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Rezensionen

»Schwarzes Land«

Von Alphonse de Chateaubriand.
Übersetzt von Rolf Schottländer.
Berlin, Verlag Die Schmiede, 407 Seiten

Chateaubriand schreibt den »Heimatsroman«, der seinesgleichen bis jetzt nicht in der europäischen Literatur gehabt hat: es ist eine »Heimatskunst«, die der »Scholle« entstammt, aber weiter reicht als nur in die Welt. Denn diese Kunst reicht in die Überwelt.

In der bisher größten »Heimatskunst« gab es viel Heimatskunde. Man sah Rasse, Sitten, Gebräuche, Stammeseigenschaften. Diese Literatur war manchmal beschränkt, nicht nur geographisch, und immer begrenzt, wenn auch nur geographisch. Über die Grenze, die geographische, heimatliche, landsmännische, greift Chateaubriand hinaus. Die Menschen dieses Romans haben nicht den bekannten »Duft der Scholle«. Nicht nur aus dem einfachen Grunde, weil das Land Chateaubriands aus Torf und Sumpf besteht und nicht aus »Schollen«; sondern weil die Menschen ebensowenig greifbare Realität besitzen wie Nebel, die aus den Mooren steigen. Sie sind zu Gestalten, Trägern von Handlungen und Ideen verdichtete Moornebel.

In Frankreich unter Generationen von »rationalistischen« Autoren ist Chateaubriand der einzige nicht zivilisatorische Autor. Das Land, das er beschreibt, ist so rätselhaft, daß es beinahe nicht in Frankreich liegt. Ein ganzes Volk, das vom Torfstechen lebt, wehrt sich gegen die Trockenlegung des Landes. Es ist der Kampf der Elemente: Wasser gegen Feuer. Die zwischen diesen Elementen stehen (von der Liebe in die Mitte gezwängt), gehn unter. Die Repräsentanten der Elemente siegen im Untergang. Wenn hier ein Mensch die Waffe streckt, ist er trotzdem nicht unterlegen. Wenn endlich die Maschine über den Sumpf siegen wird, ist der Sumpf dennoch gewaltig. So ist es, wenn Elemente kämpfen. Sie besiegen einander nicht. Sie verfließen ineinander.

Chateaubriand beschreibt das rätselhafteste Land Europas. Es liegt an der Nordküste Frankreichs. Seine Menschen leben heute noch wie vor 300 Jahren. Ein durchschnittlich »interessanter« Schriftsteller hätte eben die Merkwürdigkeit des Landes herausgeholt. Das wäre auch viel. Chateaubriand holt mehr heraus als Ethnographie: nämlich Metaphysik.

Frankfurter Zeitung, 1. 11. 1925

 

»Das Fest« und »Den Teufel im Leib«. Zwei Romane von Raymond Radiguet

Beide übersetzt von Hans Jacob.
Berlin. Verlag: Die Schmiede

 

Vom frühverstorbenen, in Frankreich und von einigen deutschen Kennern sehr beklagten Raymond Radiguet sind nur diese zwei Romane erschienen. Beide sind vollendet. Im »Fest« wird eine Liebesgeschichte erzählt, die keine Liebesgeschichte ist. Thematisch ereignet sich nichts. Es ist ein Frühling ohne Sommer. Oder ein Vorfrühling ohne Frühling. Es blüht und kommt nicht zur Frucht. Es keimt und kommt nicht zum Blühen. Zwischen einem jungen Mann und einer jungen verheirateten Frau spielt etwas und wird nicht ernst. Alle Phasen dieses keimenden Verhältnisses sind sehr genau, wie mit der Zeitlupe aufgenommen. Aber die Nichthandlung wächst durch solche Präzision zur stärksten Handlung. Die Relativität des »Geschehens« wird fühlbar. Das »Ereignis« ist schon da, ehe es sich ereignet hat. Das Abenteuer, das nicht stattfindet, ist so spannend wie nur einer der abenteuerreichsten Kriminalromane.

»Den Teufel im Leib« heißt der Roman einer wirklichen, will sagen: einer materiellen Liebe zwischen einem jungen, beinahe halbwüchsigen Menschen und der Frau eines im Felde stehenden Soldaten. Nicht oft ist in der europäischen Literatur die erste Leidenschaft eines Jünglings so unerbittlich dargestellt worden. Immer umrankten die Dichter das nackte Feuer mit raschelndem, frommem Laub. Immer war »Innigkeit« ein Bestandteil der Brunst. Hier ist es nur Leidenschaft, ist nur Blut, ist nur Leben. Dieser eine Band löscht tausend Bände überflüssiger und verlogener Liebesgedichte aus. Es ist ein brennendes Idyll. Ringsum ist Weltkrieg. Sein mörderisches Geräusch reicht bis ins verschlossene Zimmer der Liebenden und erfüllt jede Stunde, in der das Blut spricht. In diesem Sinn ist dieses Buch ein Kriegsroman, obwohl er im Hinterland spielt. Denn der echte Dichter kann, auch wenn er Entlegenes erzählt, nicht los von dem Dröhnen seiner Zeit. Den Takt seines Schrittes bestimmt sie, hemmt sie, beflügelt sie.

