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Der goldene Reifen

Ein Märchen

In einem Dorf an einem tiefen, rauschenden Fluß lebte einmal eine arme Witwe. Die hatte einen blondlockigen, lieben, kleinen Buben, der ihr ganzes Glück und ihre ganze Seligkeit war. Sie hatte weiter nichts als ihn auf der weiten Welt. Von früh bis spät arbeitete sie schwer, oft in hartem Tagelohn, um Geld für sich und ihren Gerd zu verdienen. Aber wenn der Abend kam, war sie wohl matt, doch niemals müde, denn nun ging erst ihre seligste Zeit an. Sie liebte den Buben so sehr, daß ihr das Herz laut klopfte vor lauter Lust, wenn er ihr mit hellem Jubel die Dorfstraße entlang entgegensprang, wenn sie die blonden Löckchen wehen und die roten Bäckchen leuchten sah. Von fern breitete er ihr die Arme immer weit entgegen, und sein »Mutter! Mutter!« klang weithin durch die Abendluft.

Jubelnd hob sie den Jungen dann immer hoch in die Höhe, und beide küßten und herzten einander und wußten sich nicht zu lassen vor Glück. Die Nachbarn, bei denen Gerd den Tag über in Kost und unter Aufsicht war, waren nicht gerade böse, aber doch kurz angebunden und rauh. Wie wohl tat danach der Mutterkuß! Wie weich schmiegte sich's in den Mutterarm! Nichts Schöneres konnten sie sich beide denken, als so gemeinsam nach Haus in die winzige Hütte unter dem riesigen Holunderbaum zu eilen, das Abendsüppchen gemeinsam zu kochen – Gerd reichte der Mutter alles zu –, dann am Tische zu sitzen, zu beten, zu essen und fröhlich zu plaudern von allem, was der Tag gebracht. Lag der Junge dann endlich zu Bett, so kam noch die allerschönste Viertelstunde, das allersüßeste Liebhaben. Die Witwe fühlte die große Traurigkeit, daß ihr lieber Mann gestorben war, in solchen Stunden viel sanfter und leichter in ihrem Herzen. Gerd lag so schön in seinem reinen Bett. Sie hielt sein weiches Händchen, bis er eingeschlafen war, und im Schlafe noch murmelte er: »Mutter!« und noch einmal: »Mutter, mein Mutterli lieb!«

Wie getrost schlief sie dann ein auf ihrem harten Lager dicht neben ihres Kindes kleinem, weichem Bett! Der liebe Schelm sollte es gut haben, soweit es in ihrer Macht stand.

Das hatte sie sich fest vorgenommen in der traurigsten Stunde ihres Lebens, als die schwarzen Männer ihren lieben Mann, der sein Söhnchen gar lieb gehabt, im engen Sarge hinaus auf den Friedhof trugen. Nein, Gerd, des Vaters Stolz und Glück, sollte es nicht fühlen, daß der Erhalter und Ernährer der Familie davongegangen war zur ewigen Ruhe. Sie wollte schaffen und sorgen, nicht nur für die äußerste Notdurft, nein, Gerd sollte auch Freude haben, sollte lachen und fröhlich sein wie andere Kinder.

Seine Kleider hielten die fleißigen Mutterhände immer besonders nett, reinlich und hübsch. Gerd war ein sehr schönes Kind; die Frau staunte oft und fragte sich, woher diese Lieblichkeit in ihre arme Hütte komme. Wie ein kleiner Prinz sah er aus mit dem Lockengekräusel, den klarblauen Augen und dem zarten, edlen Gesicht. Um keinen Preis hätte sie ihn in schlechten, zerrissenen Sachen sehen mögen; lieber saß sie halbe Nächte lang stichelnd beim trüben Lampenlicht. Und Gerd freute sich immer königlich über seinen sauberen Staat und schonte ihn wohl. Er freute sich über alles, was die geliebte Mutter für ihn tat, ihm brachte und gab. Ein Apfel, eine Handvoll Kirschen, ein Wecken, ein Kreisel oder, wenn dazu das Geld nicht langte, auch nur ein schillernder Stein, den sie auf dem Wege gefunden, oder ein Schneckenhaus oder eine seltene Blume vom Wegesrand – alles füllte des glücklichen Kindes Herz mit hellem Jubel, mit seligem Dank. Wie konnte er jubeln und lachen! Wie traulich versprach er der Mutter in seiner zärtlichen Dankbarkeit immer aufs neue, auch ihr Freude zu machen sein Leben lang, ihr zu gehorchen immerdar, brav zu sein und zu bleiben!

