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Genüsse des Lebens

Foto: Emil Mayer

Kinder haben einen prachtvollen Sinn, das Erreichbare auszuspüren. Besonders aber die Kinder der kleinen Leute. Die kennen schon durch frühes Erfahren, durch frühes Entbehren all das Schöne, davon sie ausgeschlossen sind, wissen schon, daß es Dinge gibt, nach denen sie niemals die Hand strecken dürfen, und in ihrer herrlichen Kinderart, praktisch zu sein, schauen sie nicht einmal hin, mühen sich nicht einmal ab, ihre Wünsche in solche Gegenden zu schicken. Rührend ist es, wie solche Kinder, wie Kinder überhaupt darauf bedacht sind, sich vor Enttäuschungen zu bewahren. Eine gewährte Bitte: für Kinder ist sie ein Fest. Eine verweigerte Bitte: für das Kindergemüt, das so ganz und gar auf Festlichkeit gestellt ist, bedeutet sie einen Kummer. Wie viel feinen Takt haben die Kinder, solch eine Weigerung zu vermeiden, wie viel Takt, keine Bitte zu stellen, die ihnen abgeschlagen werden muß. Nur in unbewachten Augenblicken, nur wenn sie einmal von der Plötzlichkeit eines Begehrens überrumpelt werden, lassen sie sich noch eine Bitte nach Unmöglichem entschlüpfen.

Foto: Emil Mayer

Dafür aber: mit welcher Inbrunst hängen sie an allem Erreichbaren, mit welcher Hartnäckigkeit klammern sie sich an alles, was möglich ist, wie stürmisch fordern sie, was ihnen nach ihrer Meinung nicht versagt werden darf. Und mit welch meisterlicher Lebenskunst wissen sie aus dem Geringsten dann ein großes herrliches Fest zu machen. Hier, im Wurstelprater, wandern zwischen den Schaubuden und den Wirtshäusern so viele arme Kinder allein oder mit ihren Eltern unter den Bäumen umher. Für sie sind die Wirtshäuser nicht da, mit ihrem Schmaus an Trank und Speise. »Das kost't zu viel!« Die Kinder wissen es ganz genau, auch wenn es ihnen nicht gesagt wird. Und für sie ist es auch nicht erlaubt, in das Innere der Schaubuden zu treten, um alle Wunder, die es da zu sehen gibt, mit Augen zu betrachten. Ihre Freude ist die Außenseite, ist die Fassade, die, der Straße zugewendet, nichts kostet. Der Anblick der Ausrufer, des pomphaften Aufputzes der Buden, der billigen Samtdraperien mit Goldfransen, der gleißenden Spiegel. Ihre Freude ist es, Musik zu hören, die über Gartenzäune hinausklingt.

Foto: Emil Mayer

Zwischen Wirtshäusern und Buden aber, auf allen Straßen, Alleen, Wegkreuzungen und Ecken bieten sich Genüsse des Daseins. Billige leicht erreichbare, einfache und erschwingliche, aber bei alledem unvergleichlich herrliche und begehrenswerte Genüsse. Da ist ein kleiner »fliegender« Greißlerladen mit fabelhaft schönen, vornehmen Bonbongläsern. Und für einen Kreuzer ist die freundliche, dicke Greißlerin jeden Augenblick bereit, den messingfunkelnden Deckel von solch einem Glas zu heben, die rote dicke Hand hinein zu versenken, und zwei, drei Bonbons aus dem Schacht dieses Reichtums emporzuholen. In offenen Schachteln hat sie Bäckereien liegen. Prächtig, was die für Formen haben.

Foto: Emil Mayer

Kleine, flache Brezeln sind die einen, Ringe die andern. Aber auch Sterne, Kreuze, Buchstaben, Tiere gibt es. Und für einen Kreuzer erkauft man sich das Recht, zwei Stück dieser Bäckereien auszuwählen, mitzunehmen und aufzuessen. Man braucht nicht erwachsen sein, um dieses Geschäft abzuwickeln: man darf so klein sein, wie man will. Nur den Kreuzer muß man freilich haben. Dann tritt man heran, ist eine »Kundschaft«, wird bedient, legt sein Geld hin und geht. Was für ein Fest, und was für ein amüsantes Spiel zugleich: Hingehen und »Kaufen« spielen. Mit wirklichem Geld, zu einem wirklichen Laden. Die Kinder lächeln alle, wenn sie solch einen vergnüglichen Handel abschließen. Vergnügt und entzückt lächeln sie, wenn sie das Geldstück hinreichen. Tauschen mit der dicken Greißlerin ein Lächeln des Einverständnisses. Denn auch die gute, dicke Frau kann sich des Schmunzelns nicht erwehren, empfindet irgendwie, daß das ein Spiel ist, bei dem sie mittut, und daß auch ein bißchen Dichtung, ein wenig heitere Poesie mit dabei ist, wenn solch ein Kind vor ihr steht, und die kleine Freude, die es sich holt, mit Geld bezahlt.

