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V.

Professor Köbner sah in seinem traulichen Arbeitszimmer, das in der ersten Etage eines der stillen Häuser des bayrischen Viertels lag. Er hatte eben die lateinischen Extemporalien seiner Primaner korrigiert und wollte sich ganz dem Genuß seiner Lieblingsarbeit hingeben, einer neuen Ausgabe des Tacitus, in der alle Resultate der Wissenschaft verwertet werden sollten. Diese Arbeit war für den angestrengten Schulmann eine direkte Erholung. Er versenkte sich mit dem Gefühl wahren Genusses in die Zeit und Gedankenwelt seines Lieblingsschriftstellers. Er besaß in seiner Bibliothek alle Tacitusausgaben und kannte sie alle genau.

Professor Köbner hatte nur zwei Leidenschaften. Die eine war der Tacitus, die andere seine Tochter, die er nach dem Geschlechtsnamen des Tacitus Cornelia genannt hatte. Seine Ehe war musterhaft, denn man konnte sich kaum einen aufmerksameren und dankbareren Gatten und Vater denken als ihn. Es gab nichts, was er nicht im Kreise seiner Familie besprochen hätte, und nur eins bedauerte er – das war auch der Grund, warum er seine Tochter mehr liebte als seine Gattin – nämlich die wirklich betrübende Tatsache, daß Frau Professor Köbner kein Sterbenswörtchen Lateinisch verstand. Die kleine Cornelia hatte er schon, als sie kaum der Klippschule entwachsen war, in die Geheimnisse der lateinischen Sprache eingeweiht und er hatte es fertiggebracht, nicht nur eine kleine Gelehrte, sondern auch ein schönes liebenswürdiges Mädchen zu erziehen. Freilich hatte die Mama sehr viel mitgewirkt, denn wenn sich des Vaters Erziehung allzusehr auf das Geistige und das Wissenschaftliche richtete, machte die Frau Professor kurzen Prozeß, riß die Tochter von ihren Büchern los und ging mit ihr in den Tiergarten. Dort erregte sie ganz unwillkürlich und ganz vorsichtig ihr Interesse für schöne Kleidung, weckte ihre Freude an der Natur und wirkte so als kraftvolles Gegengewicht der väterlichen Erziehung entgegen. Mit der Zeit fing die Mutter auch an, Cornelias Sinn für häusliche Tugenden zu erwecken. Und da zeigte sich die überraschende Macht des mütterlichen Einflusses. Ganz allmählich verblaßte die Vorliebe für die alten Römer, und die jungen Deutschen rückten etwas mehr in den Gesichtskreis des lieblichen Professorentöchterleins. Sie kehrte sich immer mehr von dem Plane des Vaters ab, das Abiturientenexamen zu machen, die Universität zu besuchen und sich einem gelehrten Berufe zu widmen. Ein trauliches Heim, in dem sie als Gattin und Mutter schaltete, erschien ihr wünschenswerter, aber sie schwankte noch.

Da trat ein großes Ereignis in ihrem Leben ein und machte sie völlig anderen Sinnes. Vor etwa drei Fahren war es geschehen, der Vater wollte eine Tacitushandschrift, die sich in Kopenhagen befand, durcharbeiten und ließ Mutter und Tochter in Warnemünde zurück. Er berechnete seine Arbeit auf etwa vierzehn Tage, dann wollte er den Rest der Ferien mit seinen Damen in dem mecklenburgischen Seebad verbringen.

Es war einer jener sonnigen Julimonate, die den Genuß des Seebades als eine Kostbarkeit erscheinen lassen. Das Badeleben hatte sich voll entwickelt, Korb an Korb stand am Strande und auf dem langen Deich promenierten frohe Menschen in hellen Sommertoiletten. Cornelia war gleich nach dem Bade weit hinausgewandert auf dem von den Wellen hart geschlagenen Sand, wo sie der Salzatem des Meeres umwehte. Sie strebte jenem Punkt zu, wo die flache Küste aufhört und sich steile Lehmwände erheben. Aber die Frau Professor ermüdete bald, besonders nach dem anregenden Bad in der See. Drum zogen sich die beiden Damen von der Küste zurück in den Dünenwald und gelangten auf bequemen Treppen aufsteigend zu dem herrlich gelegenen Pavillon Wilhelmshöhe. Dort war nur noch ein einziger Tisch frei, der hart an der Steilküste stand und eine wundervolle Aussicht über das rollende Meer gewährte. Man saß im Schatten und sah auf die flutende Sonne, die tausend Feuerfunken ins Meer streute. Die blaue, schimmernde Weite war belebt von Schiffen. Vorn in der Brandung schaukelten kleine Segelboote und Fischkutter, weiter draußen richteten die norwegischen Holzschoner ihren Kurs nach Norden und an allen Ecken und Enden des Meerpanoramas tauchten die Rauchfahnen der Dampfer auf, die auf dieser besuchten Straße verkehrten.

Plötzlich trat ein Herr, der im ganzen Restaurant keinen Platz gefunden hatte, mit höflichem Gruß an den Tisch der Damen und bat um die Erlaubnis, den leeren Stuhl benützen zu dürfen. Die Freiheit des Badelebens brachte es mit sich, daß man ins Gespräch kam. Der Herr wußte den Damen über alle Schiffe, die draußen vorüberpassierten, zu erzählen, er sprach dann wohl auch über die Nordsee, über den Atlantischen Ozean, das Mittelmeer, erzählte von dem Gluthauch, der über dem Roten Meere lag und der bleiernen Schwere des indischen Ozeans, sodaß die beiden Damen den Eindruck bekamen, der Herr müsse Seemann sein.

»Sie sind wohl weit in der Welt herumgekommen?« fragte ganz harmlos Cornelia und ließ ihre großen blauen Augen bewundernd auf dem etwas müden gebräunten Gesicht des Fremden haften.