»Wenn ich groß bin,« fingen alle die herrlichen Geschichten an, die er, auf ihren Schoß geschmiegt, ihr ins Ohr zu flüstern pflegte. Wenn er groß wäre, was wollte er dann alles für die Mutter tun! Sie hegen und hätscheln in einem wunder-, wunderschönen Haus mit einem großen Garten. Er wollte einmal viel Geld verdienen, etwas Großes werden.

»Vorderhand sei nur mein liebes Kind und folge mir gut!« sagte die Mutter und blickte stolz und froh in seine freundlichen, glänzenden Kinderaugen.

Das wollte Gerd, und das tat er auch, obgleich es manchmal sehr schwer war. Die Mutter verbot ihm in Freundlichkeit und Strenge gar manches, was andere Buben ungestraft und ungehindert taten, z. B. über Zäune in anderer Leute Wiesen und Gärten zu steigen, mit armen Leuten Schabernack zu treiben, Vogelnester auszunehmen, und solche Dinge mehr. Daß dies alles unrecht und häßlich sei, sah Gerd auch völlig ein.

Aber ein anderes Gebot zu befolgen, ward ihm schwer.

Dem Flusse, der mit eiligen, vollen, großen Wogen vorbeirauschte, nicht zweihundert Schritte weit von ihrer Hüttentür, an dessen Ufer das Erlen- und Weidengestrüpp so wundervolle schmale, wirre Wäldchen bildete; auf dem Boote und Flöße dahinglitten; der den Mond und die Sonne wiederspiegelte; der schillern und glitzern konnte bald wie Stahl, bald wie Silber, bald wie Gold – dem geliebten, wunderbaren Flusse, in den die andern barfüßig hineinschritten an den seichten Uferstellen viele Schritte weit, plätschernd und spritzend; auf dem sie ihre Schiffe schwimmen ließen, und aus dem der Angler an langer, dünner Schnur die zappelnden Fischchen zog – dem Flusse sollte er sich nie und niemals nahen, außer an der Mutter Hand.

Das hatte er fest und ernst versprechen müssen. Nicht einmal auf den saftgrünen Weidewiesen, die sich längs des Flusses ausbreiteten, durfte er spielen, um ja nicht in die gefährliche Nähe des Wassers zu kommen. Nur von den Sonntagsgängen mit der Mutter kannte er die Blumenpracht, das Käferschwirren und den Libellentanz auf den Wasserwiesen. Ein Sandpfad führte vom Dorfe her quer durch dieselben nach dem Uferrand.

Den sah er oft an den einsamen, langen Tagen sehnsüchtig entlang. Das Lachen und Plätschern der andern Kinder drang dann manchmal lockend zu ihm herauf. Einen Augenblick dachte er wohl öfters, die Mutter sei gar zu streng und gar zu hart, aber gleich darauf fielen ihm immer die lieben, zärtlichen Worte ein, mit denen die Mutter ihn gewarnt hatte, und er hätte dann vor lauter Liebe nur rasch zu ihr eilen mögen, sie abzudrücken und abzuküssen und ihr seine Gedanken abzubitten.

Was sollte denn aus ihr werden, wenn ihr kleiner Gerd ins Wasser fiel? hatte sie gesagt. Wen hätte sie denn dann auf der Welt? Für wen sollte sie leben? Wer sollte sie küssen und streicheln?

Ganz kalt ward es dem Jungen, wenn er daran dachte: sein Mütterlein ganz allein, und er da in der kalten, tiefen, tiefen Flut, bei den Nixen vielleicht, von denen die Nachbarsfrau einmal erzählte, den Wasserfrauen mit den eiskalten Händen, den kalten Herzen, den nassen Kleidern und dem nassen Haar!

Vor diesen hatte er ein eigenes tiefes Grauen. Und das war sein Trost, wenn die Sehnsucht nach dem verbotenen Spiel am Flusse gar zu mächtig über ihn kam.

