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In den Blaubeeren

Doktor Ehrhardts Marie, im Dorfe Mieze Doktor genannt, ging mit dreißig Jungen und vierzig Mädchen zusammen in die unterste Klasse der Dorfschule zu Dittelbach, einem großen Dorf im Thüringer Walde. Mieze war entzückt hierüber, denn nun lernte sie alle Dorfkinder, die sie sonst nur von fern gesehen hatte, näher kennen. Fast alle waren gut zu ihr, manche ganz besonders. Die erzählten ihr zutraulich von ihren Gänsen und Ziegen, von ihrem Schweinchen und ihrer Kuh zu Haus. Dann und wann brachte ihr ein Kind sogar etwas mit, Schlossers Liesel zum Beispiel einen kleinen Strauß Stiefmütterchen und Tausendschön und die Hirten-Emilie gar ein Nest mit einem winzigen Singvogelei, das ihr Vater von den Alten verlassen in einem Busch gefunden hatte.

»Da hast du was!« – »Da geb' ich dir etwas!« flüsterten die Geberinnen dann immer sehr stolz und dabei doch etwas verschämt. Schenken war eigentlich in der Klasse nicht Sitte, aber die Mieze Doktor war beliebt. Nach näherem Bekanntwerden kamen manche Kinder auch zu ihr, und sie besuchte sie wieder. Das letztere war ihr viel lieber, denn bei ihr zu Haus gab es höchstens Puppensachen zum Spielen, fast alle ihre Kameradinnen aber hatten lauter lebendige Puppen, nämlich kleine Geschwister, und Mütterchen spielen mit lebendigen Kleinen war Mieze Doktors allerliebstes Spiel. Sie war das einzige Kind ihrer Eltern. Ein Kindchen an- und ausziehen, zu füttern, zu warten, es im Wägelchen zu fahren, ihm die Söckchen über die niedlichen Füße zu ziehen, war für sie ein ganz eigenes Glück und bereitete ihr ein ganz außerordentliches Vergnügen.

Dieses gönnten ihr die Dorfkinder – sehr stolz, daß sie solche Freuden zu verschenken hatten. Wäre Mieze Doktor nicht gewesen, so hätten sie gar nicht gewußt, daß es etwas Beneidenswertes sei, kleine Geschwister zu haben und sie warten und päppeln zu können, wenn die Eltern auf dem Felde sind oder ihrer Arbeit nachgehen.

An den Arbeiten in den kleinen Dorfhäusern konnte Mieze, deren Vater bis vor kurzem Arzt in einer Stadt gewesen war, sich auch kaum satt sehen. Da klapperten die großen Webstühle, und durch Hunderte von langen, straffgespannten Längsfaden flog das Webschiffchen der Quere hin und her. Im Hause neben dem Weber wurden große Käse gemacht. Meister Drechsler, dessen kleine Hedwig Miezes Schulnachbarin war, drehte auf seiner Drehbank Pfeifenköpfe. Viele Frauen überspannen kleine Metallringe mit weißem Zwirn zu Hemdenknöpfchen, und Kinder, sogar schon solche in Maries Alter, halfen ihnen dabei. Andere Frauen nähten aus Flachsfasern Puppenperücken für die große Puppenfabrik im nächsten Ort. Flink und fleißig ging's fast in jedem Hause zu, und dabei war es in den Stuben bei aller Einfachheit so hübsch und sauber. Singende Vögel, Schwarzblättchen und Finken, hingen in kleinen, länglichen Bauern außen an den Fensterkreuzen im Sonnenschein oder, wenn es regnerisch und kalt war, innen an den weißgetünchten Stubenwänden. Ihre zwei hellen Augen reichten der Mieze kaum, um das alles zu sehen, und in den Pausen zwischen den Schulstunden hätte sie auch mehr als zwei Ohren haben mögen, um all den Schwatz der andern Kinder über ihr Leben daheim zu verstehen. In der Dorfsprache der Kinder war das oft gar nicht so leicht.

Statt aber die Ohren zu spitzen, hielt die brave Mieze sich umgekehrt die ihrigen noch recht fest zu. »Bst! Bst!« zischelte und tuschelte sie in einem fort. »Stille sein! Ihr sollt doch stille sein! Der Herr Lehrer hat's doch gesagt!«

Das Schwatzen war in der Klasse nämlich streng verboten. Wenn alle siebzig Kinder geschwatzt hätten, so wäre das ja ein kolossaler Spektakel geworden! Der Lehrer hatte deshalb die laute Schulstubenunterhaltung während der Pausen und vor der Schule streng untersagt. Doch dieses Sprechverbot hatte noch einen andern Grund, und Mieze kannte diesen ganz genau.

»Folg' dem Herrn Lehrer ja recht gut!« hatte der Vater ihr am Morgen ihres ersten Schultages gesagt. »Gib dir recht viel Mühe und ärgere ihn nie! Der ist sehr krank gewesen und ist immer noch leidend. Wenn du die andern Kinder erst kennst, so sorge nur, soviel du kannst, dafür, daß sie aufs Wort folgen, damit der Herr Lehrer ja nicht mehr als nötig zu reden und sich ja nie zu ärgern braucht.«

Infolge dieser Mahnung war die Mieze eine ängstliche kleine Aufpasserin geworden. Sie sah es dem Lehrer selbst an, daß ihm das Herz oder sonst etwas in der Brust weh tat, wenn er laut zanken mußte.