»Eigentlich nicht weit herum,« antwortete er zuvorkommend, »ich habe den Feldzug in China mitgemacht und wäre auch gern nach Deutsch-Südwestafrika gegangen, wenn mir nicht noch etwas Malaria in den Knochen steckte.«

»Ja, ich habe davon gehört, man erkennt die Malariakranken an den gelben Ringen um die Augen, nicht wahr?«

Der Fremde lächelte.

»Ja, mein gnädiges Fräulein an den gelben Ringen und an dem greisenhaften Aussehen …. nun ich hoffe, daß mich dieser Sommer an der lieblichen mecklenburgischen Küste wieder völlig herstellen wird.«

»Es ist wohl eine gefährliche Krankheit?«

»Ach ja und doch wieder nicht mehr, in dem Stadium, in dem ich mich gegenwärtig befinde, wenn man die Schlappheit überwinden kann, und sich viel Bewegung in der freien Luft macht, dann geht einem auch das Fieber aus den Knochen. Aber ich langweile die Damen mit meiner Krankheit. Die Menschen sind doch immer egoistisch und die Kranken doppelt. – Die Damen halten mich gewiß für recht ungezogen, daß ich immerzu von mir selbst spreche …. Sehen Sie, dort kommt ein großes Segelschiff in den Hafen herein. Das ist eine Seltenheit für Warnemünde.«

»Und wie es mit der Nase ins Meer stippt …. jetzt, jetzt legt es sich ja ganz auf die Seite.«

»O, das ist noch gar nichts, es ändert den Kurs. Sie werden gleich seine volle Breite sehen und dann gleitet es ruhig, wie ein Schwan über die Wellen. Im Sturm freilich da rollt und schlingert der große Kasten wie eine Nußschale …. Ich hatte mal einen Transport von Lebensmitteln auf ein Kriegsschiff zu bringen, das weit draußen auf der Reede von Tientsin lag. Wir benutzten dazu eine dreimastige chinesische Dschunke und mußten, um der Brandung zu entgehen, in weitem Bogen herausfahren. Auf der Hinfahrt ging es ganz gut. Die Paar tausend Zentner Gewicht hielten das Fahrzeug ruhig, als wir aber unsere Ladung gelöscht hatten und gegen Abend zurückfuhren, gerieten wir in eine derartige Brise, daß es uns nicht möglich war, den Hafen zu gewinnen. Wir kreuzten auf und ab, bis die Nacht hereinbrach und die Brise zu einem gelinden Sturm auffrischte …. So etwas können sich die Damen gar nicht vorstellen. Jeden Augenblick legte sich der alte Jammerkahn so aus die Seite, daß wir glaubten, er würde nicht mehr aufstehen. Wir waren förmlich ein Spiel von Wellen und Sturm und hätten wir nicht am frühen Morgen einen vorüberfahrenden Hochseetorpedo angerufen, uns mit hineinzuschleppen, wir hätten wohl nie mehr festes Land betreten.«

»Hatten Sie da nicht Angst?«

»Ach, Angst hat man in solchen Augenblicken nicht. Angst hat man nur, solange die Gefahr fern ist. Wenn man sich erst mitten drin befindet, hat man gar keine Zeit ängstlich zu sein.«

Das war mit soviel Einfachheit und Wahrhaftigkeit gesprochen, daß die beiden Damen von der Art des fremden Herrn ungemein sympathisch berührt waren, und sie bedauerten es aufrichtig, als er seine Milch austrank und sich mit höflichem Gruß verabschiedete.

Sie rieten lange hin und her, wer der interessante Herr gewesen sein möge. Sie sahen die Badeliste durch, konnten aber mit keinem Namen der Neuangekommenen die Persönlichkeit verbinden, die einen so vorteilhaften Eindruck sowohl als Mensch, wie auch als Kavalier gemacht hatte.

Am andern Lage begab sich Cornelia schon früh auf die Badepromenade, um Ausschau nach der neuen Bekanntschaft zu halten. Richtig, da saß er auf der Bank am Leuchtturm und blickte unverwandt auf die dunkelblaue See hinaus. Er war tadellos gekleidet, trug nicht wie die übrigen Herren einen gemusterten Strandanzug, sondern weißen Flanell und dazu eine rote Krawatte. Cornelia wußte von einer ihrer Freundinnen, deren Bruder Seeoffizier war, daß die rote Krawatte den Offizier kennzeichnet. Jetzt bemerkte sie auch im linken Knopfloch des Jacketts eine Nadel mit goldenem Namenszug und der königlichen Krone darüber. Der Herr stand sofort auf und begrüßte sie höflich, ohne jedoch Miene zu machen, sie zu begleiten. Das gefiel ihr von ihm und gefiel ihr auch nicht. Sie hatte eigentlich erwartet, er werde sie nach ihrem Befinden fragen und ein Stück mit ihr auf dem Deich entlang promenieren. Aber die kleine Enttäuschung redete sie sich sehr bald selbst aus. Er war eben ein taktvoller, guterzogener Herr, der ein junges Mädchen ohne Begleitung nicht ansprechen wollte.

Das enge Zusammenleben im Seebad bringt naturgemäß täglich mehrere Begegnungen mit sich, und so traf Cornelia, als sie mit ihrer Mutter zum Promenadenkonzert ging, einige Stunden später wieder mit dem interessanten Fremden zusammen. Sofort ging er auf die Damen zu, zog höflich den Hut und bat um Verzeihung, daß er sich gestern nicht vorgestellt habe. Er nannte seinen Namen ganz einfach »Mohrungen« und ging mit der Frau Professor respektvoll plaudernd an der Seite der beiden Damen um den Konzertplatz spazieren. Man kam aus den gestrigen Ausflug zu sprechen, und Cornelia meinte, sie möchte für ihr Leben gern einmal weiter hinaus an der Küste wandern, bis dorthin, wo das Badeleben zu Ende sei.