Er konnte es aushalten, daß die Kinder unten am Ufer kreischten und schrieen bei ihrem lustigen Spiel.

Spielsachen hatte er auch: einen Kreisel, einen alten Ball, ein Peitschchen, ein Fähnchen, das ihm die Mutter einmal gemacht hatte. Daran hatte er seine große Freude. Seine größte Lust aber war der Abend, die Stunde, wenn die Mutter kam.

Einmal stand Gerd mit besonderer Unruhe, mit besonders heißen Bäckchen lauernd und harrend an der Wegstelle, bei dem großen Heckenrosenbusch, wo er immer auf die Mutter wartete. Mit hellem Ruf flog er dann, als die liebe Gestalt von weitem sichtbar wurde, auf sie zu.

»Mutter! Mutter!«

Er hatte es furchtbar eilig zu berichten, was ihm heute geschehen war. Ein zierliches Schiffchen, aus schimmernder Perlmutter fein und künstlich geschnitzt, hielt er dabei hoch in die Höhe.

Das hatte ihm eine schöne, weiße, fremde Frau geschenkt, erzählte er atemlos. Die war zu ihm gekommen, als er am Nachmittag ganz allein in der Stube war. Die Nachbarin war gerade auf dem Felde, ihre großen Buben waren am Wasser. Ganz still war's, und auf der Straße brannte die Sonne so heiß. Da war er in die Stube hineingegangen, hatte sich an den Tisch gesetzt und mit dem kleinen Papierschiff gespielt, das ihm die Mutter gestern abend aus einem Stück Zeitung so schön geformt hatte.

Und auf einmal stand sie da neben ihm, die fremde Frau. Wie sie in die Stube hineingekommen war, hatte er gar nicht gesehen. Sie sah ganz anders aus als die andern Frauen. Ihr weißes Kleid hing voll glitzernder Dinger, wie Wassertropfen, aber es waren ganz durchsichtige, sonnenhelle Steine, wenn man sie genauer ansah. Und sie sprach auch anders als alle andern, leise, ganz leise. Es klang schön, und sie sagte so freundliche Worte.

»Kleiner Gerd,« hatte sie gesprochen, »dein Schiffchen da ist lange nicht hübsch genug für dich! Sieh, ich hab' dir ein viel hübscheres mitgebracht. Willst du mich nicht einmal besuchen in meinem Schlosse, kleiner Gerd? Ich hab' dich lieb! Ich hab' dich schon oft von weitem gesehen.«

»Und da fragte ich,« erzählte Gerd seiner Mutter, »wo ihr Schloß läge, und sie sagte, es führe ein goldener Weg durch den Fluß zu ihm hinunter da, wo der Weg unten aufhört beim alten Weidenbaum. Darf ich einmal hin, Mutter? Ein einziges Mal? Ich sagte, ich dürfe nicht, ohne daß ich dich gefragt hätte. Aber wenn sie dabei ist, dann darf ich doch? Nicht wahr, du erlaubst es mir, meine liebe, gute Mutter?«

Gerd war erschrocken über das heftige, entschiedene: »Nein! Unter keinen Umständen! Nie, niemals, Gerd!« das die Mutter auf seine Bitte sprach. Sie riß ihn an sich, ganz anders als sonst, und viel, viel fester drückte sie ihn an ihr zärtliches Herz. Und doch sprach sie dabei so streng.

Nie wieder sollte Gerd mit der fremden Frau sprechen, nie, nie sich verleiten lassen, mit ihr an den Fluß zu gehen. Ein Schrecken und Grausen lag in der Mutter Gesicht. Sie war ganz bleich geworden; eine große, unheimliche Angst war plötzlich in ihr erwacht.

Kein Zweifel, es war die Nixe des Stromes, die sich in ihrer Abwesenheit in ihre Hütte geschlichen, und die sich in ihres Lieblings Herz einzuschleichen suchte, die Nixe, die Kinder so liebt, die sie lockt mit süßem Gesange und lieblichen Gaben in den sichern Tod.

»O Gerd, gib das Schiffchen her! Wirf es ins Wasser, da in den tiefen, tiefen Brunnen hinein! Nimm nie wieder etwas an!« bat die Mutter ihren Jungen.

