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Die Frau Nachbarin

Ein Märchen

Der kleine Otto kam heute eine Stunde früher als seine Gefährten aus der Schule nach Hause; er hatte in der Rechenstunde so heftige Kopfschmerzen bekommen, daß der Lehrer es ihm angesehen und ihn heimgeschickt hatte. Gesagt hätte Otto nichts.

Recht langsam schlich er die breite Treppe in dem großen Hause, in dem er mit seinen Eltern und Geschwistern wohnte, empor. Er merkte es gar nicht, daß auf den weichen Teppichen eine alte Frau hinter ihm dreinkam, und erschrak, als diese ihm plötzlich im Vorübergehen leise über das Haar strich, von dem er drunten im Flur die Mütze genommen hatte.

»Ist dir nicht wohl?« sagte die Frau mit sanfter, leiser Stimme. Aber Otto schüttelte nur stumm den schweren Kopf und blickte die Frau verwundert und träumerisch an. Uralt mußte sie sein, und sie sah mit ihrem grauen, altertümlichen Mantel und dem grauen Haubenhute aus, als käme sie aus einer ganz fremden Welt. Ihr Gesicht war lieb und fein, aber ganz blaß und welk, voll Runzeln und Fältchen vom Kinn bis zum schneeweißen Haar hinauf.

Schon gestern und vorgestern hatte Otto die Frau, die trotz ihres Alters gerade und aufrecht ging, auf der Treppe gesehen und war ihr mit den Blicken verwundert gefolgt.

»Vater,« fragte er bei Tisch, nachdem er lange, ohne zuzulangen, die dampfende Suppe in seinem Teller angestarrt hatte, »seit wann wohnt denn die alte, graue Frau in unserm Haus?«

»Welche Frau?« sagte der Vater verwundert. »In diesem Haus wohnt ja gar keine.«

»Ich sehe sie doch aber alle Tage auf der Treppe,« behauptete Otto und erzählte, wie die Frau aussah und wie leise sie einhergehe.

»Das wird wohl Frau Spinnweb gewesen sein, und du wirst die ganze Sache nur geträumt haben,« neckte die rotbäckige Schwester Hilde. Da die Magd schon das Fleischgericht hereinbrachte, gebot die Mutter etwas streng: »Jetzt schweigt endlich einmal, Kinder, und eßt!«

Das wohlgemeinte Gebot fuhr dem sonst immer heiteren, friedlichen Otto aber so ins Gemüt, daß er plötzlich laut zu schluchzen begann. Die andern schauten ihn an, als sähen sie nicht recht.

»Otto,« sagte der Vater ernst, »was soll denn das heißen?«

Im nächsten Moment aber blickten die Eltern einander mit besorgten Blicken an. »Ich glaube gar, Otto fiebert,« sagte die Mutter leise. »Komm, Otto, ich glaube, für dich ist's am besten, ich bringe dich ins Bett.«

Wie ein kleines Kind klammerte sich der elfjährige Junge im stillen Schlafzimmer an der Mutter Hals. Der Frost schüttelte ihn, und seine Backen glühten. »Muttel, ich wollte es dir nicht sagen, aber es ist mir wirklich sehr schlecht, mein Kopf tut so weh und ein bißchen auch der Hals.«

Eine Stunde später war es ganz dunkel im Kinderschlafstübchen. Der Doktor war da gewesen. Alles im Hause ging auf Zehen. Im Wohnzimmer packte das Stubenmädchen Hildes und Erichs Kleider und Schulsachen in große Körbe. Die beiden Kinder sollten aus des Doktors Befehl rasch zu einer Verwandten übersiedeln, denn der böse Feind, der Otto, den lieben, freundlichen kleinen Kerl, plötzlich so sehr verwandelt hatte, hieß das Scharlachfieber.

Die nächste Nacht ließ die treue Mutter nicht viel zur Ruhe kommen. Der Patient war sehr unruhig und brannte in Fieberglut. Das Gespräch am Mittagstisch schien ihm nicht aus dem Sinn zu kommen. »Ich werde es doch wissen,« rief er einmal über das andere, »ich hab' sie ja so deutlich gesehen, die alte Frau!«

Ja, er litt, er quälte sich im Fiebertraum der alten Frau wegen. Er wollte sie den Geschwistern, die er in seiner Nähe glaubte, immer beschreiben und konnte sich doch nicht mehr besinnen, wie sie aussah; ihre Züge, ihre Kleidung verwandelten sich immerfort in seinen Gedanken. Es war eine rechte Qual. Aber dann kam auf einmal etwas sehr Überraschendes. Die Tür des Krankenzimmers tat sich nämlich auf, und in ein graues Tuch gehüllt, ein altmodisches Leuchterchen in der hageren Hand, kam plötzlich mit freundlichem Kopfnicken die alte Frau leise hereingeschritten.