»Bis zum Kap Stolteraa?«

»Ach, ein Kap ist hier in der Nähe …. sehen Sie, Herr Mohrungen, wie man doch trotz einer ausgezeichneten Bildung nicht von Kindereindrücken loskommen kann. Was habe ich mir immer in der Geographiestunde unter einem Kap vorgestellt. Denken Sie, ich habe noch nie ein Kap gesehen, Sie sind gewiß schon um viele Kaps herumgesegelt.«

»Ja, gewiß, aber die beiden berühmtesten und gefährlichsten, das Kap Horn und das Kap der guten Hoffnung habe ich noch nicht kennengelernt. Wenn die Damen sich meiner Führung anvertrauen wollen, bin ich gern bereit, Sie nach dem Kap Stolteraa zu begleiten. Es ist zwar nicht gefährlich, es sind immer Leute um die Wege, aber für zwei einzelne Damen ist es doch wohl besser, in Herrenbegleitung so weit über die Grenze des Badelebens hinauszugehen. Es steht eine sehr schöne Brandung an dem Kap, und die Küste ist mit großen Steinen übersäet ….«

»Wollen wir heute Nachmittag, Mamachen?«

»Aber, Kind, Du weißt doch, daß mir solche weiten Touren beschwerlich fallen, warte doch, bis Papa von Kopenhagen zurückkommt.«

Mohrungen hätte gar zu gern gefragt, was der Papa in Kopenhagen tat, aber gerade, weil das junge Mädchen einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte, war er zurückhaltend. Die Aussicht jedoch, einen ganzen Nachmittag mit Cornelia zusammen zu sein, machte ihn beredt.

»Gnädigste Frau, wir können einen Wagen nehmen und fast bis an das Vorgebirge hinfahren, oder, noch besser, wenn sich die Damen mir anvertrauen wollen, können wir im Boot hinsegeln. Es sind dort überall lange Buhnen in die See hinausgebaut, wo man gut anlegen kann. Das Wetter ist herrlich« …. er blickte nach dem Himmel …. »der Wind steht gut, gut zur Hin- und Rückfahrt, ich bin des Segelns einigermaßen kundig, außerdem nehmen wir einen Bootsmann mit ….«

»Guten Morgen, lieber Baron.«

Ein Herr, der an ihnen vorüberstrich, hatte die Worte gerufen. Mohrungen grüßte und ging weiter. Die Damen sahen einander mit bedeutsamen Blicken an.

Die Segelpartie wurde gemacht und legte den Grund zu einer größeren Vertraulichkeit zwischen den beiden jungen Leuten. Der Vater kam, auch er fand Gefallen an dem bescheidenen, vornehmen Mann. Und wenn auch seine Lieblingsidee, Cornelia als große Lateinerin vor der Welt prunken zu sehen, in die Brüche ging, gab er doch gern seine Einwilligung, daß Cornelia und Mohrungen sich für einander bestimmt betrachten durften. Von einer offiziellen Verlobung wollte er vorläufig nichts wissen, bis Hatto sich eine gesicherte Berufsgrundlage geschaffen hatte.

Nun war alles anders gekommen. Aus dem dritten Bruder, der mit einer kleinen Pension und einer geringen Apanage auskommen mußte, war im Laufe eines halben Jahres der Herr eines großen Besitzes geworden. Und was war nun geschehen? Seltsamerweise war Mohrungen auf die Verlobung, der doch nun nichts im Wege gestanden hatte, nicht mehr zurückgekommen. Sein Benehmen war in gleicher Weise herzlich geblieben, der Briefwechsel zeigte keine Abkühlung, aber es war doch auffällig, daß nicht mit einem Wort darin von der Zukunft die Rede war.

Die feinfühlige Cornelia bemerkte das zuerst, dann fiel es auch der Mutter auf, und durch sie erfuhr der Vater davon. Er winkte ab und meinte, erst das Trauerjahr vorüberlassen, und dann wird das andere von selbst kommen. Hatto ist ein gediegener Mensch. Man kennt seine Leute, wenn man so viele junge Menschen erzogen hat. Wozu jetzt von Dingen sprechen, die doch selbstverständlich sind, macht euch darüber keine Sorgen, vor allem stellt keine indiskreten Fragen. Hatto denkt sicher mehr an die Zukunft, als er davon spricht?

Der Vater hatte Recht. Mohrungen war nicht anderen Sinnes geworden, im Gegenteil, seine Liebe vertiefte sich von Tag zu Tag mehr. Anfänglich hatte er sich wirklich gesagt, man müsse das Trauerjahr abwarten, und dann hatte ihn die entsetzliche Krankheit gepackt, der seine beiden Brüder erlegen waren, und er fand nicht den Mut, die jugendfrische, liebenswürdige Cornelia in sein dunkles Geschick einzuweihen, noch weniger aber, von der Zukunft zu sprechen, die schwarz und schwer herandrohte.

Es klingelte.

»Herr Professor, draußen ist ein Herr,« meldete das Mädchen, »der um eine kurze Unterredung bittet.«

»Hat er seinen Namen genannt?«

Der Professor sah ärgerlich von dem Korrekturbogen seiner Tacitusausgabe auf, denn er liebte es nicht, wenn er in diesen stillen Abendstunden gestört wurde.

»Nein, er hat keinen Namen gesagt.«

»So lassen Sie sich seine Karte geben, ich empfange niemanden, den ich nicht kenne.«

Das Mädchen kehrte sofort mit einer Visitenkarte zurück, die der Professor eingehend studierte.