Aber Gerd hielt sein kleines, neues Spielzeug mit beiden Händen fest.

»Mutter, o nimm es mir nicht weg! Bitte, bitte, laß es mir!« rief er, und es lag ein solches Betteln und Flehen in seinem Stimmchen, aus seinen Blauaugen quollen so große, dicke Tränen, daß die arme Frau den Mut nicht fand, ihren Willen durchzusetzen und ihrem Liebling wehe zu tun.

Es wäre der erste Schmerz gewesen, der das glückliche Kind getroffen hätte. Nein, sie konnte, sie konnte nicht! Gerd bat gar zu sehr! Und er war beinahe scheu diesen ganzen Abend, sprach nicht viel, streichelte nur immer liebkosend sein Schiffchen und blickte die Mutter verstohlen forschend an, ob er auch sicher sei, daß sie ihm seinen Schatz nun ließe. Nicht einmal im Bett wollte er's hergeben, kaum so lange, um die Händchen zu falten zum Gebet.

Die Mutter beruhigte ihn endlich. Er solle sein Spielzeug behalten, sie nähme es ihm nicht weg; er solle nur ruhig sein.

Aber traurig klang ihre Stimme, als sie die Worte sprach. Eine bange, bange Angst füllte ihr das Herz. Sie konnte sich von dem Anblick ihres Herzensbuben, der nun friedlich und fröhlich einschlief, gar nicht trennen an diesem Abend.

Ängstlich schärfte sie den Nachbarn am nächsten Morgen ein, gut acht auf ihren Liebling zu geben, ihn bei sich im Zimmer zu behalten oder höchstens draußen im Gärtchen oder auf dem belebten Dorfplatz spielen zu lassen. Gerd selbst bekam noch eine ganze Menge strenger Gebote. Stracks solle er davonlaufen, wenn die fremde, weiße Frau sich wieder sehen ließe, nie antworten solle er ihr auf ihre Rede, nie, nie etwas von ihr annehmen, nie mit ihr gehen, ihr vor allem nie und nimmermehr die Hand reichen, da sie dann Macht über ihn gewinne. Daß er das Wasser auch in Zukunft meiden solle, das verstand sich, wie immer, von selbst.

»Versprichst du mir alles das, Gerd?« sagte die Frau und nahm ihren Liebling, ehe sie von ihm ging, noch einmal liebkosend auf den Schoß.

Aber Gerd sah sie gar nicht zärtlich an wie sonst, sondern mehr ängstlich und tief erstaunt.

»Warum bist du so? Warum bist du nicht lieb?« fragte er beklommen, und die dicken Tränen stiegen ihm schon wieder in die Augen.

Es war schwer für die Mutter, dem Kinde klar zu machen, was ihr selbst kaum klar war. Und schwer war es ihr, heute von ihm zu gehen. Schwer war ihr der lange, mühselige Arbeitstag. O hätte doch Gerd bei ihr sein können! Aber der Bauer, für den sie arbeitete, war streng und wollte durchaus keine fremden Kinder auf seinem Hofe.

So sehnsüchtig hatte sie nie des Tages Ende herbeigewünscht. Sie hatte den ganzen Tag gesonnen, was sie ihrem Herzensbuben wohl zuliebe tun könnte, daß er ihr wieder ganz gut werde. Die scheuen, vorwurfsvollen Blicke Gerds gingen ihr gar nicht aus dem Sinn. Eine recht große, große Freude hätte sie ihm machen mögen, so groß, daß er das glänzende Spielzeug der Nixe von selbst darüber vergaß.

Sie sann und sann, und endlich fiel ihr auch etwas Schönes ein. Ein Topfhändler hielt heute im Dorf, der hatte goldgelbe Schüsseln und Teller und Töpfchen mit großen, bunten Blumenmustern zum Verkauf; das Herz lachte einem bei ihrem Anblick, so lustig sahen sie aus. Ein solches Eßschüsselchen sollte Gerd haben. Sie mußte dann freilich noch ein Weilchen warten, bis sie sich das neue Tuch kaufen konnte, das sie nötig brauchte, aber was schadete das!