»Du bist auch nichts Besseres als wir! Du hast uns nichts zu sagen!« schimpften wohl ein paar grobe Jungen, wenn Mieze gar so ängstlich Ruhe gebot. Einige unverbesserliche Schwatzliesen setzten auch trotz ihrer Bitten die Unterhaltung unermüdlich fort.

»Wir hamm heut mittag Leinölkräpfel!«

»Wir hamm Kartoffelpuffer und Kaffee!«

»Unsere Gans hat dreißig Wiewerle!«

»Ich hab' drei bunte Bildchen von meiner Pat' gekriegt!«

»Wies mal her!«

»Da, gucke!«

So ging's immer weiter.

Halb böse waren die Kinder wohl auf die Mieze, die alle diese wichtigen Unterhaltungen störte, aber doch waren sie ihr alle gleich wieder recht gut. Sie war ja sehr brav, und ihr war's selbst so ernst mit dem Stillesein. Deshalb blieben die Suse und Tiene, die Liese und Line, die Hedwig und Hanne ihre guten Freundinnen nach wie vor, zeigten ihr nach der Schule unter den Hecken an den Wiesenrändern die Veilchenstellen, ließen sie die kleinen Kinder fahren, nahmen sie mit in den Ziegenstall und versprachen ihr, sie im Sommer auch mitzunehmen, wenn sie auf die Blaubeerensuche in den Tannenwald gehen würden.

Blaubeeren suchen – das hatte Mieze schon im vorigen Sommer gemerkt – war für alle Kinder des Dorfes das höchste Fest. Scharenweise zogen sie dann mit ihren schmalen, hohen Kiepen auf dem Rücken in den eine gute Stunde entfernten alten, hohen Nadelwald, dessen Boden, soweit das Auge reichte, zwischen den Stämmen dick und hoch mit grünem Heidelbeerkraut bewachsen war. Unter lautem Gesang zogen sie immer nachmittags hinaus, unter etwas leiserem, müderem Gesang kehrten sie abends mit den gefüllten Körben wieder ins Dorf zurück.

»Dies Jahr darfste mitgeh,« hatten die Wichtigsten in der Klasse der Doktor-Mieze im Mai schon verheißen.

Von da bis zur Blaubeerzeit kam aber manches anders, als es gewesen war. Die Schwatzbasen und Schwatzgevattern auf den Mädchen- und Jungenbänken der Klasse waren daran schuld.

»Soeben wurde trotz meines Verbotes wieder laut geschwatzt,« mußte der Lehrer bei seinem Eintritt in die Klasse mehrmals in sehr strengem und traurigem Tone sagen.

»Meldet euch! Wer war es?« fragte er einstmals ernst.

Darauf verstummte auch der allerleiseste, bescheidenste Redelaut. Niemand schien den Mund auftun zu können.

»Ich muß jetzt Ernst machen,« sagte der Lehrer da an einem schönen Tage in der ersten Sommerzeit. »Ordnung muß sein! Gefolgt muß werden! Mariechen Ehrhardt, du bist die beste Schreiberin und die einzige, die Worte schon deutlich und richtig an die Tafel schreiben kann. Von morgen an sollst du mir helfen Ordnung schaffen. Willst du das?«

Doktors Mieze war aufgesprungen und sah den Lehrer mit ihren treuherzigen blauen Augen aus dem feinen Gesichtchen, um das die blonden Locken wie Sonnenschein strahlten, feierlich und glücklich an.

»Ja!« sagte sie laut und fest.

»So stell' dich morgen vor der Schule und in der Pause nach dem Wiederhereinkommen an die Wandtafel und schreibe die Namen der Schwätzer an. Hörst du wohl?«

Mieze sagte wieder ja, aber lange nicht mehr so laut und viel länger gedehnt als das erstemal. Sie hatte sich das Helfen anders gedacht. Ihr kleines Gemüt wurde auf einmal bang und bedrückt, und sie ging an diesem Tage still und allein, in tiefem Nachsinnen, ohne sich um die andern und deren kleine Geschwister vor den Haustüren zu kümmern, nach Haus.

Mit großen, ängstlichen Augen bat sie am nächsten Morgen schon vor der Schultür auf dem Spielplatz draußen ein Trüppchen Kinder nach dem andern: »Ach, bitte, schwatzt doch nur heut einmal nicht!«

»Akrat!« gab ihr da Tritschlers Artur, der keckste unter den Buben, patzig zur Antwort. »Du wirst uns doch nicht aufschreib'? Du wirst uns doch nicht verklatsch'? So wirst du doch nicht sein? Da müßtest du dich doch schäm'!«

»Nu akrat!« Mit diesem Wort schien der kleine, als Unheilstifter im ganzen Dorf bekannte Bengel alle seine Kumpane angesteckt zu haben.

Mieze stand auf ihrem Aufseherposten vor der schwarzen Tafel in zitternder Angst.

So lebhaft wie heute war das Schwätzen und Summen noch nie gewesen. Viele Jungen und Mädel schienen sich einen Spaß daraus zu machen, die Aufpasserin zu necken und zu ärgern. Das schwirrte und surrte nur so von allerhand Neuigkeiten.