»Freiherr Rock von Bahlingen?«

Weiter stand nichts daraus. Der Gelehrte dachte sich, daß es mit adeligen Herren, die zu so ungewöhnlicher Zeit Besuche machen, eine eigene Bewandtnis habe. Sie entpuppen sich gewöhnlich als Agenten für irgendeine Sache …. aber man kann nicht unhöflich sein, der Herr kommt vielleicht von Hatto, dachte er weiter und gab den Auftrag, ihn hereinzuführen.

Es war ein schlanker, sehr vornehm aussehender Herr von etwa fünfundzwanzig Jahren, tadellos angezogen, sicherlich kein Agent. Ein hübsches, etwas müdes Gesicht, nicht unsympathisch, aber doch mit einem unruhigen Flackern in den Augen, das dem erfahrenen Menschenkenner Vorsicht anbefahl.

»Verzeihen Sie, Herr Professor, daß ich zu so ungewöhnlicher Stunde störe, aber ich komme in einer sehr heiklen Angelegenheit, sie betrifft meinen Freund Hatto von Mohrungen und das Verhältnis, in dem er zu Ihrem Hause steht.«

»Kommen Sie im Auftrag des Herrn von Mohrungen?«

Ein unsicheres Leuchten ging von den Augen des jungen Mannes aus, er machte eine kurze Pause, erklärte dann aber mit voller Bestimmtheit:

»Jawohl, Hatto hat mich beauftragt.«

»Das nimmt mich Wunder, Herr Baron, denn wir haben erst heute Vormittag einen Brief von ihm bekommen, worin er nichts von Ihnen mitteilt, ich entsinne mich auch niemals, daß er Ihren Namen genannt hätte.«

Einen Atemzug lang wurde der Fremde unsicher, dann aber antwortete er mit einem verbindlichen Lächeln:

»Das mag wohl Zufall gewesen sein, der Brief war sicherlich an Ihr Fräulein Tochter gerichtet.«

»Ganz recht, Herr Baron.«

»Sehen Sie, Herr Professor, das ist eben die Sache, und das gnädige Fräulein soll von der Botschaft, die ich Ihnen zu bringen habe, nichts erfahren, oder wenigstens nicht durch Hatto selbst. Das gnädige Fräulein soll vorsichtig und allmählich vorbereitet werden.«

Der Professor erschrak.

»Ist Herrn von Mohrungen etwas passiert?«

»Leider ja. Hatto zeigt seit einiger Zeit dieselben Krankheitssymptome wie seine beiden Brüder. Das entsetzliche Angstgefühl, das ihn Tag und Nacht nicht ruhen läßt, die nervösen Erscheinungen, die dem Ausbruch der Geisteskrankheit der beiden älteren Brüder vorangingen, haben sich auch bei ihm eingestellt. Er hält es nun für frivol, eine so junge und liebenswürdige Dame an sein dunkles Schicksal zu binden, hat aber nicht den Mut, dem gnädigen Fräulein selbst davon zu sprechen. Er will nicht, daß das gnädige Fräulein sich an einen Mann kette, der dem Wahnsinn verfallen ist, und dem vielleicht ein jahrelanges Vegetieren in einer Irrenanstalt bevorsteht. Deshalb möchte er, so lange sein Verstand noch klar ist, dem gnädigen Fräulein die Möglichkeit geben, von dem Verlöbnis zurückzutreten.«

»Und warum spricht er nicht selbst mit mir?«

»Ich sagte ja schon, er hat nicht den Mut dazu. Er fürchtet sich, seine trüben Gedanken in Worte zu fassen. Er bittet Sie auch, die ganze Angelegenheit ihm gegenüber nicht zu erwähnen, sondern nur das gnädige Fräulein vorsichtig einzuweihen, damit sie der Schlag nicht allzusehr treffe, wenn er eintreten sollte. Es würde Hatto sympathisch sein, wenn das heimliche Verlöbnis vonseiten des gnädigen Fräuleins gelöst würdet.«

»Ich verstehe, verstehe ganz gut, mein Herr Baron, und ich denke, unsere Unterredung ist jetzt beendet.«

Der Professor erhob sich brüsk und öffnete dem Besucher die Tür.

»Mein Herr, wir haben einander nichts mehr zu sagen.«

Baron von Bahlingen verbeugte sich und sagte mit verbindlichem Lächeln:

»Lassen Sie den Boten nicht entgelten, wenn er der Überbringer einer traurigen Nachricht sein mußte.«

Damit war er zur Tür hinaus.

Professor Köbner ging aufgeregt im Zimmer hin und her, schüttelte mit dem Kopf und sprach immerfort vor sich hin: »Wer hätte das von Mohrungen gedacht, aber die Frauen haben immer das richtige Gefühl. So eine heimtückische Art, sich hinter Krankheit zu verstecken. Als armer verabschiedeter Offizier schätzte er sich glücklich, Cornelia zu bekommen, als reicher Grundbesitzer ist sie ihm natürlich nicht standesgemäß. Ostelbiergesinnung, pfui Deibel.«

Es war ihm nicht möglich, an seine Arbeit zurückzukehren. Seine Nerven flogen. Und es war kein Wunder, denn sein einziges Kind, an dem sein ganzes Herz hing, war verletzt, und wie er wußte, schwer. Er saß eine Zeitlang still, blies dichte Wolken Zigarrenrauches vor sich hin und überlegte, aus welche Weise er Cornelia die Hiobspost überbringen sollte. Es ihr direkt sagen, war nicht möglich, aber …. jetzt fiel ihm etwas ein. Da war ja das in der Vatikanischen Bibliothek neu aufgefundene Fragment aus dem fünften Buch der Historien des Tacitus, fünfunddreißig Pergamentblätter. Sicherlich würde sein Freund, der Pater Tupfinger in Rom, ein ausgezeichneter Gelehrter und Kustos an der Vatikanischen Bibliothek, gern Cornelia gestatten, die Handschrift zu kopieren. Das war eine Arbeit, die gut ein Vierteljahr dauern konnte, und in einem Vierteljahr würde man schon eine Ausflucht finden …. ja, ja, das war das Richtige. Zuerst aber mußte er seine Gattin einweihen …. frische Fische, gute Fische. Arbeiten konnte er heute doch nicht mehr, also hinüber.