Schon von weitem hielt sie abends ihrem lieben Buben die Blumenschüssel entgegen, die sie für ihn gekauft hatte. Wie seltsam, Gerd sah sie und lachte und jubelte doch nicht. Überhaupt, wie seltsam war sein Gebaren! Langsam und verlegen kam er ihr entgegen. Sie sah, er trug etwas unter der Schürze versteckt; ein schimmernder Glanz breitete sich aus, als er den Schürzenzipfel vorsichtig hob.

»Mutter, ich habe schon selber eine Schüssel,« sagte er kleinlaut. »Von der Frau. Ich konnte nichts dafür, sie brachte sie mir. Ich war im Garten, da stand sie auf einmal da. Sie war so gut, Mutter, ach, sie war so gut! Und sieh doch, sieh doch meine Schüssel an! Daraus soll ich alle Tage essen. Gelt, die ist schön? Ist sie nicht schön?«

Ja, sie war schön. Die Mutter mußte es wohl zugeben, wie traurig sie auch das herrliche Gefäß besah. Die bunte Tonware, die sie eben so freudig eingekauft hatte, war grob und häßlich gegen dieses perlmutterschillernde, kostbare Gefäß, auf dem Fische und Wasserpflanzen und Libellen in großer Zahl mit feinen, bunten Strichen wunderbar deutlich und niedlich nachgebildet waren. Man konnte sich nicht satt sehen an der Zierlichkeit und Pracht.

Und doch bat die Mutter ihren Jungen herzlich, ihr die Schüssel zu geben und die bunte Tonschüssel vom Topfhändler dafür zu nehmen. Er sollte nicht aus der Schüssel der Nixe essen – eine bange Ahnung sagte ihr, es sei nicht zu seinem Heil – und sie wollte und wollte es nicht.

Dann begann derselbe Kampf wie gestern. Gerd drückte die Schüssel mit beiden Händen fest ans Herz, und in seinen Augen malte sich ein so großes Weh, daß die Mutter ihn mit freundlichen Worten beruhigen und ihm erlauben mußte, die Nixengabe zu behalten.

Er aß seine Abendsuppe daraus, und mit jedem Löffel, den er aß, wurden seine Augen glänzender, sein kleiner Mund gesprächiger. Wunderbare Dinge fielen ihm wieder ein, die die Nixe ihm heute erzählt, von Gärten mit goldenem Sande und muschelgefaßten Beeten, auf denen die wunderbarsten Seeblumen wuchsen.

»Einmal, Mutter, mußt du mich hinlassen,« sagte er, »ich muß einmal hin!«

Da flehte sie mit der ganzen Kraft ihrer Mutterliebe, Gerd solle sich diese Gedanken aus dem Kopf schlagen, solle ihr gehorsam sein. Selbst als er schon im Bette lag, sprach sie noch immer auf ihn ein und wachte noch länger als sonst an seinem Lager. Gerd sah noch im Schlummer aus, als wäre sein ganzes Herz eine einzige Sehnsucht nach den Wundergärten im Wasserschoß. Nicht friedlich und blühend wie sonst lag er da; er zuckte und flüsterte unverständliche Worte im Schlaf, seine runden Wangen waren bleich, seine Händchen trocken und heiß.

Ein unsäglicher Groll gegen die Fremde, die ihres Lieblings Ruhe gestört hatte, faßte die arme Frau. Und dieser Groll ward schlimmer und schlimmer von Tag zu Tag. Keine ruhige Stunde hatte die Witwe mehr bei ihrem mühseligen Tagewerk. Wie dringend sie auch den Nachbarn ans Herz legte, ihren Gerd zu hüten, ihn nie allein zu lassen, – die Nixe wußte sich doch auf unbegreifliche Weise in einem unbewachten Moment an ihn heranzuschleichen, ihm lockende, kosende Worte zuzuflüstern, ihm Gaben ins Händchen zu legen von nie gesehener, zarter Schönheit.

Jeden Abend war etwas Neues da.