»Ich darf meinem Vater heute den Kaffee in die Zimmerstätte trag',« sagte Hanne.

»Ich hab' dem Hirten sein Horn gestern heimtrag' dürfen,« verkündete Tritschlers Artur stolz.

»Unterm Steg über den Molschbach hab' ich 'ne Forell' gsihn!« übertrumpfte ihn sein Nachbar.

»Im Busch hinter der Hefenmühle, da gibt's schon brav Erdbeeren!« wußte ein kleines Mädel zu berichten.

»Ruhig! Ruhig!« rief flehenden Tones Mieze immer wieder in all die schwirrende Unruhe hinein. Jetzt hatte sie sich vorgenommen, noch bis zehn zu zählen. Wenn es da nicht ruhig wurde, mußte sie die Schwätzer anschreiben.

Aber es wurde nicht ruhig, so langsam sie auch bis zehn zählte. Nun nahm sie mit schwerem Herzen die Kreide zur Hand und stieg auf die Fußbank, um auf die Tafel hinaufzulangen.

»Lina Grübel,« schrieb sie mit deutlichen Buchstaben auf den schwarzen Grund. »Artur Tritschler« kam dann gleich darunter. Und da das Geflüster nicht verstummte, sondern sich nur stärker erhob, kam gleich noch ein halbes Dutzend Namen, denn nun galt es, auch die ganze Wahrheit zu bekennen.

»Auguste Füldner; Hedwig Hornschuh; Valentin Wiegand; Karl Ewald; Ida Kleinsteuber; Elisabeth Nonn« usw.

Zwölf Namen waren es im ganzen; so viel Kinder hatte sie genau als Schwätzer erkannt.

»Die würden nun wohl tüchtige Hiebe bekommen!« dachte sie mit schwerem Herzen, und mitleidig wollte sie eben die Namen wieder weglöschen. Aber gerade als sie mit dem Schwamme über die Tafel fahren wollte, betrat der Lehrer die Schulstube.

»Halt, was willst du machen?« rief er schon von der Tür aus der erschrockenen Mieze zu. »Laß nur die Namen stehen! Dein Mitleid ist hier nicht angebracht! Wer nicht hören will, muß fühlen.«

Gewöhnlich setzte es für ertappte und unverbesserliche Schwätzer ein paar leichte, aber doch fühlbare Schläge auf die Hand.

Der Herr Lehrer konnte sich wohl denken, wie jeder Schlag heute der Mieze selber durchs Herz gehen würde. Deshalb verkündete er nur kurz:

»Die zwölf, die hier aufgeschrieben sind, werden heute in der Frühstückspause nicht auf den Spielplatz gehen, sondern im Schulzimmer bleiben.«

Das war für die Dorfkinder eine viel schlimmere Strafe als die derbste Fingerklopfe.

Laut aufweinend nahmen einige die angekündigte Strafe auf. Diese Weinenden steckten die andern an. Alle Bestraften schluchzten, immer lauter und lauter. Es war ein schreckliches Geheul und Geschrei, wie es in der Schule noch gar nicht dagewesen war. Aber mäuschenstill war es danach an diesem Tag zwischen den Stunden im großen Schulzimmer. Keine einzige Schwatzstimme erhob sich mehr.

»Da das Mittel so gut geholfen hat, bitte ich dich, von nun an immer außer den Stunden vorn an der Tafel zu stehen und aufzupassen, Marie Ehrhardt. Willst du das wohl tun?« redete der Lehrer am andern Morgen vor dem Schulanfang die Doktors-Mieze an.

Die flüsterte kaum hörbar »ja!« So glücklich sie war, dem Lehrer zu helfen, sie hätte den Auftrag doch zehnmal lieber nicht gehabt. Denn die Schulkinder waren jetzt so eigen zu ihr. Die gestraften Buben hatten sie gestern bitterböse angesehen, und Schlossers Liesel hatte sie unsanft zurückgestoßen, als sie sie unterwegs leise fragte, ob sie heute einmal mit zu ihr hineinkommen dürfte, ihr Schwesterchen, das Bäbbchen, im Kinderwägelchen zu sehen.

»Klatsche! Angeberin!« hatte sie heute früh schon ein paarmal zischeln hören.

Deshalb stand sie ganz blaß und verlegen in großer Sorge auf ihrem Aufpasserposten.

Der wurde ihr aber leichter gemacht, als sie dachte. Kein Kind tat heute auch nur einen Mucks. Gerade, stramm und still, mit gefalteten Händen, wie es ihnen geboten war, saßen sie alle auf ihren Plätzen. Wie war Mieze froh! Kein Name kam an die Wandtafel. Als der Lehrer in die Klasse kam, huschte zum erstenmal seit langer Zeit ein sonnigfreundliches Lächeln über sein Gesicht. In ebenso musterhaftem Schweigen saßen die Kinder auch nach der Frühstückspause wieder auf ihren Plätzen. Es war ein glänzender Schultag.