»Erich, Hilde!« rief Otto ganz erfreut. Aber die Geschwister, mit denen er sich eben noch im Traum herumgestritten, waren nicht mehr da, niemand war da als sie, die Lange, Graue, Ururalte.

»Darf ich mein Licht an deinem Nachtlämpchen anbrennen?« fragte sie, und dem kleinen Kranken wurde es gar wohl beim Klange ihrer freundlichen, sanften Stimme.

»Ach, gern!« sagte er und sah neugierig zu, wie das verschnörkelte, gelbe Lichtchen mit weißblauem, mondlichtartigem Flämmchen zu brennen begann.

»Nun finde ich den Weg hinauf,« sagte sie.

Otto spitzte die Ohren. »Hinauf?« fragte er. »Jetzt in der Nacht? Sie wohnen aber doch gar nicht in unserm Hause, hat der Vater gesagt?«

»Ich nicht?« entgegnete die Alte und sah ihn mit einem heiteren, geheimnisvollen und überlegenen Blicke an. »Du lieber Gott! Und wie lange, wie lange wohne ich schon hier!«

Otto wurde immer wißbegieriger. »Vater weiß es ja aber gar nicht,« sagte er. »Er müßte Ihnen die Wohnung doch vermietet haben, das Haus gehört ihm ja! In welcher Etage ist es denn?«

Die Alte lächelte fein. »Ganz oben,« sagte sie. »Dein Vater weiß freilich nichts davon. Kannst du schweigen, so will ich dir etwas sagen, was dir Spaß machen wird.«

Otto reichte der Alten die Hand. »Hand darauf! Ich kann schweigen! Ich habe sogar gewußt, daß Erich eine Eisenbahn zu Weihnachten bekommt, und habe ihm kein Wort gesagt.«

Die Frau sah immer freundlicher aus. »Nun denn, dann verlasse auch ich mich auf dich! Nun hör' einmal!«

Ihre Stimme wurde leiser, leiser, aber das Flüstern klang so traulich, so geheimnisvoll.

»Ehe dein Vater das Haus von deinem Großvater erbte und umbauen und schön und neu einrichten ließ, waren droben viele Stockwerke und in jedem viele Gänge und Treppen und Treppchen und viele Türen und Kämmerchen. In einem derselben wohne ich, und als es ans Umbauen ging, hat niemand die Tür desselben gefunden, so ähnlich sieht sie der Wand, und so gut ist sie eingefügt. Dir, Herzensjunge, möchte ich mein Reich einmal zeigen. Hast du Lust, so zieh dich an und komm mit in meine Wohnung!«

Otto meinte, das ginge wohl nicht, er sei ja krank, aber dabei war seine Seele doch voll großer Lust. Und ehe er sich's versah, hatte die alte Frau ihm auch schon in die Kleider geholfen und leuchtete mit ihrem blauen Flämmchen vor ihm her, und er ging ihr frisch und fröhlich nach und wußte nichts mehr von Schmerz und Fieber.

»Nur schnell, daß die Mutter mich nicht sucht!« sagte er. Und da standen sie schon oben auf dem obersten Platz der schönen Treppe zwischen den beiden großen Türen, hinter denen, wie es auf den Türschildern zu lesen war, rechts der Oberst von Kummer, links der Regierungsrat von Behrend wohnte. Das war im zweiten Stock. Damit war das Haus zu Ende.

Aber nein, die Alte schloß zwischen den beiden Türen, an denen die blanken Messingschilder glänzten, plötzlich eine dritte, bisher unsichtbare, auf, und der freundliche Lichtschein fiel auf ein Treppchen, das zu einem langen, langen Korridor hinaufführte. Ganz am Ende desselben quervor sah man eine Tür, durch deren Spalt goldener Schimmer quoll, und durch die lautes, glückseliges Lachen und Jauchzen tönte.

»Haben Sie denn Kinder?« fragte Otto seine alte Freundin ganz verwundert.

»Zu Besuch sind gerad' ein paar. Komm nur herein, Otto, die werden dir schon gefallen.«

Damit schob sie den Jungen freundlich zur geöffneten Tür hinein. Ein kleines, niederes Zimmer nahm ihn auf, das von keiner Lampe erleuchtet und doch von einem eigenen, rosigen Licht erfüllt war, und auf dessen Fensterbrettern trotz des Winters in irdenen Töpfen eine große Menge Rosen blühte. Ein Spinnrad und ein alter Lehnstuhl, auf dem ein schnurrendes Kätzchen lag, standen am Fenster. Die ganze Stube war mit altmodischem Gerät gefüllt, mit gebauchten Kommoden, aus deren halb offenen Fächern Hunderte von Kästchen und Schachteln heraussahen mit großen, geschnitzten Schränken, Truhen und Kästen.