Das derbe, einfache Spielzeug, mit dem Gerd früher so glückselig gespielt, galt ihm nun nichts mehr. Es gab bald nichts mehr, womit seine arme Mutter sein Herz erfreuen konnte. Sie gab ihre letzten Pfennige hin für buntes Spielzeug, sie hätte ja ihr Herzblut hergeben mögen für ihr Kind. Aber Gerd sah die ärmlichen Spielsachen, die sie ihm brachte, überhaupt nicht mehr an. Solches Spielzeug, wie es die Nixe ihm brachte, hatte kein Königskind. Schillernde Becherlein von durchsichtigem, feinem Glas, glitzernde Perlen, die er nicht müde ward, immer von neuem an lange Fäden zu reihen, winzige Häuschen und allerlei kleines Schiffergerät aus Perlmutter, Bälle, die wie Seifenblasen aussahen und sich doch weich und fest anfühlten, die hoch in die Luft flogen und doch immer wieder in des Kindes Hand zurückkehrten zu neuem Spiel.

Des Kindes Herz hing an diesen Sachen, kein Mensch könnte es beschreiben, wie sehr.

Die schwachen Versuche der Mutter, sie ihm wegzunehmen, hatten längst aufgehört. Gerd, dieses früher so liebevolle, gute Kind, sah seine Mutter finster und trotzig an, wenn sie nur davon sprach. Sie sei böse, sie sei nicht gut mit ihm, meinte er dann. Die Nixe sei gut, die rede nur freundliche, liebe Worte, die sähe ihn voll Liebe an. Er wolle zu ihr, schrie er, wenn die Mutter streng und ernst mit ihm zu reden versuchte.

Zu ihr, zu ihr! – Ja, die Sehnsucht des Kindes nach dem Wunderreich in der Wasserflut wurde von Tag zu Tag größer. Gerd war bald nicht mehr das gesunde blühende Kind von einst. Seine Bäckchen wurden immer schmaler und weißer, seine Augen immer leuchtender und größer. Er wachte oft mitten in der Nacht aus fieberhaften Träumen auf, in denen er das Reich der Nixe in leuchtenden Farben deutlich gesehen hatte. Dann konnte ihn die arme Mutter kaum beruhigen, so heiß war seine Sehnsucht, so wild war er erregt. Sie nahm ihn zu sich ins Bett, beruhigte, streichelte und küßte ihn leise und zart, bis er wieder in Schlaf verfiel.

Aber ihr eigener Schlaf war fort. In Tränen und Gebet und angstvoller Sorge verbrachte sie die Nächte. Was sollte daraus werden? Sie wußte, was da lockte aus dem Reiche der Wellen, das war der sichere Tod.

Aber wie sollte sie ihr Kind vor dem Verderben schützen? Es hatte ihr nicht einmal geholfen, wenn sie Gerd, den Drohungen des Bauern zum Trotz, auf den Bauernhof mitnahm, auf dem sie arbeitete, ja nicht einmal, wenn sie, um ihr Kind zu schützen, zu Haus blieb, wie sie es einmal versuchte. In einem Augenblick, den er gerade unbewacht verbrachte, war die Nixe bei ihm, und irgend ein wundervolles kleines Geschenk lag in seiner Hand. Niemand erblickte sie außer ihm. Nur ein weißes Leuchten sah die Mutter einmal noch im Hüttenflur, und ein lockendes, süßes »Komm, komm!« klang leise wie zarte Musik an ihr Ohr.

Er ist verloren! Er muß diesem Rufen und Locken endlich einmal folgen, dachte die Mutter oft in bitterem Gram. Wie ein Bild der Sorge sah die Frau aus, bleich und hager. Alle Freude, aller Friede waren aus der Hütte unter dem Holunderstrauch geschwunden.

Und wie schön war einst alles gewesen! Wie schön könnte alles noch sein! Gerd wurde am Johannistag sechs Jahre. Sein Geburtstag war sonst immer ein seliger Tag gewesen für Mutter und Kind. Ein großer Semmelwecken schmückte dann immer früh den weißgescheuerten Tisch, ein Kranz von Kornblumen und Klatschrosen lag rings herum, ein kleines Spielzeug oder ein Paar Schuhe oder ein neues Kittelchen lachte dem Geburtstagskind entgegen. Wie hatte Gerd an solchen Tagen immer gejauchzt, sein Mütterlein abgedrückt und geküßt!