»Gewonnen!« dachte der Lehrer von Herzen froh bei sich. Er streichelte Miezes Köpfchen, als sie nach Schulschluß in der langen Kinderreihe an ihm vorüberging, mit liebevoller Hand. Das tat ihr wohl, der kleinen Marie, wohl bis tief in ihr banges Herz hinein. Sie hätte weinen mögen schon den ganzen langen Vormittag. Warum, das hätte sie eigentlich nicht sagen können. Niemand hatte ihr etwas getan. Es war nur alles anders, als es sonst gewesen war. Die Kameradinnen antworteten ihr wohl, wenn sie mit ihnen sprach, sie ließen sie auch mitspielen; nur die Blicke, mit denen sie sie anschauten, waren nicht wie sonst, und keine sprach sie zuerst an. Manchmal standen auch ein paar flüsternd zusammen und schauten dann rasch und finster nach ihr hin. Zutraulich und gemütlich wie sonst war es nicht mehr.

Auf dem Schulwege spürte sie das dann noch viel mehr.

»Magste mitkomm'? Magste mei' Brüderchen betracht'? Magste sihn, wie ich mei' Zicke melke? Magst mit Eier such' im Hühnerstall?« war sie da sonst von allen Seiten aufgefordert worden, so daß sie nur die Wahl hatte, welchem dieser großen Vergnügen sie sich zuerst hingeben sollte. Heute gab ihr kein Kind ein gutes Wort. Sie selbst fragte endlich ganz schüchtern einen kleinen Trupp, an den sie sich angeschlossen: »Was hab' ich euch denn getan?«

Die Kinder guckten sich untereinander an.

»Gih nur, du bist 'ne Angeberin!« sagte endlich Schlossers braune Liesel, das Näschen verächtlich rümpfend.

Mieze kam in die heftigste Aufregung.

»Ich kann doch nichts dafür! Der Lehrer hat mich's doch geheißen! Ich muß es ja tun! Und wenn ihr nun folgt, ist's ja gut, da kriegt ihr ja keine Strafe,« stellte sie den andern vor.

Die zuckten nur die Achseln, machten seltsame, fremde Gesichter und sahen einander an.

Traurig und allein wanderte Mieze an diesem Tage abermals durchs Dorf nach Hause.

Und so ist es geblieben.

Vor dem Herrn Lehrer stand Mieze Doktor wohl hoch in Ehren, denn die musterhafte Ordnung hielt an, seit sie den Aufpasserposten an der Tafel inne hatte. Sehr selten hatte sie nur noch nötig, ein Kind wirklich aufzuschreiben. Die Gesellschaft hatte es begriffen, wie ernsthaft das Verbot des Stilleseins gemeint war. Der Lehrer freute sich an seiner Klasse, lobte sie sogar zuweilen.

So war also alles besser geworden. Nur zwischen Mieze und den andern Kindern war es schlimm.

Da war eine merkwürdige Entfremdung eingetreten und wollte nicht wieder schwinden. Obgleich Mieze in einem schöneren Hause wohnte und feinere Kleider trug als alle andern, war sie doch früher durchaus nicht als eine Fremde angesehen worden. Ihr freundliches Wesen hatte jeden Unterschied ausgeglichen. Erst das Aufpassen, das Anschreiben hatte sie zu etwas Besonderem in den Augen der anderen gemacht. Das Vertrauliche war weg. Eine Scheu war da auf der Seite der Dorfkinder, halb aus Ehrfurcht, halb aus Bösesein bestehend, und Marie ihrerseits empfand infolgedessen auch ihnen gegenüber Scheu.

Die Dorfkinder einzuladen, wurde ihr so schwer, daß sie es kaum über die Lippen brachte. Ihre früheren Spielgenossinnen kamen wohl daraufhin zu ihr, aber nie mehr von selbst und, wie es schien, gar nicht mehr gern, denn rasch gingen sie immer wieder weg. Und so gern Mieze selbst in die Dorfhäuser ging, so selten kam's jetzt dazu. Die Kinder forderten sie nie mehr auf, und ihr wurde es immer saurer, sie darum zu bitten. Auf ihrer Eltern Rat fuhr sie fort, so freundlich und gefällig, wie sie nur konnte, gegen alle Klassengefährten zu sein. Sie solle tun, als merke sie die Unfreundlichkeit gar nicht, da werde sie schon vergehen, riet die Mutter. Sie solle sich nur bezwingen, so gut sie könne.

Das tat Mieze auch. Sie bezwang sich tapfer und schloß sich immer wieder auf dem Heimweg den andern an, obgleich fast nie jemand mit ihr sprach.

Am tapfersten aber bezwang sie sich an einem wunderschönen Hochsommertag. Da machten die Kinder auf dem Spielplatz vor dem Schulhaus miteinander aus, am Nachmittag zum erstenmal im großen Zuge miteinander in die Blaubeeren zu gehen. Die Blaubeeren seien reif. Vom baldigen Blaubeersuchen war schon seit Wochen immerzu die Rede gewesen.

»Reif sind sie noch nich, sie sind ja noch rot; wenn Blaubeeren rot sind, sind sie noch grün; schwarz müssen Blaubeeren sein, wenn sie reif sein sollen,« hatte Tritschlers Artur, der öfters im Walde nachgesehen hatte, vor acht Tagen noch weisheitsvoll verkündet.