Die Frau Nachbarin

Die Frau Nachbarin.

Um einen Tisch herum saßen vier wunderlich aussehende Kinder, zwei Knaben und zwei Mädchen, die beim Anblick ihres kleinen Gastes ihre lachende Unterhaltung rasch verstummen ließen und sich ihm zuwandten.

»Nur weiter, nur weiter!« mahnte die alte Frau. »Mein kleiner Otto wird bald mit euch bekannt sein, vor dem geniert euch nicht! Ich werde ihm gleich sagen, wer ihr seid. Hier, Otto, dies ist Ulrich Bohl« – sie zeigte auf den größten Knaben, der die langen, blonden Haare glatt gescheitelt trug und einen grünen Frack mit Goldknöpfen und eine Spitzenkrawatte anhatte.

»So hieß ja auch mein Urgroßvater,« sagte Otto erfreut.

»Ja, ja freilich,« meinte die Alte, »und sieh, diese hier ist die kleine Malwine Bohl, diese kleine, blasse.«

Ein süßes Gesichtchen, auf dessen weiße Stirn zu jeder Seite drei flachsblonde Schlangenlöckchen herniederfielen, nickte ihm zu.

»Komm, setz dich neben mich,« sagte das liebliche Kind, »ich will dir nun die beiden andern nennen. Christian und Christel Frohmann sind's, unsre liebsten Freunde, die wohnen unten im Erdgeschoß, wir im ersten Stock. Du, die sind gut! Wenn du die Christel bittest, läßt sie dich einmal an ihrer schwarzen Perlenkette riechen, die ist aus Rosenholz.«

Otto wollte eben sagen, im ersten Stock wohne er ja mit den Seinen, und im Erdgeschoß sei ja die Hofbuchhandlung von Paul Fiedler; aber die Rosenholzkette roch so wunderbar, und Christel war trotz der rötlichen Haare, die sie in dicken Zöpfen wie Rosetten um die Ohren herum trug, so bildhübsch und lustig, das weiße, tief ausgeschnittene Florkleidchen mit der grünen Taftschürze stand ihr so gut und der kleinen Malwine nicht minder das kornblumenblaue, zu dem sie ein rosa Halstuch und ausgeschnittene rosa Schuhe mit Kreuzbändern trug, kurz, alles war so eigen, so reizend, daß er alle Einwände darüber vergaß.

»Willst du denn mit uns spielen, du?« fragte der ernste, gravitätische Ulrich.

»Ja, ja, ja,« bat Malwine, in die kleinen Hände klatschend, »spiel mit! Wir spielen um Backpflaumen, um ganz große, süße, die hinterm Haus im Garten gewachsen sind.«

Otto wollte sich tot lachen. Er dachte an den winzigen, steingepflasterten Hof, der hinter dem Hause zwischen lauter hohen Seitengebäuden lag.

»Wir haben ja gar keinen Garten,« rief er.

Der gutmütig aussehende Christian machte ein ganz unglückliches Gesicht. »Jetzt fangt ihr wohl zu streiten an?« seufzte er. »Vorhin besorgten das Ulrich und die Christel. Otto, wie nennst du denn das, was du vom Fenster aus siehst, sonst, wenn nicht einen Garten?«

Mit überlegener Miene ging Otto auf den hohen Fenstertritt zu und sah hinaus. Da stieß er einen hellen Ruf der Überraschung aus, denn im hellen Mondschein lag drunten ein großes, großes Stück Gartenland voller Beete und Bäume, auf denen er wie heute im Stadtpark Schnee liegen zu sehen meinte. Als er aber genauer hinsah, ward sein Staunen noch größer; es war kein Schnee, es waren Blüten, Kirsch- und Pflaumen- und Apfelbäume, so dicht und massenhaft, wie er sie nie gesehen. »Das ist freilich ein herrlicher Garten,« sagte er.

Er zerbrach sich den Kopf, hinter welchem Seitenflügel dieses Wunderland, das er nie gesehen, wohl liegen könne, aber die Kinder ließen ihm keine Zeit zum Besinnen.

»Komm, komm,« riefen sie alle, »wir müssen bald wieder fort von hier!«

Auf dem Tisch lag ein großer Bogen voll kleiner Bildchen und ein Haufen Zahlpfennige aus weißem und buntfarbigem Elfenbein ausgebreitet.