Diesmal wurde es ganz anders. Gerd bekam seinen Kranz und seinen Wecken, sogar eine Schiefertafel und einen goldbeklebten Stift, denn im Herbst sollte er ja nun in die Schule gehen. Aber müde und gleichgültig sah das blasse, zart gewordene Kind alle diese Herrlichkeiten an. Es war, als könne er mit seinen Gedanken gar nicht mehr richtig auf der Erde sein, als blicke er mit den verträumten, sehnsüchtigen Blicken über alle Dinge hinweg in eine weite, schimmernde Ferne, wo alles viel, viel schöner war als im armseligen Mutterhaus.

So traurig war die Mutter noch nie an ihre Arbeit gegangen als an diesem Tag. So herzbrechend hatte sie noch nie geweint auf ihrem langen Weg durch die taublitzenden, morgenfrischen Felder. Die Tränen linderten wohl ihren Schmerz, aber die schwere, ängstliche Sorge blieb doch und wollte nicht weichen.

O, nur einmal noch ihr Herzblatt zurückhaben, wie sie es früher hatte, ganz für sich! Nur einmal noch sein helles, unschuldiges Lachen hören! Nur einmal noch ihm eine Freude machen, groß, unbeschreiblich groß!

Wie ein Blitz kam ihr da ein freudiger Gedanke. Beim Krämer hatte sie gestern einen bunten Reifen gesehen, der freilich viel zu teuer war für ihre Armut. Aber es schadete nichts, Gerd sollte ihn dennoch haben, sie wollte gern allerlei entbehren, was sie nötig brauchte. So mitten am Tag, wenn er es gar nicht erwartete, müßte er das Spielzeug bekommen, dachte sie. Und von diesem Augenblicke an hatte sie keine Ruhe mehr. Ihr Herz schlug so laut in ihrer Brust; die Liebe zu ihrem Kind wuchs so groß – eine Sehnsucht nach seinem Anblick erwachte in ihr, so heiß, so unbeschreiblich, unbegreiflich mächtig. Sie konnte ihr nicht widerstehen. Lange ehe die Mittagsglocke schlug, warf sie die Sense ins Feld. Und wenn sie der Bauer für immer aus dem Tagelohn schickte, wenn sie sich neue Arbeit suchen müßte irgendwo – sie konnte nicht bleiben, sie konnte nicht widerstehen, es trieb sie heim zu ihrem Herzbuben mit Macht, mit Macht.

Der goldene Reifen

Der goldene Reifen.

Eilig wurde im Vorübergehen der bunte Reifen gekauft. Der war so schön, alle sieben Regenbogenfarben waren darauf gemalt. Der mußte Gerd entzücken!

Atemlos eilte sie auf die Hütte zu. Da stand Gerd im hellen, heißen Sonnenlicht vor der Tür, weiß wie Schnee, aber stolz und glücklich, sein Gesichtchen eitel Geburtstagsseligkeit; einen Reifen hielt auch er in der Hand, einen goldenen, blinkenden, funkelnden Reifen.

»Mutter, den hat sie mir gebracht! O, sieh doch! Ist der nicht schön?« rief er jauchzend.

Er sah den bunten Holzreifen, den die Mutter ihm brachte, gar nicht an.

»Ich soll ihn rasch versuchen,« erzählte er atemlos, stellte sein goldenes Spielzeug zum Laufe zurecht und hielt frohlockend sein goldenes Stäbchen in der Hand.

»O mein Gerd, tu es nicht! Nimm meinen, laß diesen! Sei mein liebes, gutes Kind!« flehte die Witwe.

Und in ihrer Stimme, in der das höchste Leid zitterte, lag wohl etwas, was wie ein Weckruf in des Kindes Seele drang. Er sah die Mutter einen Augenblick an, wie aus einem Traum erwachend.

»Dann gleich, Mutter,« rief er zärtlich und gut, »ich muß nur diesen erst rasch versuchen. Ich muß, ich muß! Sie hat es mir gesagt.«

Dabei trieb er, ehe die Mutter es hindern konnte, den Reifen an mit einem kräftigen Schlag. Und der Reifen begann zu rollen, und Gerd jagte ihm nach; und wie von selbst, immer weiter und weiter rollte das goldene Rund, an den Häusern entlang, auf den Wiesenweg hinab, der zum Flusse führte.

»Gerd, halte! steh! So höre doch! Der Reifen rollt ins Wasser!« rief die Frau mit lauter, gellender Stimme voll Todesangst.