So weit war es nun. Jetzt waren sie wirklich schwarz. Viele Kinder wußten es ganz genau. Und wenn es so weit war, mußte man sich dazuhalten, denn nur das eine Stück Wald trug Beeren, und das war gewöhnlich in kurzer Zeit abgeerntet. Die kleinen Mädchen erzählten einander von ihren Kiepen. Viele hatten ganz neue bekommen mit einem Rändchen von rosa Weidenstreifen zwischen den weißen; andere hatten wenigstens neue bunte Tragbänder an den vorjährigen Körben.

Und Mieze hatte gar eine Kiepe, auf die ihre Mama mit dem Brennstift und bunten Farben einen leuchtenden Rosenkranz gemalt hatte.

Schüchtern und ganz blutrot im Gesicht erzählte sie das den Gefährtinnen. Sie hatte sich die kleine Kiepe extra fürs Blaubeerensuchen zum Geburtstag gewünscht. An eine so feine mit einem gebrannten und gemalten Rosenkranze hatte sie natürlich nicht im Traum gedacht. Aber nun war sie da, und helleuchtend strahlte aus Miezes Augen der Wunsch und die Bitte, die sie sich mit Worten nicht auszusprechen getraute: »Liebe Gefährtinnen, bitte, ladet mich ein, mit euch zu gehen!«

Ob die Kinder diese stumme Bitte nicht verstanden? Ob sie sie nicht verstehen wollten? Keines sagte ein Wort. Schweigen herrschte eine kleine Weile im Kreis. Dann fing ein Kind wieder von seiner Kiepe und den schönsten Beerenstellen an, als gäbe es keine Mieze Doktor, die mitgewollt hätte. Die Schulglocke ertönte, die Freipause war alle, und drin im Schulzimmer herrschte erst recht tiefstes Schweigen. Nun setzte Maria ihre letzte Hoffnung auf den Heimweg. Sie ließ sich heute durch nichts abschrecken, sondern ging gerade extra mitten im Schwarm der andern nach Hause. Die sprachen von nichts als von ihrem Gang in die Blaubeeren. »Bitte, laßt mich mitgehen!« stieß Mieze da endlich, gewaltsam Mut fassend, hervor.

Wie klopfte ihr Herz dabei! Wie hingen ihre Blicke an den überlegenden, verschlossenen Gesichtern der andern!

Es klang ihr wie Musik, als eine Stimme nach langer, stummer Beratung sich vernehmen ließ: »Ih, laßt sie mitgihn!«

»Meinswegen, gih mit!« verkündete festen Tons der Anführer aller Dorf-Abcschützen, Tritschlers schwarzäugiger Artur.

Da konnte Marie kaum sprechen vor Glück. Nur ihre leuchtenden Augen, ihre heißen, roten Wangen verkündeten, wie's ihr zumute war. Sie gab allen die Hand, die um sie her standen.

»Ihr kommt ja bei uns vorbei; ich steh' am Gartentor mit meiner Kiepe und warte auf euch nach dem Essen,« war alles, was sie vorm Weglaufen noch atemlos und eifrig hervorbrachte.

In den Blaubeeren.

In den Blaubeeren.

Sie zogen im Marschtakte am Doktorhause vorbei, die meisten barfüßig, ein langer Zug, über zwanzig Jungen und Mädchen, lauter Kleine, von drei Größeren angeführt, laut und hell singend:

Holle, holle, heere,
Mir gihen in die Beere,
Mir gihen in den finstern Busch,
Da macht die Sonne huschhuschhusch,
Da wohnt die alte Kunigei.
Mei Mutter kocht uns Beerenbrei
Mit Klößen, mit Klößen,
Wir wollen nur brav lesen!
Holle, Holle, heere
Mir gihen in die Beere – –!

Zu dritt in sieben Reihen marschierten sie im Zuge, Hand in Hand, das Lied, wenn es zu Ende war, immer von neuem wiederholend.

In die letzte Reihe schloß sich unter dem Abschiedwinken ihrer am Gartenzaun stehenden Mutter Mieze ein, im kürzesten, ältesten Kleide, im ältesten blauen Kittelschürzchen, ein altes, braunes Hütchen auf den zu einem festen Zopfschwänzchen geflochtenen blonden Locken, in roten Strümpfchen und sehr derben Schuhen. Zu gern wollte sie den Dorfkindern recht ähnlich sehen, und fürs Leben gern wäre sie gleich ihnen barfuß gegangen. Das hatten Vater und Mutter nur nicht erlaubt. Schade! Aber sie war auch ohnehin in glücklichster Stimmung. Mutter hatte ihre drei größten Einmachbüchsen schon herausnehmen, reinwaschen und bereitstellen müssen.

Wie sie es von den Dorfkindern voriges Jahr gesehen, wollte auch sie ihr Tragkörbchen bis zum Rande gefüllt nach Hause bringen. Etwas kleiner als die der Gefährten war's ja doch. Jetzt war es mit einundzwanzig Semmeln gefüllt. Die wollte sie im Walde unter die andern Kinder verteilen.

Das war ein schöner Marsch durch den schattigen Tiefengrund, den durchsonnten Buchenberg hinauf, eine lange Waldstraße auf der Höhe entlang bis an den wunderbaren uralten, herrlichen Forst, dessen Boden weithin mit dem leuchtendgrünen Beerengebüsch wie mit einem dicken Teppich bedeckt war.

An dem saßen wie kohlschwarze, glänzende Kügelchen die reifen Beeren massenhaft.