»Wir spielen das Postkutschenspiel,« sagte die kleine Malwine, »das ist unser allerhübschestes.« Vier drollige kleine, gelbe Kutschen, mit verschiedenfarbigen Pferdchen bespannt, wurden auf das erste der vielen numerierten Bildchen, die Dörfer und Städte, Brücken, Schilderhäuser, Bäume und Berge darstellten, gesetzt, und nun ging das Würfeln los. Jedem Kind gehörte eine Kutsche. Christel hatte mit Otto zusammen eine nehmen wollen, aber da war der ernste Ulrich noch ernster und finsterer geworden, so daß die reizende Christel erschrocken sagte: »Nein, nein, Ulrich, ich spiele mit dir.«

Die beiden würfelten immer hohe Zahlen und waren dann auch bald allen andern voran. Sie kamen mit ihrem Kutschchen nach Glücksstadt und Freudenstadt, ins Wirtshaus zum Paradies und zum goldenen Born, und unter jedem Bildchen, zu dem sie gelangten, stand etwas Gutes: »Empfängt zehn gute Groschen aus der Kasse« oder: »Überspringt zehn Nummern« oder etwas Ähnliches.

»Die zwei haben Glück miteinander,« sagte die alte Frau, die mit am Tische stand. Das Malwinchen aber hatte gar kein Glück. Es mußte immer wieder umkehren mit seinem Kutschchen und seinem kohlschwarzen Pferdchen, und endlich würfelte es sich gar auf ein Bild, unter dem stand: »Kirchhof. Wer hierher gelangt, spielt nicht mehr mit.« Da legte das fröhliche Kind sein schönes Köpfchen auf den Tisch und weinte. Und dabei ging das rosige Licht auf einmal aus. Es war ganz dunkel im Stübchen.

»Wartet, wartet, ich brenne mein Lichtchen an,« sagte die Alte geschäftig, aber das Anbrennen dauerte lange; die Frau schlug erst zwei Steine aneinander, um Fünkchen zu gewinnen, und als die kleine Kerze endlich brannte, waren die vier fremden Kinder verschwunden.

»Die haben sich versteckt,« sagte Otto lustig und wollte sie suchen. Aber die Alte nahm den großen Jungen rasch auf den Arm und trug ihn wie im Fluge hinaus und die Treppe hinab; er lag in seinem Bett, ehe er sich recht besann. Und besinnen konnte er sich überhaupt nur einen Augenblick, dann kam gleich der Schlaf und brachte tolle Träume, und der Morgen kam mit fast unerträglichem Halsweh und so quälenden Kopfschmerzen, daß ihm das Denken von selbst verging.

Eiskalte Umschläge machten sie ihm und flößten ihm Medizin und Pulver ein, aber nichts half.

»Wenn ihr die liebe, alte Frau herunterholtet!« wimmerte er gegen Abend in seinen größten Schmerzen. »Vielleicht könnte die mir helfen.«

»Ottochen, es wohnt gewiß keine alte Frau oben,« antwortete die Mutter mit trauriger, sorgenvoller Stimme. »Wie steberst du doch wieder, lieber, armer Kerl!«

»Mutter,« schrie Otto ganz aufgeregt, »glaubst du's denn noch immer nicht, was doch so gewiß wahr ist? Wenn sie doch käme! Wenn sie doch käme, daß du sie sähest!«

Die Mutter streichelte und beruhigte ihn. »Still, still, mein Junge! Nicht aufregen! Wenn du ganz artig und ruhig liegst, kommt sie am Ende.«

Da lag er still und hörte nur auf das Pochen in seinem Kopfe. Oder pochte es an der Tür? Ja, ja! Jetzt hörte er's deutlich. Er bat die Mutter: »Mach auf!« aber die Mutter saß gar nicht mehr an seinem Bett. Da rief er selbst laut: »Herein! Herein!« Und die Tür ging auf, und er tat einen Schrei vor Freude – sie kam, die Alte, Freundliche, Liebe, bei der es ihm so gut ergangen, bei der er nichts von Krankheit und Schmerz gefühlt hatte.

»O, bitte, nimm mich wieder mit zu dir!« bat er. »Sag's der Mutter und nimm mich mit!«

Die Alte nickte voll herzlicher Güte. »Dein Mütterchen schläft, die stören wir nicht erst,« sagte sie. »Komm, zieh dich rasch an!« Sie warf ihm einen himmelblauen, silbergestickten Samtkittel über und band ihm einen weißen Gurt mit goldener Schnalle um. »Es ist ein Fest im Hause, ein Hochzeitsfest, das mußt du sehen. Hörst du's klingen? Das sind die Musikanten. Unter uns im großen Saale tanzen sie jetzt.«

»Bei Fiedlers? Im Buchladen?« fragte Otto ganz erstaunt. Aber da stand er schon unten und schritt mit der Alten durch die mit Blumengirlanden umkränzte offene Tür ins Erdgeschoß. Seltsam, die Buchhandlung war ja ausgeräumt, die Zimmer waren ganz hell gestrichen, und in einem saßen an langer Tafel, auf der in silbernen Leuchtern viele Kerzen brannten, eine Menge geputzter Menschen in altmodischer, reicher Tracht. Die Frauen trugen geblumte Seidenkleider und große, hohe Kämme im Haar, und die Gesichter der Männer blickten gravitätisch aus hohen, steifen Kragen heraus, die fast bis an die Ohren hinaufreichten. Große Blumensträuße in bunten Vasen und viele Weinflaschen standen auf dem Tisch, vor dem einen Paar aber, das in der Mitte der großen Tafel saß, stand ein Myrtenstrauß.