Aber Gerd dachte nicht daran, still zu stehen. Im windschnellen Lauf, mit flatternden, wehenden Locken jagte er unaufhaltsam dahin. So geschwind die Frau ihm auch folgte, das Kind schien plötzlich so leicht zu sein wie eine Blüte, die der Wind dahinweht – der Reifen rollte, rollte und zog ihn nach sich. Die grünblaue Flut tat sich plötzlich auf, und ein goldener Weg ward sichtbar, abwärts führend, weit, weit, wie in die Unendlichkeit.

*

Die Mutter hat ihr Kind noch zur rechten Zeit erhascht. Sie waren schon beide in der kalten Flut. Die Nixe hatte ihrem Liebling schon die Arme entgegengebreitet, und einen Augenblick rangen die beiden Frauen um das geliebte Kind.

Da schrie die Mutter in ihrer Todesangst gellend auf: »Mein Kind, mein Kind!« und erfaßte dabei fest ihres Lieblings Hand. Die Nixe hatte sein anderes Händchen ergriffen, die Berührung aber durchschauerte den Knaben eisigkalt.

»Mutter, Mutter,« rief er auf einmal, die warme Hand der Mutter fest umfassend, »ich will zu dir!«

Und der wonnige Klang dieser Worte gab der Witwe neue Kräfte. Sie stieß die Nixe zurück und kämpfte sich mächtig durch die Wellen ans Ufer, das schon erstarrte, todblasse, eiskalte Kind auf dem Arm.

*

»Ich erwecke es schon! Ich rette es schon!« dachte sie, als sie es an ihrem warmen Herzen durch die flimmernde Sommermittagsglut in rasender Eile in ihre Hütte trug. Ihr Herz war getrost. Mit Ruhe und Umsicht, trotz aller Eile, traf sie alle Veranstaltungen, den ertrunkenen Liebling zu beleben.

Und ihr Reiben und Wärmen und Streichen hatte bald Erfolg. Gerd schlug die Augen auf, und mit unbeschreiblicher Liebe, stumm und groß, als ob sie sich nicht mehr losreißen könnten, hingen seine glänzenden, klaren Blicke an dem Muttergesicht.

»Mutter, du bist gut! Du bist so warm! Du bist die Beste! Ich bleibe bei dir!« sagte er, und dann hielten sich Mutter und Kind umschlungen, süß und fest, in einer langen, langen Umarmung.

Die Mutter hatte ihren Herzensbuben wiedergewonnen. Er lag wohl ein paar Tage lang krank in Fieber und Schmerzen, aber in der kleinen Krankenkammer herrschte doch ein wunderbarer, seliger Friede. Gerd mochte die Mutterhand kaum loslassen, die Blicke nicht losreißen von dem Muttergesicht.

Seit der eisigen Berührung der Nixenhand hatte ihn ein Schauer erfaßt gegen die Freundin aus der todbringenden Flut. Er mochte alle die schimmernden Spielsachen nicht mehr sehen, die sie ihm geschenkt, selbst den Reifen nicht, der geheimnisvollerweise am Abend des Johannistages vor der Schwelle der Hütte lag.

Alle die lieben, alten Spielsachen kamen wieder an die Reihe und wurden wie nach langer Trennung selig begrüßt; über den Holzreifen mit den sieben Regenbogenfarben war des Jubelns und Dankens kein Ende.

Da kam der armen Frau sehr selbstverständlich die Idee, die kostbaren Spielsachen, die ihr Prinzchen nicht mehr mochte, zu verkaufen. Daß sie solch eine Menge Geld vom Goldschmied in der Stadt dafür bekommen würde, hätte sie nicht im Traume geahnt. Sie fiel beinahe um vor freudigem Schreck.

O, was konnte sie nun für ihren Liebling tun! Ihn etwas Tüchtiges lernen lassen, weit, weit wegziehen mit ihm von dem gefährlichen Fluß!

Das war ein froher Abend, als sie mit ihrem großen Korb voll guter Dinge nach Haus kamen von diesem gemeinschaftlichen Gange.

Wie haben sie sich lieb gehabt, geherzt und geküßt und dazu geplaudert und gelacht!

Wie innig und glückselig klang's: »Meine Herzensmutter!«

»Mein Herzensbub!«


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