Er fand die Frau Professor allein, Cornelia war ausgegangen, um Besorgungen zu machen und wurde vor dem Abendbrot nicht zurück erwartet. So konnten die beiden Eltern die Angelegenheit in Ruhe besprechen. Nachdem Köbner seiner Gattin den Fall in der Beleuchtung dargestellt hatte, in der er ihm erschien, schloß sie sich seiner Ansicht an, daß man keinen Versuch machen sollte, die Sache wieder einzurenken.

»Er ist immer ein bißchen schwächlich gewesen, und es sieht ihm durchaus ähnlich, daß er nicht selbst die Initiative zur Lösung des Verhältnisses ergreift, sondern einen Dritten mit der Erklärung zu uns schickt. Die Sache hört sich ganz plausibel an. Tatsächlich sind seine beiden Brüder, das hat er uns ja oft erzählt, an einer Geisteskrankheit schnell hintereinander gestorben. Ich habe aber nichts davon gehört, daß sich ähnliche Symptome schon bei ihm eingestellt hätten, möglich wäre es ja. Die Krankheit, die er sich im Chinafeldzuge geholt, wirkt ja häufig auf den Geisteszustand, und dann handelt er ja eigentlich wie ein ehrlicher Mann, der unsere Tochter nicht einem unheilvollen Geschick entgegenführen will.«

»Ach was, Mutter, das sind Flausen, Du wirst sehen, ehe ein Vierteljahr ins Land geht, ist er verheiratet. Nein, nein, so günstig, wie Du ihn beurteilst, beurteile ich ihn nicht.«

»Ja, lieber Freund, das ist nun alles eins. Die Hauptsache ist, wie wird es Cornelia aufnehmen?«

»Ich denke, wir sagen ihr gar nichts, sondern schicken sie einfach nach Rom. Ich sprach Dir doch schon von den Tacitusfragmenten, die kann sie mir kopieren.«

»Aber, Vater, das geht doch nicht. Wir würden Cornelia in eine höchst unangenehme Lage versetzen. Sie würde von Rom aus an Mohrungen schreiben und keine Antwort erhalten, nein, nein, so geht das nicht. Ich bin mit Deinem Plan ganz einverstanden, sie nach Rom zu schicken, aber nicht, ohne daß sie vorher völlig aufgeklärt ist, und auch nicht, bevor sie sich von dem Schlage einigermaßen erholt hat.«

»Den letzten Brief Mohrungens hat sie bereits beantwortet?«

»Ja, gestern.«

»Nun, dann müssen wir einmal abwarten, in welcher Form er sich nunmehr äußert. Er weiß ja sicher, daß sein Abgesandter heute bei uns war, und es wäre interessant, wie er sich nun zu der Frage stellt.«

»Ob man da noch länger warten soll, oder ob es nicht besser ist, wenn Du ihr die Mitteilung machst ….«

»Daran habe ich auch schon gedacht, aber es will mir doch scheinen, Cornelia müßte die Initiative ergreifen, sieh mal, das Kind liebt den Mann, und ich fürchte, es würde ihr sehr nahe gehen. Glücklicherweise habe ich der Veröffentlichung der Verlobung nicht zugestimmt. Ich meine, zu all dem Herzeleid, das dem Kind angetan worden, dürfte nicht auch noch der Makel der verabschiedeten Braut kommen. Ich habe die Empfindung, Cornelia muß ihm rundweg den Absagebrief schreiben.«

»Ob sie das tun wird, ohne sich noch einmal mit ihm auszusprechen?«

»Aber, wo denkst Du hin, Mutter. Kein Wort mehr, ich würde ja meine Tochter nicht wiederkennen. Wo bleibt denn da der Mädchenstolz …. still, still, ich höre sie kommen, wir wollen jetzt nicht darüber sprechen.«

Im nächsten Augenblick wurde die Tür des Wohnzimmers stürmisch aufgerissen, und Cornelia Köbner eilte ins Zimmer. Es war, als ob plötzlich Sonnenschein alle Gegenstände in der etwas bürgerlich philiströsen Stube beleuchtete, so viel Frische und Liebenswürdigkeit ging von dem jungen Mädchen aus. Ihr schönes, etwas mutwilliges Gesicht mit den leuchtenden blauen Augen hatte einen Ausdruck von entschieden geistiger Bedeutung. Am den Mund lag ein Zug frauenhafter Sanftmut, wenn sie ruhig war, wenn sie aber plauderte, zuckte es wie von tausend Schelmenblitzen um diese seingeschnittenen Mundwinkel.

»Aber, was heißt das, der gestrenge Papa ist seinem Tacitus entflohen und gehört der Familie?«

Sie stürmte auf ihn zu, umschlang seinen Hals, tätschelte und streichelte ihn, daß er schließlich abwehren mußte.

»Aber, das ist ja reizend, Papachen, daß man Dich endlich mal ein Stündchen länger hat, Du bist wohl Deiner kleinen Schülerin ganz untreu geworden, gar nichts habe ich von Dir mehr.«

»Im Gegenteil, mein kleiner Famulus, gerade weil ich an Dich dachte, habe ich meine Arbeit abgebrochen …. Sieh mal Herzchen, es geht ein großer Wunsch in Erfüllung, den meine kleine Cornelia schon lange hegt.«

»Hat Hatto geschrieben?«

»Ist das Dein einziger Wunsch?«

»Wie sollte es nicht, Vater, Du weißt doch, daß er allein meine Gedanken beherrscht, daß ich nur an ihn denken muß …. und an Euch natürlich, denn vorläufig seid Ihr mir noch die Nächsten.«

Die beiden Eltern wechselten einen schmerzerfüllten Blick.