»Sieh, das ist das Brautpaar,« flüsterte die Alte. Da sah Otto genau hin, und sowohl der ernste Bräutigam mit der vollen blonden Haartolle als auch die bildschöne Braut im apfelgrünen Seidenkleid, mit den rosigen Wangen, dem rötlichen Haar und den lustigen schwarzen Augen kamen ihm merkwürdig bekannt vor. Beinahe wie der kleine Ulrich und die kleine Christel von gestern sahen sie aus, nur viel, viel älter.

»Sind das Ulrichs und Christels große Geschwister?« fragte er seine alte Freundin.

Sie lächelte. »Sie sind es ja selbst,« sagte sie. »Kennst du sie nicht? Seit du sie zuletzt sahst, sind viele, viele Jahre vergangen. Heute sind sie Mann und Frau geworden.«

Otto schüttelte den Kopf. Wie sollte er das begreifen? Aber die freundliche Alte zog ihn rasch in den Nebensaal, wo die Flöten und Geigen klangen und die jungen Leute sich langsam und zierlich, mit vielen Knicksen und Verbeugungen, mit schleifenden Schritten im Tanze drehten. Ein einziger tanzte nicht, sondern saß einsam in einer Ecke und schaute traurig vor sich hin. Er hatte ein gutes Gesicht, ein so bekanntes – wirklich, ja wirklich – der kleine Christian von gestern, der nun auch groß und erwachsen aussah, war's.

Otto besann sich nicht lange, sondern lief mitten durch die Tanzenden durch auf ihn zu.

»Ist die kleine Malwine denn nicht mit hier?« fragte er und zupfte den Einsamen, der ihn nicht gewahrte, leise am Ärmel. Da stieß der junge Mann einen tiefen, schmerzlichen Seufzer aus.

»Die ist ja tot,« sagte er und sah Otto an, als könne er gar nicht begreifen, daß ein Mensch dieses Traurige noch nicht wisse. »Seit einem Jahr beweinen wir sie.«

Damit zog er eine goldene Kapsel hervor, die er an einem schwarzen Bande um den Hals trug, öffnete sie und schaute unverwandt auf das darin befindliche kleine Bild. Otto reckte den Hals, um auch etwas zu sehen, und endlich gelang es ihm auch. Da stieß er ein so lautes »Ach!« der Verwunderung aus, daß die ganze Tanzgesellschaft zu ihm herblickte.

»Das ist ja das Bild meiner Urgroßtante, das die Mama in ihrem Schreibtisch aufhebt,« sagte er.

Eine tiefe Stimme neben ihm rief: »Naseweis!« und als er sich umwandte, stand einer der alten Herren von der Hochzeitstafel neben ihm und sah ihn bitterböse an.

»Wer bist du denn, vorlauter Bursch?« fragte er. Der Tanz war unterbrochen, und alle stellten sich um den Knaben her und warteten auf die Antwort.

Aber Otto konnte sich seines Namens auf einmal durchaus nicht mehr erinnern. Er mochte sein Gedächtnis anstrengen, wie er wollte, er wußte nicht, woher er kam, und nicht, wer er war. Sein Herz schlug vor Angst immer lauter und lauter, immer mehr fremde Gesichter drängten sich um ihn her – da, Gott sei Dank, endlich ein liebes, bekanntes! Alle andern mit ihrem schneeweißen Haupt überragend, kam seine alte Freundin auf ihn zu und nahm ihn freundlich bei der Hand. Sie flüsterte den Umstehenden rasch ein paar Worte zu, die er nicht verstand. Die Gesichter wurden wieder freundlicher, aber der alte Herr schüttelte doch bedenklich den Kopf und sagte: »Führen Sie ihn lieber wieder fort!«

Da brachte die Alte ihn still hinaus, und als sie die Treppe zusammen hinaufstiegen, bat Otto: »Nehmen Sie mich mit in Ihr Stübchen, da ist's am allerschönsten!«

»Das glaub' ich wohl,« sagte sie und lachte, »aber heute ist's zu spät. Morgen! Morgen! Ich lade dir wieder Kinder ein, das magst du ja gern.«

Und nun brachte sie ihn heim, und er konnte sich zwischen Schmerzen und ängstlichen Träumen durch wieder einen ganzen Tag lang auf das Morgen freuen.

