, der gerade vom oberen schmalen bis auf den unteren breiten Balkon reichte, festgeknüpft worden. Das stieg – auf einen Wink oder Ruf von unten – leer in die Tiefe und mit allerhand guten, schönen Dingen befrachtet wieder hinauf.

Wie viel Jubel und Freude hat sein Inhalt oft geweckt! Wie haben die Kinder von oben jubelnd: »Danke, danke!« hinuntergerufen, und wie hat die Frau Rätin unten vergnügt dreingeschaut, wenn das Händeklatschen und Jauchzen der beschenkten Kinder herunterklang.

Wenn es von unten herauf recht laut und freundlich »Hans!« rief, wußten die oben schon immer, was es geschlagen hatte.

Es schien ein für allemal abgemacht, daß der Hans oben die Hauptperson unter den Kindern sei, der geeignetste Mann zum geschickten Heraufbefördern und friedlichen Verteilen der geschenkten Herrlichkeiten. »Zum Dank fürs Ruhehalten!« rief die alte Dame ein paarmal hinter dem aufschwebenden Körbchen drein. Hans ließ dann sehr eifrig seine Stimme erschallen: »O, dafür braucht's keinen Dank! Das geschieht doch ganz selbstverständlich und sehr gern!«

*

Oft war das Körbchen während des Sommers auf und ab gestiegen. Nun waren rauhe, kühle Tage gekommen. Vom kleinen Balkon oben blickte wohl noch hier und da ein Kindergesicht spähend hinab. Aber der gemütliche Platz der alten Herrin hinter der Wand von windzerzaustem Weinlaube blieb leer und verwaist; die Balkontüren waren unten geschlossen. Die Frau Geheimrätin sei nicht wohl, hatte die Marlene dem Hans erzählt, als er einst, respektvoll seine Mütze vor der Küchenfee ziehend, an ihr vorüberging. Hans sandte seiner alten Freundin einen herzlichen Gruß und ließ ihr höflich recht baldige gute Besserung wünschen.

Das habe offenbar geholfen, teilte die alte Dame am andern Morgen ganz vergnügt ihrer Marlene mit. Sie gestand nun erst, wie elend, schwindlig und schwach sie in den letzten Tagen gewesen sei. Heute fühle sie sich freier und kräftiger. Gewiß sei in kurzem alles gut!

Die Marlene sagte das hocherfreut auf der Treppe dem Hans wieder. Den ganzen Tag dachte der nun an die gute, alte Geheimrätin und wünschte ihr erst recht aus Leibeskräften Gesundheit und Freude. Der alten Dame schmeckte auch wirklich das Mittagbrot leidlich, das Mittagschläfchen auch. Marlene solle nur getrost die schon seit langer Zeit aufgeschobenen Ausgänge unternehmen, meinte sie. Sie könne gut allein bleiben. Es sei ihr wirklich ganz wohl.

Und Marlene ging. Friedlich und fröhlich blieb die alte Dame auf ihrem Nähtischplatze bei ihrem Buche sitzen. Es war aber seltsam, wie die Buchstaben da auf einmal vor ihren Augen verschwammen! Was war das? Sie mußte das Buch rasch aus der Hand legen, so schwach wurde ihr. Das war der dumme Schwindel wieder, der sie in den letzten Tagen so oft gepackt hatte. Aber nein, das war doch noch viel schlimmer. Das ganze Zimmer tanzte ihr vor den Augen, ihr war, als Weiche und schwanke der ganze Boden unter ihr. Sie wollte nach Marlene schreien, da besann sie sich, daß diese nicht zu Hause sei.

Heiß stieg ihr da die Angst ans Herz. Nein, diese Schwäche! Sie wollte laut rufen, vielleicht hörte sie jemand im Hause. Aber gar keine Kraft, ja fast keinen Ton hatte ihre Stimme, und ihre Füße waren wie gelähmt. Sie kam mühsam ein paar Schritte vorwärts. Viel, viel zu weit ab schien ihr die Vorsaaltür. Bis an die ganz nahe Balkontür reichte gerade ihre Kraft.

»Frische Luft!« dachte sie und öffnete die Tür. Draußen auf dem Balkon sank sie erschöpft auf ihren Stuhl. Eiskalt drang es ihr zum Herzen. Nun vergingen ihr die Gedanken völlig. Nein, doch noch nicht ganz. Wie im Traum, wie aus weiter Höhe hörte sie eine klare, frische Stimme liebevoll rufen: »Guten Tag, Frau Geheimrätin!«

Und sie wußte trotz des fast ohnmächtigen Zustandes, in dem sie sich befand: »Das war der Hans!«

»Hans!« rief sie mit ihrer letzten Kraft und winkte hinauf. Und diesen Wink – den kannte der Hans. Das hieß: »Körbchen herunterlassen!«

Und rasch holte der Hans Bindfaden und Korb, die schon weggepackt waren, herbei. Die Frau Geheimrätin wollte rufen: »Nein, nein, so mein ich's nicht, zu schicken habe ich nichts!«

Da kam ihr in ihrer großen Schwäche ein letzter klarer Gedanke. Sie griff in ihre Tasche, in der sie immer den Vorsaalschlüssel trug. Nun kam der Korb herabgeschwebt. Schnell legte sie den Schlüssel hinein und winkte noch einmal, so deutlich sie konnte, mit der Hand.

Und nun, als er den Schlüssel und diese Bewegung sah, verstand sie der Hans. Kommen sollte er! Wie der Junge da hinuntersauste!

Er war in wenigen Minuten schon wieder oben, sehr ernst und blaß. Er rief Herrn und Frau Ebert erregt zu: »Schnell, schnell, bitte, kommen Sie einmal rasch herunter!«

Im Nu waren die drei unten. Herr Doktor Ebert schickte dann den Hans sofort zum Arzte. Schneller als der Junge konnte ja keiner fliegen. Hans brachte den Arzt, der eben hatte ausfahren wollen, auch gleich mit.

»Kleiner Schlaganfall!« sagte dieser. Aber es war Hilfe möglich. Unablässig waren der Arzt und Hansens Pflegeeltern eine Stunde lang um die Kranke bemüht. Hans rannte in die Apotheke mit des Herrn Doktors Rezept und wartete dort gleich auf die Medizin.

»Es war aber die allerhöchste Zeit, daß Hilfe kam,« sagte der Herr Doktor.

Das waren schwere, sorgenvolle Stunden, die nun folgten. Ich will euch nichts davon erzählen, nur – daß die Frau Geheimrätin noch einmal ganz gesund geworden ist. Daß die Freundschaft zwischen den beiden Stockwerken dann erst recht weiterging, das könnt ihr euch ja wohl selbst denken.


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