»Hast Du Italien und die ewige Roma ganz vergessen?«

»Ich soll nach Italien, eine Studienreise?«

»Nein, eine Arbeitsreise …. Sieh, Kind, ich habe Euch doch von den Tacitusfragmenten erzählt, die zwischen alten Sitzungsprotokollen in der Vatikanischen Bibliothek von meinem Freunde, dem Pater Tupfinger, aufgefunden worden sind.«

»Ja, Papachen, und Du versprichst Dir ja so viel für Deine neue Ausgabe.«

»Gewiß, Du weißt, die neue Ausgabe ist bereits im Druck, und ehe ein Vierteljahr hingeht, werden wir bis zu den Historien vorgeschritten sein. Es ist aber sehr fraglich, ob die Herausgabe der Fragmente bis dahin beendet sein wird, es ist noch fraglicher, ob photographische Abbildungen davon hergestellt werden dürfen. Der Papst soll ja ein etwas eigentümlicher Herr in dieser Beziehung sein. Ich selbst kann nun nicht nach Rom reisen, und so wäre es mir eine große Unterstützung, wenn Du Dich aufmachen wolltest und nach Rom pilgern, der Pater Tupfinger wird Dir gern behilflich sein, die Handschrift zu lesen und wird auch die Abschrift überwachen. Du schickst mir dann Blatt für Blatt hierher …. Brauchst Dich nicht zu beeilen, brauchst Dich überhaupt nicht als Arbeitspferd zu fühlen, bleibe ruhig den Winter über in Italien; wenn Du willst, siehe Dir Neapel an, kurz, Du bist ganz frei.«

»Papa, dahinter steckt doch etwas.«

Der Vater wurde verlegen.

»Aber, Kind, was soll dahinter stecken? Willst Du nicht, dann muß ich einen Studenten bitten, die Abschrift für mich anzufertigen.«

»Natürlich will ich, Papachen, gern, ich wundere mich nur, daß Ihr Euch gar nicht ängstigt um mich.«

»Du bist jetzt einundzwanzig Jahre und so erzogen, daß wir keine Angst zu haben brauchen. Im übrigen wirst Du bei Frau Professor Thomasius wohnen, das heißt mit andern Worten, Du wirst so gehalten, wie bei uns zu Hause.«

»Also abgemacht, Papachen, ich reise. Wann soll es sein?«

»Sobald als irgend möglich.«

»Ich will nur gerade Hatto schreiben, damit er nicht vergeblich seine Briefe hierher richtet.«

»Ach, Kind, das ist ja wohl nicht so eilig, das können wir ja auch besorgen.«

»Aber, Papa, Hatto hätte dann doch allen Grund, mir böse zu sein. Er muß doch wissen, wo ich bin und was ich vorhabe.«

»Du hast erst gestern geschrieben, und kannst doch nicht zweimal hintereinander schreiben, ehe er nicht geantwortet hat.«

»Und zumal jetzt,« legte sich nun auch die Mutter ins Mittel, »wo er so gar nicht von der Zukunft spricht, ich dächte, Papa hat recht. Warte wenigstens erst ab, bis er Deinen Brief beantwortet hat.«

»Ich verstehe Euch nicht, was habt Ihr denn eigentlich auf einmal gegen Hatto?« …. Und nun im plötzlichen Erkennen der Situation …. »Ist mit Hatto etwas passiert? Soll diese italienische Reise vielleicht nur ein Vorwand sein, mich von Berlin wegzuschicken?«

»Aber was denkst Du, Kind, wir werden Dir doch keine Geschichten vormachen.«

Papa Köbner geriet immer mehr in Verlegenheit, und die Mutter tat das Beste, was sie in diesem Falle tun konnte, sie brach ab und sagte:

»Cornelia, vielleicht beauftragst Du Trude, den Tisch zu decken und kochst für uns den Tee.«

»Ja, Mama, gern, aber erst möchte ich doch wissen, was mit Hatto ist und was dieser plötzliche Entschluß bedeutet, mich nach Rom zu schicken?«

»Cornelchen, suche nicht hinter den einfachsten Dingen etwas Besonderes, es ist nichts, es ist wirklich nichts.«

Cornelia ging kopfschüttelnd hinaus.

»Ja, ja, Vater, sie ist uns zu klug, wir werden ihr doch reinen Wein einschenken müssen.«

»Jedenfalls hat unser heutiges Gespräch das eine Gute, daß Cornelia vorbereitet ist. Sie macht sich schon Gedanken, weil Mohrungen gar nicht schreibt, wie er die Zukunft gestalten will. Nun kommt die Reise hinzu und …. na, wir wollen sehen, was der nächste Brief bringt, erst danach können wir eine Entscheidung treffen.«

Wie verabredet, wurde in der Familie des Professors Köbner in den nächsten Tagen kein Wort über Mohrungen gesprochen. Wenn die drei so eng verbundenen Menschen abends nach Tisch zusammensaßen und über Tagesfragen oder wissenschaftliche Probleme plauderten, saß unsichtbar und doch von allen bemerkt, ein Vierter bei ihnen, aber er sprach nicht, und es wurde nicht von ihm gesprochen. Jeder fühlte jedoch seine Nähe. Mehr als hundertmal hatte der alte Professor den Namen seines zukünftigen Schwiegersohnes auf den Lippen, aber immer wieder unterdrückte er das Gefühl und sprach von irgend etwas anderem Gleichgültigen, sehr laut und interessiert, so daß die hellhörige Cornelia wohl merkte, der Vater denke an etwas, das er nicht auszusprechen den Mut habe.