Kaum war er am Abend einmal ein paar Minuten allein, so hörte er richtig wieder ihren zutraulichen Schritt. Sie trug ihren kleinen Leuchter in der Hand und brannte das Licht an seinem Krankenlämpchen an, dann warf sie ihm mit einem Husch seine Kleider über, und lachend und schwatzend wie zwei alte Bekannte stiegen sie miteinander die Treppe hinauf. Das Schloß zu der verborgenen Tür sah er beim Schein des blauen Lichtchens nun selbst. Sie gab ihm den Schlüssel in die Hand, und er durfte aufschließen.

Da kam mit lautem Hü und Hott etwas Absonderliches den Gang heruntergejagt: ein Dreigespann von braunlockigen Buben vor einem Wägelchen, das eigentlich eine große Fußbank war, und in dem ein niedliches kleines Mädchen saß.

»Die Bertel!« sagten die Buben, die gleich ganz bekannt taten. »Komm du, Otto, oder wie du heißt, du darfst den Wagen schieben.«

Im Galopp ging's den langen Gang zurück, so rasch, daß Bertels blonde Locken Otto ums Gesicht flogen. Drin im Stübchen nahm das kleine Mädchen gleich Ottos Hand und zeigte ihm alle ihre Spielsachen, die große Schäferei, die Stadt aus Holz, die steife, häßliche Holzpuppe, die Röschen hieß, und zwei kleine Wasserkannen. Der älteste Junge, der etwa dreizehnjährig war, rief: »Du, wir wollen mal sehen, wer stärker ist!« und streckte Otto die kräftigen Arme, von denen er die Ärmel des gelblichen Leinenkittels emporgestreift hatte, mutig zum angebotenen Ringkampf entgegen.

Otto packte lustig an, aber im Nu hatte der kräftige Gegner ihn bezwungen.

»Ich werde mit allen fertig,« sagte er stolz. »Reiten, fechten, schwimmen kann ich auch. Und ich bin auch schon einmal mit dem Onkel Christian auf der Eisenbahn gefahren und habe keine Angst gehabt.«

Otto konnte das Lachen nicht unterdrücken. »Potztausend!« spottete er. »Einmal? Ein ganzes Mal? Und Angst? Was ist denn da für Angst zu haben?«

Da sah er, wie die alte Herrin des Stübchens ihm zuzwinkerte, er möge nicht so reden. »Wie heißt ihr denn?« fragte er die Knaben, um doch etwas zu sagen.

»Ich – Theodor!« – »Ich – Guido!« – »Ich Christian Friedrich,« sagten die Buben.

»Wie komisch! Wie mein Großvater und die beiden Großonkels,« meinte Otto. Die Buben hörten gar nicht darauf, sie waren unbeschreiblich wild und machten ihrem Gast allerlei wunderbare Turnkunststücke vor, wobei sie immer fragten: »Kannst du das auch?«

Nur als das Schwesterchen einmal sagte: »Jetzt sing' ich etwas,« wurden sie ein paar Augenblicke still und hörten freundlich zu, wie die Kleine mit ihrem feinen Sümmchen anhob:

»Ein Schäfermädchen weidete« – – – Und dann:

»Herr Nachbar, ach, borgt mir doch Eure Latern'! Es ist ja so finster und scheinet kein Stern.«

Als sie fertig war, wollten sie die wilden Jungen halb tot küssen vor Lustigkeit und stürmischer Liebe.

»Bertel,« sagte der Ältere und steckte ihr eine Handvoll Haselnüsse in das hellblaue Perlentäschchen, das sie umgehängt trug, »in drei Jahren bin ich groß, dann komm' ich nach London in die Lehre, und dort kauf' ich dir die feinste Puppe.«

»Und ich werde Maler, ich geh' nach Italien und schick' dir einmal eine ganze Kiste Apfelsinen,« versprach Guido.

Der dritte aber sagte: »Wenn's weiter nichts ist! Ich will ins Kapland gehen und Diamanten suchen. Und hundert schick' ich dir allermindestens, Bertel! Dafür kannst du dir das allerschönste Schloß kaufen.«

Dieses großartige Versprechen brachte den Ältesten aber in heißen Zorn. »Du Prahlhans,« sagte er, »versprechen ist leicht!« Der Beleidigte rief: »Du Grobian!« Und der dritte schrie: »Kämpft ums Recht! Haut euch! Hurra!«

Und gleich darauf lagen sie sich in den Haaren, nicht nur die zwei Streitenden, sondern auch der dritte mit, und der Kampf war heiß und ging über alles hinweg, was auf der Erde und auf dem Tische lag und stand: Schwesterchens kleine Stadt, die Schäferei und die magere Puppe Röschen mit ihren zwei Wasserkannen. Kaum ein Stück von allem blieb heil, und das Bertel schrie und jammerte um ihr Eigentum, bis die Tür aufging und eine fröhlich und gütig aussehende Frau mit gesundem, frischem Gesicht und großer, kräftiger Gestalt auf einmal in der Stube erschien.