Unter lautem Juchzen und Jauchzen fielen die Kinder darüber her. Zunächst wurde geschmaust. Große Stücke derbes, schwarzes Brot zogen die Kinder aus den Taschen. Die Weißbrötchen, die Marie verteilte, nahmen sie gleichgültig dazu hin und dankten kurz dafür. Die sollten die kleinen Geschwister zu Haus bekommen, meinten sie. Jetzt gab's Beeren, Schwarzbrot und Beeren! Der ganze Wald war ein Riesentisch, mit süßen Beeren über und über gedeckt.

Erst mal gesättigt zur Not, und dann ging's flugs ans Sammeln in die Kiepen zum Heimnehmen. Auf Anordnung der Großen zerstreuten sich die Kleinen über den Wald. Die drei Großen hatten an gehäkelten Garnschnüren Pfeifen hängen, um die Kleineren jederzeit herbeirufen zu können. Das war ein Fleiß, eine mit Singen, Lachen und fröhlichen Zurufen gewürzte Emsigkeit!

Auch Mieze hockte mit glühenden Bäckchen im dichten, grünen Kraut. Sie hatte sich nicht Zeit genommen, viel Beeren zu essen. Recht, recht viel sammeln wollte sie gern, um sie der Mutter zum Einkochen mit heim zu bringen. Wie würde das diese freuen! Ihre Hände waren nicht sehr geschickt, lange nicht so geschickt zum Pflücken wie die geübteren der Dorfkinder. Die rupften immerzu. Wenn Maries Finger aber dick und klebrig waren vom schwarzen, süßen Saft, lief sie immer erst zum Quell, der den Wald durchfloß, um sie frisch zu waschen.

Deshalb war ihr Kiepchen erst etwas über halbvoll, als die der übrigen bis zum Rande gefüllt waren und die Pfeifen der Großen das Rückzugssignal laut ertönen ließen.

Mieze wollte erst einen Augenblick beschämt und traurig sein, aber das gelang ihr nicht. Es war alles doch gar zu lustig und schön! Jetzt auf dem Heimweg, mit den vollen Kiepen, waren die Kinder noch viel vergnügter, als sie auf dem Herweg gewesen waren. Unter noch viel lauterem Gesang und mit noch taktmäßigeren Schritten wurde darauf losmarschiert. Das alte Heidelbeerlied wurde jetzt fast geschrieen statt gesungen im hellen Übermut.

»Holle, holle, heere,
Mir kommen aus den Beere,« –

hieß es jetzt. Und wenn der Gesang beim zweitenmal an das: »Wir kommen aus den Beere« angelangt war, wurde gerufen: »Jetzt –! Lauft!« Und dann ging's vom Marschieren ins Rennen über, in ein lustiges, übermütiges Wettrennen und Wettrasen mit derbem Schubsen. Jedes Kind suchte dem andern an sein Körbchen anzustoßen und ihm einen Teil Beeren von seinem Schatz zu verschütten. Das war das alte, bekannte Heidelbeerspiel, das schon die Eltern dieser kleinen Sammler in ihrer Kindheit getrieben hatten. Gegen das Schubsen wehrte sich natürlich jedes Kind, so gut es konnte, jedes wich den andern nach Kräften aus und hielt die Tragriemchen seiner Kiepe möglichst fest in der Hand. Nach kurzem Wettlauf sammelte sich dann der verstreute Haufe auf einen Kommandopfiff der Anführer immer wieder zum geordneten Zuge. Der ordnungsgemäße Marsch begann und ebenso das Singen. Und dann kam wieder das: »Lauft!«, der Übermut, das Ausreißen, das Schubsen. So ging's den ganzen Weg. Jedes Kind hatte sich tapfer gewehrt, keins hatte viel von seinen Beeren verschüttet. Im ganzen war ja auch alles Spaß. Nur einer, der Marie, kam das manchmal gar nicht so vor. Die mochte Schubsen und Necken ohnehin nicht gern leiden. Das Wettlaufen fand sie wohl wunderschön, aber immer mehr schien ihr's, als ob's die Kinder mit dem Schubsen und Stoßen hauptsächlich auf sie abgesehen hätten. Gar nicht mehr wie Scherz war's. Ihre Beeren aber wollte sie nicht verschüttet haben, die wollte sie so gern der Mutter heimbringen. Deshalb lief sie, wenn der Wettlauf begann, immer rascher und rascher den andern voraus. Sie war ein leichtes, gewandtes Ding, das laufen konnte, als ob es flöge, aber ihr Körbchen war doch nicht ganz leicht, und so wurde sie allmählich doch müde. Ein paarmal holte ein andres Kind sie ein und stieß unter lautem Lachen so derb an ihre kleine Kiepe, daß sie heftig stolperte und sich kaum zu halten vermochte. Und dann auf einmal gab's ein auffallendes Flüstern unter den andern. Als der Wettlauf unter lautem »Hallo!« dann wieder begann, – – ja, da – wie es gekommen war, wer daran schuld war, wußte sie selbst nicht – da lag Marie auf einmal der Länge lang auf der Waldchaussee, ihr Körbchen ein Stück ab von ihr, leer, ausgeschüttet, seine Riemchen zerrissen.