Dann ist der »Würschtelmann« da, und es ist für die Großen wie für die Kleinen so ungemein praktisch, daß er da ist. Er stellt ja für sich allein eine ganze Restauration vor. Küche, Wirt, Kellner, warmes Essen und frisches Brot, alles ist hier beisammen. Nur Tische und Teller gibt's nicht. Aber wer braucht denn Tisch oder Teller? Wenn es nur etwas zu Essen gibt. Denn man wird hungrig vom Gehen, Schauen und Hören im Wurstelprater. Es gibt alte Frauen, die frisches Wasser in Blechkrügen, ein wenig Himbeersaft in einem Fläschchen und in einem Korb ein wenig Obst feil haben. Die Lehrbuben und Schuljungen, die noch nicht so viel Geld bei sich führen, daß sie in einem Wirtsgarten ein Krügel Bier riskieren können, erfrischen sich hier. Es gibt alte Weiber, die ganz trübselig, ganz böse sind mit sich, wie mit der Welt zerfallen ausschauen. Sie sehen aus, als glaubten sie an keine Freude, an keine Jugend und überhaupt an nichts Gutes mehr. Es macht ordentlich traurig, sie anzuschauen. Aber man muß sie ja nicht anschauen. Man braucht nur die Kuchen anschauen, die sie in großen Umhängekörben zu verkaufen haben. Weiß der liebe Gott, wann und wo sie gebacken wurden. Der Himmel mag auch wissen, wie sie schmecken werden. Aber Kinder und arme Leute sind nicht wählerisch, sehen nicht den bleichen wässrigen Teig, sondern nur schöne, große, mit weißem Zucker bestreute, mit Marmelade gefüllte und bestrichene Kuchen. Und wenn man sie gegessen hat, ist man für ein paar Stunden satt. Es gibt aber kaum etwas Schöneres als satt sein!

Da sind freundliche alte Männer und freundliche alte Frauen, die wundersame Dinge zu verkaufen haben. Für zehn Kreuzer goldene Ketten und Uhren, die aussehen, als ob sie wirklich wären, Spazierstöcke mit einem Pfeifchen am Griff, und blaue, rote, grüne, gelbe Luftballons. Unbegreiflich, daß man sich von solchen Dingen trennen kann, wenn man sie besitzt. Aber die Männer und Frauen sind ja schon alt, weshalb sie freilich nicht mehr selber mit goldenen Uhren, mit Spazierstaberln und Luftballons spielen mögen. Das sind nun freilich die höchsten Möglichkeiten. Sie können nur erreicht werden, wenn Vater und Mutter in besonderer Geberlaune sind, oder wenn irgend ein Onkel, irgend eine Tante dabei ist und sich der inbrünstigen Wünsche erbarmt.

Foto: Emil Mayer

Das Beste aber ist der »Zuckerlmann«. An ihm kann man nicht vorübergehen, wie an einem der kleinen Läden. Er stellt sich einem in dem Weg, pflanzt sich vor Vater und Mutter wie der verkörperte Wunsch des Kindes auf: und wenn die Eltern ihre Kleinen richtig verstehen, dann erlauben sie es ihnen immer, mit dem Zuckerlmanne selbst zu verhandeln. Denn nicht bloß das Zuckerlessen, auch das Zuckerlkaufen ist ein Fest. Ich habe einen Herrn gekannt, der sich alle Genüsse des Daseins gönnen durfte und sie sich auch reichlich gönnte. Der war nun ein wohlhabender Fabrikant geworden, fuhr im eigenen Kutschierwagen aus, ging ins Theater, machte Reisen, kurz er hatte allerlei Vergnügen. Früher einmal aber, ganz früher, war er ein armes Kind armer Leute gewesen. Da gab es keine anderen Festlichkeiten für ihn, als daß er manchmal an einem Sonntag zwei Kreuzer geschenkt bekam, mit ihnen zum Zuckerbäcker lief, und seine »Einkäufe« besorgte. »Geben s' mir um zwei Greizer an' Durcheinand'«, begehrte er, und erhielt gemischte Bonbons und Überbleibsel von Backwerk. Aber alle Genüsse des Daseins, die er nachher kennen lernte, haben ihm nicht die tiefatmende Freude gegeben, die er an solchen Sonntagen in seinem jungen Herzen empfand. Diese Freude strahlte als Erinnerung über viele Jahre hinweg in sein Leben. Immer wieder erzählte er davon, und wenn er das sagte: »geben s' mir um zwei Greizer an' Durcheinand« kam ein Klang von Kindlichkeit in seine Stimme, und sein Antlitz war von einem reinen Abglanz der Jugend überschimmert.


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