Man sah ihr an, sie wollte schelten. Aber die Buben hingen im Nu allesamt an ihrem Halse, vergaßen allen Streit und riefen: »Bleib ein bißchen da, Mutter!« und die Kleine sammelte ihre zerbrochenen Schätze friedlich in ihr Schürzchen und bettelte: »Mach mir's wieder ganz, Mutter!« Von unten aber rief eine Männerstimme: »Christel, Frau, komm, es ist Besuch da!« Da eilte sie hinaus, daß in dem Schlüsselkorb, den sie am Arme trug, alle Schlüssel klapperten.

Die Kinder aber stürmten ihr jubelnd nach, und Otto blieb mit der Alten, die in der Fensternische still ihren gleichmäßigen Faden spann, allein zurück. Die Gedanken gingen ihm wirr im Kopf herum.

»Du, sind das Ulrichs und Christels Kinder gewesen?« fragte er endlich und setzte sich müde zu der Alten Füßen hin.

»Freilich, das waren sie,« sagte die Alte und spann weiter.

»Wie der Theodor muß Großvater gewesen sein, als er klein war, und die Großonkels waren gewiß die beiden andern. Großonkel Guido ging ja auch wirklich nach Italien und Großonkel Christian Friedrich ist nach dem Kaplande gegangen, aber Diamanten hat er der Großtante nie geschickt, nur sein kleines Mädchen schickte er ihr, ehe er starb, und das hatte sie groß gezogen; das ist Tante Ernstine, zu der die Geschwister jetzt geschickt worden sind.«

Die Alte nickte.

»Hast du noch mehr Bekannte?« fragte Otto, seinen Kopf in ihren Schoß legend.

Sie streichelte ihn freundlich mit der weichen Hand: »Viele, viele noch!«

»Darf ich noch recht oft wiederkommen?« bat er.

Da wurde sie ernst.

»Mein Junge,« sagte sie, »allzu viel mit mir und meinen Bekannten umzugehen, ist für ein Kind nicht gut. Für ein krankes mag's noch gehen, aber die schlimmsten Tage deiner Krankheit sind nun vorüber, und du sollst gesund werden. Höchstens will ich dich jetzt noch manchmal ein Stündchen in meinen Schachteln und Kästen kramen lassen. Willst du das?«

»Ach ja!« sagte Otto und zog die alte, hagere Hand der Frau dankbar an seine Wange.

*

»Sie muß mich gestern schlafend hinuntergetragen und ins Bett gelegt haben,« überlegte er sich am nächsten Morgen. Er konnte sich auf das Nachhausekommen gar nicht mehr besinnen.

»Wie war's nun diese Nacht? Wann bin ich denn von meiner alten Frau nach Hause gekommen?« fragte er die Mutter.

Die sah ihn glücklich an. »Bis drei Uhr dauerte das furchtbare Fieber. Da bist du ruhig eingeschlafen. Gott sei Dank, die schlimmste Gefahr ist vorüber! Du wirst nun gesund.«

»Aber die Schachteln darf ich mir doch noch ansehen oben bei der alten Frau,« bat Otto weinerlich.

Die Mutter lachte. »Du Hans-Närrchen mit deiner alten Frau! Sieh du dir die Schachteln ruhig noch an! Ich acht Tagen wirst du über deine Fieberträume lachen.«

Aber Otto machte ein sehr altkluges Gesicht. »Mutter, ich frage die Frau heute, wie sie heißt, daß du mir nur endlich, endlich einmal glaubst.«

»Tu das!« sagte die Mutter und küßte ihn. »Sie wird aber wohl gar nicht wiederkommen.«

Otto sagte ganz ruhig: »Mutter, sie hat es ja versprochen!«

»Was mag nur in den vielen Kasten sein?« dachte er den ganzen Tag. Die Neugierde ließ ihm gar keine Ruhe.

Er malte sich die reizendsten und kostbarsten Dinge aus und war sehr aufgeregt, als der Abend kam und die Alte gar nicht erscheinen wollte. In schlechter Laune schlief er ein. Aber da war er auf einmal doch im wohlbekannten Stübchen, und seine Freundin war sehr gut zu ihm wie nie vorher.