Marie weinte. Ach, wie weinte sie! Sie weinte um die Beeren, sie weinte um ihre Knie, die ihr heftig weh taten, aber noch viel mehr weinte sie um etwas andres.

»Geht fort! Laßt mich allein! Ihr seid so häßlich und garstig!« rief sie den Kindern zu, die halb schadenfroh, halb verblüfft um sie her standen. Sie wollte keine Hilfe, sie stand allein auf und machte gar keinen Versuch, ihre verschütteten Beeren einzusammeln. Die waren ja zu schmutzig! Nein, nichts wollte Marie als still heimgehen und sich recht ausweinen, nachdem die Tränen, die selten ihre heiteren Augen trübten, einmal angefangen hatten zu fließen.

»Ihr seid zu garstig!« sagte sie noch einmal den Kindern. »Ich habe euch doch wirklich nichts getan. Ihr seid zu lieblos gegen mich!«

Darauf verstummte allmählich das Lachen. Der Zug ordnete sich wieder und trabte weiter, aber ohne Gesang. Als letzte ging allein, hinkend und unaufhörlich leise schluchzend, Marie.

Noch weinend kam sie nach Haus. Die andern waren mit scheuen Blicken, ohne sich von Marie zu verabschieden, am Doktorhause vorbeigeschlichen. Marie dachte: »O, wenn ich sie nur gar nicht wiedersähe!«

Das sagte sie auch der Mutter, nachdem sie unter Schluchzen ihr leeres Körbchen gezeigt. Ihr ganzes Schulleid, das sie bisher tapfer bezwungen, von dem sie selten zu Hause ein Wörtchen gesagt hatte, brach nun heraus. »Ich kann's nicht mehr aushalten unter den Kindern! Sie sind zu garstig mit mir! Jeden Tag! Jeden Tag in der Schule!« rief sie laut.

Da wußte die erschrockene Mutter selbst kaum einen Trost. Sie hatte ihrer Kleinen immer zum Frieden geraten, sie zum Vertragen und Verzeihen ermahnt. Aber nun schien es ihr doch, als sei die Sache schlimm, als seien die Dorfkinder für ihr geliebtes Kind gar zu derbe und rohe Gefährten. Das hatte sie nicht gedacht. Sie hatte den Thüringerwaldkindern gute Herzen zugetraut, und das war ihr und ihrem Manne immer bei allen Menschen die Hauptsache gewesen. Deshalb hatte sie Mariechen gern und ruhig unter ihnen auf der Schulbank gesehen. Sollte sie sie nun aus der Schule nehmen und in eine ferne Stadt in Pension tun? Den Gedanken vermochte das Muttterherz gar nicht auszudenken.

Weil sie vorderhand nichts andres zu tun wußte, drückte die gute Mutter ihr liebes Kind nur immer fester ans Herz und huschelte sie auf ihrem Schoß ein wie in ein warmes Nest. Wenn der Vater käme, der im Dorf beschäftigt war, wollte sie die Sache gleich mit ihm besprechen.

In diesem Augenblick kam er wohl schon. Es klopfte laut an der Verandatür, wie der Herr Doktor immer tat, wenn er seinen Schlüssel vergessen hatte. Und wie immer in solchen Fällen lief Marie auch heute geschwind, um ihm aufzumachen. Sie hatte sich die Tränen rasch aus den Augen gewischt und sich tapfer gefaßt. Als sie aber die Tür öffnete, kam das Leid wieder über sie, und die heißen Tropfen stürzten ihr mit neuer Gewalt über die Wangen.

Nicht der Vater war's, sondern – o Schreck! – Tritschlers Artur, der fürchterliche Junge, der sie von allen Kindern heute am meisten geschubst und drangsaliert und – wie sie sicher meinte, – zuletzt auch hingeworfen hatte.

»Was willst du denn noch von mir?« rief sie ihm geängstigt zu.

Tritschlers Artur erwiderte ruhig und bestimmt: »Da, ich will dir nur was geb'!« Damit streckte er ihr einen hohen blauen, weißpunktierten Rahmtopf, der bis zum Rande mit den schönsten Blaubeeren gefüllt war, entgegen.

Marie wußte in ihrer Bestürzung zuerst gar nicht, was sie damit sollte.

»Daß du auch was hast! Weil wir so grob mit dir gewesen sin,« erklärte der Junge deshalb seine Gabe. Darauf rannte er, – hast du nicht gesehen! – die Beine mächtig werfend, davon.

Mieze war die frohe Überraschung wie ein kleiner, heller Sonnenstrahl ins betrübte Herz gefallen. Sie ließ sich so leicht und gern trösten, die fröhliche Kleine!

Einer war doch gut! Einer war doch gut mit ihr, gerade der Schlimmste!

»Mutter,« rief sie voll Entzücken durchs Haus, »nun haben wir doch auch ein paar Beeren, die du kochen kannst! Und nun sind doch nicht alle mit mir garstig! Denk nur, Tritschlers Artur hat mir diesen ganzen Topf voll Blaubeeren gebracht!«

Ganz stolz erläuterte sie der Mutter, was das zu bedeuten hatte. Der war sonst ein Grober, Fester! Daß gerade dem diese zärtliche Idee eingefallen war! Unter den Jungen war keiner auch nur entfernt so geehrt wie Tritschlers Artur.