Am fünften Abend, als der Vater mit dem Reichskursbuch am Tisch saß und die Route zusammenstellte, brachte die Achtuhrpost einen Brief von Mohrungen. Eine seltsame Spannung lag über den dreien, die beiden Alten wußten, daß das eben eingegangene Schreiben eine besondere Bedeutung hätte. Cornelia ahnte etwas. Es war in der Luft wie ein unheimlicher Druck. Der Name, der unausgesprochen auf aller Lippen während der letzten Tage gelegen hatte, trat plötzlich in der deutlich geschriebenen Handschrift auf der Rückseite des Kuverts hervor. Da stand: Absender Freiherr von Mohrungen auf Mohrungen. Das war ein anderer, als der scheue, zurückhaltende Hatto, den sie kannte, das war der Majoratsherr Mohrungen auf Mohrungen, wie das klang.

Cornelia war nicht das Mädchen, sich lange mit unnützen Grübeleien abzugeben, sie nahm das Papiermesser und öffnete, äußerlich ganz ruhig, aber im Innern fliegend vor Aufregung, das Kuvert und während sie den Brief las, wurde ihr schönes Gesicht bleich und bleicher. Die Eltern beobachteten diesen Wechsel mit banger Sorge und warteten gespannt auf den Augenblick, da Cornelia ihnen den Brief überlassen würde.

Als sie zu Ende war, legte sie ruhig die kleine, rechte Hand auf das Schriftstück und sah ihre Eltern mit einem seltsam harten, aber entschlossenen Blick an.

»Papa, sage mir, was Du gewußt hast von Mohrungen, als ich an jenem Abend nach Hause kam und Du zuerst von der Romreise sprachst?«

Professor Köbner drehte sich hin und her.

»Aber, Kind, Du hast doch einen Brief von Deinem Verlobten, Du mußt doch besser wissen als ich, worum es sich handelt.«

»Aus diesem Brief geht an und für sich nichts hervor,« antwortete Cornelia mit steinerner Ruhe, »er gewinnt erst Bedeutung im Lichte Deines seltsamen Benehmens und der Tatsache, daß Du mich plötzlich auf ein halbes Jahr nach Italien schicken willst.«

»Gib mir den Brief, mein Kind.«

Cornelia schob dem Vater das Schreiben hin, und dieser durchflog erst für sich die vier Seiten lange Epistel, und dann begann er laut vorzulesen:

 

Herzliebste Cornelia!

Ich bin aufs tiefste betrübt und in schwerer Sorge, in welcher Weise ich Dir von den völlig veränderten Verhältnissen Kenntnis geben soll, die mein Leben seit letzter Zeit bestimmen. Du weißt, daß eine entsetzliche, unaufgeklärte Geisteskrankheit meine beiden Brüder dahingerafft hat, und es ist furchtbar, vor Dir nun die Tatsache enthüllen zu müssen, daß sich auch in meinem Organismus Störungen bemerkbar machen, die mir Furcht und Grauen einflößen. Ich bin von unheimlichen Mächten umgeben, die an meinem Lebensmark zehren, die meine Nerven hin und her reißen und mit kaum noch eine ruhige Stunde lassen. Infolgedessen habe ich mit einem vertrauten Herrn Rat gehalten, was da zu tun sei, und er hat mir vorgeschlagen, mich mit Hermann von Kleißt, den ich ja von Jugend auf als treuen Kameraden liebe, wie Du weißt, hierher nach Mohrungen zurückzuziehen. Dieser arme Freund nun ist einem dunklen Verbrechen zum Opfer gefallen. Wir fanden ihn vor drei Tagen mit zerschmettertem Schädel und beraubt auf der Heide liegen. Du kannst Dir denken, welch furchtbaren Eindruck dies Verbrechen auf meine Seele gemacht hat. Ich fühle, daß ich nicht mehr der bin, der ich war. Es ist ein Unglück über mir, ein furchtbares Verhängnis, das alle die mit in mein Verderben reißt, die mich umgeben, die mich lieb haben, und an denen ich mit meinem Herzen hänge. Mich befällt bei dem Gedanken an Dich eine wahnsinnige Angst, daß das Verhängnis, das mich bedroht, auch auf Dich überspringen, Deine hoffnungsvolle Jugend vernichten könnte. Ich möchte zu Dir eilen, möchte Dich beschützen vor dem Entsetzlichen, das mir droht und denen, die mich lieb haben. Aber ich bin durch ein feierliches Gelübde an die Scholle gefesselt, ich darf nicht fort, ich kann nicht fort und muß ausharren und dem Geschick die Stirn bieten. Vielleicht kommt nach dieser trüben Zeit eine bessere, vielleicht auch muß ich ein Ende nehmen wie meine unglücklichen Brüder.