Frankfurter Zeitung, 21. 2. 1926

 

Bücher von Soldaten

Frankreich – Tschechoslowakei – Deutschland

Joseph Delteil, der berühmte Verfasser der »Jeanne d'Arc«, hat versucht, ein Epos über den Weltkrieg zu schreiben; die »Poilus« – so heißt sein in der Edition du Loup (Paris) erschienenes Buch – zu besingen; nicht die historischen Tatsachen zu behandeln, sondern den Atem der historischen Tatsachen; nicht das Faktum, sondern den Spiritus. Delteil versucht, die Menschlichkeit von dem Schauder und aus dem Historisch-Offiziösen zu lösen, das Private (Tragische und Schöne) von dem Monumentalen – den »poilu« also wiederzugeben und nicht den Soldaten.

Dieses Buch, das in Frankreich eine Zeitlang umstrittene Sensation war, konnte nur in Frankreich geschrieben werden. Es ist ein gut angelegter Versuch geblieben. Die zeitliche Nähe verhindert die epische Objektivität. Aber selbst aus einer zeitlichen Ferne ist der Weltkrieg 1914 bis 1918 nicht etwa wie ein Trojanischer zu behandeln; und auch wenn Delteil Homer wäre, er könnte über die Belagerung von Paris keine Ilias schreiben. Ein Krieg, den man so überwunden hat, den man so durchschaut hat, dessen unermeßliche Tragik aus so kleinlichem Diplomaten-, Kaiser- und Phrasenspiel erwuchs, ist nicht mehr (auch in Frankreich nicht) ekstatisch- episch, sondern satirisch zu behandeln. Delteil hat subjektiv geschrieben, ein lyrisches Dokument geliefert, die atmosphärischen Schwankungen der »Großen Zeit« aufgezeichnet.

 

Die »Große Zeit« erweist ihre grausame Wahrhaftigkeit nur in der Karikatur. Der tschechische Dichter Jaroslav Hašek hat sie gezeichnet. Sein Buch heißt »Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk während des Weltkrieges« (Prag, Adolf Synek, 334 Seiten. Geb. M 5.20).

Der brave Soldat Schwejk ist ein kleiner tschechischer Hundehändler, ein österreichischer »Tepp«, dumm und harmlos, ahnungslos gegenüber den großen Dingen dieser Welt und ihnen in all seiner Ohnmacht dennoch überlegen. Der Trottel Schwejk entlarvt das heroische Zeitalter als eine grauenhaft gehäufte Dummheit, die ihm nicht, nicht einmal ihm gewachsen ist. Gegenüber dem gesunden Menschenverstand eines notorischen Schwachkopfes hält das großartige Gebäude nicht stand, das Historiker, Gelehrte, Politiker, Kaiser, Könige, Präsidenten, Industrielle und Dichter aufgerichtet haben.

Von Gott sag man, er spreche durch den Mund der Narren. Im Buch Jaroslav Hašeks spricht der Ewige sogar durch den Mund eines wegen ärztlich bescheinigten Schwachsinns aus dem Militär Entlassenen. Das verlogene Pathos enthüllt der Idiot besser und nachhaltiger als der Satiriker. Der brave Soldat Schwejk ist bereits in dem Grade dumm, daß er weise wird. Es gibt auch noch etwas Dümmeres als Dummheit: Das ist Torheit. Der Weltkrieg war eine. Schwejk beweist es.

Das Buch Hašeks ist aus gesammelten Feuilletons entstanden, die der Autor in Rußland während des Krieges in einer für die tschechischen Legionäre herausgegebenen Zeitung täglich erscheinen ließ. Hašek ist später Kommunist geworden. Wäre er nicht allzufrüh gestorben, wer weiß, er hätte noch ein Buch geschrieben, in dem sein neues tschechoslowakisches Vaterland eine ebenso ironische Spiegelung erfahren hätte wie sein altes österreichisches. Er hat jedenfalls sein Buch von Schwejk nicht mehr redigieren können.

Es ist manchmal weitschweifig, es bedürfte einer Kürzung. Die deutsche Übersetzung hätte jedenfalls besser sein müssen. Ein paar Kapitel dieses Buches waren einmal in einer deutschen Zeitschrift in glänzender Übersetzung erschienen. Warum blieb die Übersetzung nicht? Es ist so schwer, diesen Prager Vorstadt- und Hundehändler-Dialekt lebendig im Deutschen wiederzugeben, daß der Verlag sich die Mühe hätte nehmen müssen, nach einem Übersetzer von Rang, nach einem Kenner Prags und der deutschen Sprache zu suchen (etwa Meyrink oder E. E. Kisch).

 

Hašek liefert die bewußte Karikatur des Soldaten. Der selige Philipp Mainländer, ein ehrenwerter, gut angeschriebener, wenn auch nicht sehr origineller Philosoph (1876 durch Selbstmord geendet) schreibt die unbewußte Karikatur.