Die Mutter kannte diesen Helden unter der Dorfjugend noch nicht und meinte, den möchte sie wohl einmal sehen.

»Ich laufe ihm nach, Mutter! Wenn er noch in der Nähe ist, rufe ich ihn herein,« erklärte Mieze bereitwillig.

Flugs war sie die Verandastufen herunter und im Garten draußen. Da blieb sie indessen in großer Schüchternheit und Verlegenheit stehen.

An der Garteneingangstür standen zwei lauschend, mit aufgesperrten Schnäbeln, jede unter einer der zwei Hängeeschen, die rechts und links vor der Tür prangten.

»Hanne!« rief Mieze, von Verwunderung ganz übermannt. »Und Line!« fügte sie dann mit leiser, zitternder Stimme hinzu. Ja, Hanne und Line standen da fest und gerade und stämmig mit glühendheißen Gesichtern und zogen unter den Schürzen nun zu gleicher Zeit je eine blanke Blechkanne hervor, bis zum Rand mit Blaubeeren gefüllt. Die reichten sie zu gleicher Zeit Mieze hin.

»Da, Mieze Doktor, hast du was!« sagte Hanne feierlich.

»Und da, ich geb' dir auch was!« rief Line eifrig. »Wir dachten, daß du wenigstens was wiederkriegst! Nu sei uns auch nicht mehr böse! Wir beide haben es nich schlimm gemeint, wir haben dich fast gar nich sehr geschubst. Hinschmeißen haben wir dich nich woll'n.«

Mieze konnte aus aufrichtigem Herzen versichern: »Ach, das freut mich aber von euch! Ich bin euch gar nicht böse,« fügte sie hinzu. »Bitte, seid mir doch auch nicht mehr böse!«

Wie aus einem Munde versicherten die beiden: »Nein, wir woll'n dir nu' wieder gut sein!«

Mieze hätte die beiden umarmen mögen, so froh war sie, so innig froh.

»Kommt doch mit herein!« drängte sie.

Dazu hatten die beiden aber keinen rechten Mut. Sie hätten noch zu Hause zu tun, meinten sie, sie müßten noch Kartoffeln schälen und reiben zu Oltätschern mit Zwiebel und ein paar Kannen Blaubeeren ansetzen zur Sauce dazu.

Mieze sah das ein und ließ sie unter vielen herzlichen Danksagungen gehen.

»Kannst morgen ja mal wieder komm' und unser Karlchen in der Gelte baden sehn!« rief Line ihr noch mit einladender Freundlichkeit zu.

Mit hellem Freudenschrei lief Mieze da die Verandatreppe herauf zur Mutter ins Zimmer. Mit einer Blechkanne in jeder Hand flog sie auf die zu.

»Mutter, Mutter, Mutter! Zwei Gute waren jetzt noch bei mir!« rief sie ganz aufgeregt, über und über glühend vor Glück. »Line und Hanne haben mir die Blaubeeren hier gebracht! Nun kann ich's aushalten! Nun laßt mich ruhig in der Schule bleiben! Nun hab' ich doch wieder drei in der Klasse, die gut mit mir sind!«

Aber noch mehr als diese drei meinten es gut mit ihr. Es war ein drolliger Abend. Noch dreimal hat es an der Verandatür geklopft, noch zweimal hat es geklingelt, und jedesmal stand ein verschämter kleiner Wohltäter oder eine kleine Wohltäterin mit einem Töpfchen oder einem Krügel voll Blaubeeren vor der Tür. Die Hirten-Emilie, die Liesel, die Tiene, der Valtin, der Fritz erschienen der Reihe nach. Und kurz und bündig, aber wohlmeinend klang's: »Da, Mieze Doktor, ich schenk' dir was!« – »Mieze Doktor, da hast du was!« – »Da geb' ich dir was!« – »Da, Mieze, damit du auch was hast!« – »Ich hab' dich nich hingeschmiss'!« – »Sei nich mehr böse!«

Mieze war ganz verlegen vor Dank und Glück; sie wußte gar nicht mehr, was sie sagen sollte. Sie fiel der Mutter am Abend um den Hals und tat den Ausspruch: »Muttel, ich bin so schrecklich glücklich, daß ich so gute, gute Schulfreunde hab'!«

Als Mieze am andern Morgen erwachte, war ihr merkwürdig leicht ums Herz. Allen Gebern von Blaubeeren und auch den Nichtgebern, soweit sie zu ihrer Klasse gehörten, schüttelte sie auf dem Platz vor der Schule, wo das Schwatzen erlaubt war, mit Dankesworten die Hand.

Zu Tritschlers Artur aber sagte sie freudig laut: »Du, ich weiß was! Mutter sagt, ich darf es jetzt gleich dem Herrn Lehrer sagen. Ich will nicht mehr auf euch aufpassen von heute an.«

Tritschlers Artur staunte. »Warum denn nich'?«

»Weil ihr ja doch nicht mehr schwatzt,« rief Mieze laut und glücklich. »Ihr müßt nur so bleiben, dann braucht ihr ja keinen Aufschreiber mehr! Gelt?«

Der schlaue Artur sagte nach einigem Nachsinnen: »Ih, mei' Sixtel, das is' auch wahr!«

So ist Frieden und Freundschaft wieder eingekehrt in der untersten Klasse der Dorfschule von Dittelbach.


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