Sei überzeugt, daß in meinem Herzen nur ein einziges Gefühl lebt, aus der treuen, unwandelbaren Liebe zu Dir, daß alle meine Gedanken bei Dir sind, daß mein Herz Dich vergöttert und meine Sehnsucht Dich stündlich umfängt. Aber es ist mir so, als ob meine heiligsten und besten Gefühle vergiftet würden durch das unheimliche Verhängnis, das drohend über meinem Haupte schwebt. Meine Seele blutet vor wildem Weh, wenn ich daran denke, daß ich Dich vielleicht für immer verlieren muß. Und doch wage ich nicht die Hoffnung aufrecht zu erhalten, daß ich aus dem finsteren Todesschatten, der mich umgibt, je wieder in das helle Sonnenlicht fröhlichen Lebens treten kann. Es kommt mir vor wie ein häßlicher Egoismus, wenn ich Deine köstliche Jugend, Deinen Liebreiz und alle die goldenen Hoffnungen, die Dir winken, unauflöslich verknüpft sehe mit meinem dunklen Geschick. Ich weiß nicht, ob ich noch das Recht habe, auf Deine Liebe und Deine Treue zu hoffen, ob ich überhaupt wagen kann, Dein Geschick mit dem meinen verbunden zu nennen. Es widerstrebt meinem ritterlichen Gefühl, Dich an einen Unglücklichen zu fesseln, dem die Nacht des Wahnsinns droht, und der vielleicht nicht einmal die Kraft hat, ein wertloses Leben von sich zu werfen, jedenfalls gebietet mir mein Herz, Dir völlige Freiheit des Entschlusses zu lassen, ob Du an meiner Seite ausharren willst, oder Dich als frei betrachten möchtest. Ich jedenfalls darf nicht so selbstsüchtig sein, auf Dein gegebenes Wort zu pochen, und das Unglück darf mich nicht ungerecht machen, auch wenn Du den Entschluß fassen solltest, der uns trennt. Ich werde in unwandelbarer Liebe Deiner gedenken und die glücklichen Stunden segnen, die mir der Sonnenschein Deines Wesens gewährte, ich werde sie hegen und pflegen als ein Heiligtum meiner Seele, so lange mir die Kraft des klaren Verstandes bleibt.

Leb wohl und beklage

Deinen tiefbetrübten
Hatto.

 

»Der arme, unglückliche Mohrungen,« flüsterte Frau Professor Käbner vor sich hin und wischte sich mit dem Taschentuch die Augen, »was muß er leiden, geradezu entsetzlich, immer den Gedanken zu haben, jeden Augenblick kann die geistige Umnachtung eintreten.«

»Ach was, Mutter, das sind Phrasen, auf die gar nichts zu geben ist.«

»Papa, ich muß doch sehr bitten, Du hast keine Berechtigung, an der Wahrheit von Hattos Worten zu zweifeln.«

»Gewiß nicht, mein Kind, wenn der Brief als einziges Dokument vor uns läge, gewiß nicht, dann würde es meiner Ansicht nach keine andere Antwort geben, als die: Ich bin Deine Braut, ich halte Dir mein Wort, Dein Glück ist mein Glück, Dein Unglück mein Unglück.«

»Ganz genau so gedenke ich zu schreiben, Papa.«

»Wenn ich Dir aber sage, daß vor fünf Tagen schon ein Herr, Freiherr von …. Freiherr von …. na, ich habe seine Karte aufgehoben, bei mir war und mir mitgeteilt hat, im Auftrage seines Freundes Mohrungen, wie er erklärte, ich soll Dich vorsichtig darauf vorbereiten – – –«

»Auf was vorbereiten?«

»Nun, darauf, daß er Dich nicht länger an sein trauriges Geschick binden will, kurzum, der vornehme Herr wollte Dir die Chance frei lassen, die Verlobung von Deiner Seite aufzuheben. Als Grund wird die Krankheit vorgeschützt.«

»Aber, Vater, davon steht ja gar nichts in dem Brief.«

»Geschrieben nicht, allerdings, aber zwischen den Zeilen und in Verbindung mit der Erklärung des Freiherrn von Bahlingen, glaube ich, hieß er, kann es keinem Zweifel unterliegen, daß Mohrungen die Verlobung aufzuheben wünscht. Das Geringste, was er einer Dame gegenüber tun muß, ist, daß er Dir die Vorhand läßt. Wenn Du das nicht verstehst, mein Kind ….« Statt aller Antwort brach Cornelia in ein herzerschütterndes Schluchzen aus. Die Mutter eilte zu ihr, umschlang ihre Schultern und bettete ihr Köpfchen an ihrer Brust.

»Mein armes Kind, sei doch ruhig, fasse Dich doch, Du hast ja Deine beiden Eltern, das Leben liegt mit all seinen Hoffnungen und seinem Sonnenschein noch vor Dir. Willst Du um der Enttäuschung, die Dir ein Mann bereitet hat, der Deiner nicht wert ist, schon alle Hoffnungen aufgeben? So etwas machen wir Frauen alle einmal durch, und wer es nicht durchgemacht hat, der hat nie die wahre Liebe, die große Liebe kennengelernt. Raffe Dich auf, der Mann ist gar nicht wert, daß Du um ihn weinst.«

»Aber, liebste Mutter, ich habe ihn doch so gern gehabt.«

»Ja, ja, ich glaube es wohl, das wirst Du auch so schnell nicht verwinden.«

»Meine Lieben,« warf jetzt Professor Köbner ein, »keine Sentimentalitäten. Wir haben hier mit ganz einfachen Tatsachen zu rechnen, und wir können noch von Glück sagen, daß die Öffentlichkeit von der Verlobung nichts weiß. Ich werde in Deinem Namen an Herrn von Mohrungen schreiben, und ihm erklären, daß Du es unter den gegebenen Umständen für richtig hältst, die Verlobung auszulösen. Und wenn Du ruhig geworden bist, fährst Du nach Rom. Die Fülle der neuen Eindrücke, der Reichtum der italienischen Natur werden Dir bald über diese erste Enttäuschung Deiner Jugend hinweghelfen. Schließlich sind Deine Eltern doch auch noch da.«

»Ja, Papa, Du hast recht, aber so schnell, wie Du glaubst, ist es nicht möglich, eine Liebe aus dem Herzen zu reißen, es ist vorbei, glaube nicht, daß ich jemals anderen Sinnes werden kann, daß ich Hatto jemals vergessen werde. Du hast mich im Geist der Alten erzogen, Vater.«

»Ja, mein Kind, trotzdem, wir dürfen die schwarzen Schicksale nicht über uns Herr werden lassen, sonst verdunkeln sie uns den Lebensweg …. Ich gehe jetzt, an Herrn von Mohrungen die richtige Antwort zu schreiben.«


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