»Sieh dir nur an, was du willst,« sagte sie, »zieh alle Fächer auf, öffne alle Kasten. Ich habe nichts dagegen. Mir ahnt, daß du heute zum letzten Male für sehr lange Zeit zu mir gekommen bist.«

»Da irren Sie!« sagte Otto, aber die Alte meinte: »Wir wollen's abwarten!«

Und dann gab sie ihm den großen Schlüsselbund in die Hand und zeigte ihm, zu welchen Schlössern alle die sonderbaren, rostigen, seltsam geformten Schlüssel paßten. Selig zog er das erste beste Kommodenfach auf und nahm Kasten auf Kasten aus demselben heraus.

Als er den ersten öffnete, bot sich ihm eine große Enttäuschung. Uralte, vergilbte Kinderwäsche, Häubchen und Jäckchen lagen darin, mit einem Trauerflor zugedeckt. Ganz ärgerlich warf er die Sachen beiseite und klappte das zweite Kästchen auf. Der Inhalt bestand aus einem welken Myrtenkranz.

Der dritte Kasten enthielt Briefe (nicht einmal im Couvert mit Marken darauf! Die schien die alte Frau gar nicht geachtet und längst weggeworfen zu haben!) im vierten war vollends nur Erde und Staub.

Die Alte wollte alle diese Dinge erklären, sagen, woher sie stammten, und auf wen sie sich bezogen.

Aber Otto mochte gar nichts hören, sondern suchte und kramte immer weiter. In irgend einem Kasten mußte doch endlich etwas Hübsches sein. Aber hübsch war nichts von all dem Rumpelzeug, das er fand. Ein Paar vertretene Schühchen kamen zum Vorschein, ein Kinderstrickzeug mit verrosteten Nadeln, eine alte Tabaksdose, ein leerer Geldbeutel von verblichener Seide und endlich ein großes Paket Haarsträhne, vom goldhellsten Kinderhaar bis zum silberhellsten Haar uralter Leute.

Otto war sehr, sehr verstimmt. »Aus solchen Sachen mach' ich mir nichts. Hast du denn gar nichts Ordentliches, gar nichts Gutes und Neues?« fragte er.

Die Alte schüttelte den Kopf. »Was sollte ich wohl mit Neuem anfangen?« sagte sie freundlich. »Nein, nur alte, ganz alte Sachen sind für mich wertvoll, die halt' ich und heb' ich auf.«

Otto stand noch ein Weilchen unschlüssig im Stübchen. Es gefiel ihm heute lange nicht so gut wie gestern, und plötzlich machte ihn die dumpfe Luft sogar ganz beklommen. Wie Heimweh stieg's in ihm auf, und er gab der Alten rasch die Hand und sagte: »Ich will nun nach Hause gehen.«

»Geh,« sagte sie, »Gott segne dich!«

Er war schon an der Tür, da wandte er sich noch einmal um und bat: »Bitte, seien Sie so gut und sagen Sie mir, ehe ich gehe, doch noch, wie Sie heißen!«

»Gern,« sagte sie, ging auf ihn zu, kniete neben ihn hin und sagte ihm ihren Namen ganz heimlich ins Ohr.

Am andern Morgen fragte die Mutter gleich beim Erwachen: »Nun, Otto, hast du gefragt? Wie heißt denn deine alte Frau?«

»Mutter,« sagte er, »sie sprach so leise, ich hab' es nicht genau verstanden. Frau Immerjung oder Frau Erinnerung – so ähnlich war es. Aber weißt du, diese Nacht war's gar nicht so hübsch bei ihr, und ich war auch gar nicht lange oben. Morgen möcht' ich am liebsten gar nicht mehr hinauf.«

Da setzte die Mutter sich zu ihm und erklärte ihm genau und ausführlich, daß er überhaupt nicht fortgekommen sei. Er habe sich die ganzen Besuche bei der grauen Alten in seinen Fieberträumen nur eingebildet.

Otto war nicht zu überzeugen. Er erzählte genau, wie alles gewesen war, und Vater und Mutter staunten, wie sich die Vergangenheit des Hauses in ihres Kindes Phantasien gespiegelt hatte. Freilich hatten sie selbst ihren Kindern immer gar zu gern von den alten Zeiten und den längstverstorbenen Menschen ihrer Verwandtschaft erzählt.

»Aber ich habe die alte Frau ja schon vor meiner Krankheit auf der Treppe gesehen,« sagte Otto.

»I, wer weiß, wer das gewesen ist, vielleicht Behrends alte Nähmamsell,« meinte die Köchin, die gerade im Schlafzimmer war.

Otto brummte ganz wütend: »Sonst was!« und nahm sich vor, sobald er gesund sei, die Tür oben zu suchen und die alte Frau herunterzuholen.

Gesund wurde er bald, aber wie er auch suchte und suchte, die Tür hat er nicht gefunden. Und wer seine alte Freundin war, und ob sie eigentlich Frau Immerjung oder Frau Erinnerung hieß, weiß er heute noch nicht.


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