Walter Rauschenberger hat dem Gedächtnis des braven Philosophen keinen guten Dienst durch die Herausgabe der hinterlassenen Schrift »Meine Soldatengeschichte« (Berlin, Georg Stilke, 144 Seiten. M 6) erwiesen. Ich wünschte dem toten Mainländer, er hätte einen klügeren Verwalter für seinen Nachlaß gefunden und einen besseren Stilisten. Wenn Rauschenberger in der Einleitung schreibt: »In anthropologischer Richtung ist zu bemerken, daß Mainländer mittelgroß und brünett war« – so ahne ich schon, was Mainländer selbst in militärischer Richtung zu bemerken haben wird. Und ich erfahre wirklich, daß der arme Mainländer 1866 vergeblich um Aufnahme in das Heer gebeten hat. »Im Herbst 1868«, so schreibt Mainländer, »stand ich vollkommen frei da, und mein erster Gedanke war natürlich, in die Armee einzutreten, damit ich bei Ausbruch eines Krieges gleich mitmarschieren könnte.« Es gelingt ihm nicht.

Schließlich (aber erst nach dem Krieg 1870/71) gelingt es dem Philosophen, Soldat zu werden. Bevor er einrückt, bereitet er sich folgendermaßen vor:

»Auch verfehlte ich nicht, immer eine halbe Stunde lang mich auf meinen neuen Beruf vorzubereiten. Ich machte ›langsamen Schritt‹ (die blauen Glockenblumen und der gelbe Ginster kicherten leise, und die dicken Hummeln verspotteten mich schadenfroh) und übte Griffe: Gewehr auf! Präsentiert das Gewehr! Gewehr ein! und Hiebe: Rechts- Hieb! Links-Hieb! Stich! Dieses Ineinandergreifen zweier diametral entgegengesetzter Tätigkeiten, der reinen Sensibilität und reinen Irritabilität, brachte den seltsamen Zustand in mir hervor!«

Der arme Mainländer! Er ist kurzsichtig – frisch, fromm, fröhlich, frei, aber kurzsichtig. Deshalb begibt er sich einen Tag vor der offiziellen Musterung angstvoll zum Oberstabsarzt, versetzt diesen in große Verwunderung, erhält schließlich die Zusicherung, daß er auf jeden Fall Soldat würde, und wird es. Er wird Soldat und beschreibt naiv, kindlich, sentimental das Soldatenleben. Und Rauschenberger gibt es heraus. Und entblößt den Mainländer, der eine brave, stille Rubrik in einem philosophischen Nachschlage-Lexikon ausgefüllt hätte, als einen »Dreijährig-Freiwilligen«. Und ein Verlag druckt es. Und eine Papierfabrik liefert das Papier. Und Setzer setzen es. Und Buchhändler vertreiben es. Und ich – bespreche es.

Ich bespreche es als ein kleines, winziges Zeichen der deutschen Gegenwart.

Frankfurter Zeitung, 15. 8. 1926

 

Emile Zola

(Antwort auf eine Umfrage zum 25. Todestag)

Lieber Gerhart Pohl!

Ihre freundliche Aufforderung, mich an Ihrer Enquete über Zola und die Möglichkeiten seiner Wirkung auf die heutige deutsche Generation zu beteiligen, erreicht mich erst heute – und gerade in der Stunde, in der ich von der Hinrichtung Saccos und Vanzettis aus den Zeitungen erfahre. Vielleicht wird zu der Zeit, in der diese Zeilen Ihren Lesern vor die Augen kommen, der Zusammenhang zwischen dem Mord in Amerika und dem größten Diener der Gerechtigkeit in Frankreich nicht mehr so natürlich wie mir in diesem Augenblick und etwas willkürlich konstruiert erscheinen. Erlauben Sie mir dennoch, von dem Gedanken auszugehen, der mich während der ganzen qualvollen Lektüre der Berichte verfolgt: Es gibt keinen Zola mehr in der Welt! ...

Ich weiß nicht, ob er heute (nach dem Krieg) und in Amerika (dem Land der unbegrenzten Unmenschlichkeiten) den Mord verhindert hätte. Aber daß kein einziger Schriftsteller »von Weltruhm« sich gerührt hat, ist für uns, Genossen dieser Zeit, mehr als beschämend: Es könnte fast unsere Hoffnungen vernichten. Die Überzeugung, daß die Gerechtigkeit tot ist – in Amerika und in Europa –, muß alle Herzen kalt und starr gemacht haben. Zola aber hätte auch den Mut gehabt, für eine aussichtslose Sache zu kämpfen. Denn es war sein Glaube, daß die Zukunft die Sünden der Gegenwart rächt – um sie auszulöschen; und daß diese Zukunft den Armen von heute gehört, den Elenden.

Nur Blinde können glauben, daß mit der »rein literarischen« Wirkung eines Mannes nicht eng zusammenhängen: seine Leidenschaft, an der sogenannten »Aktualität« teilzunehmen; seine Liebe zum Tag und alles, was zu ihr gehört: das Volk, die Bitterkeit der Armut und die Härte des Reichtums und seiner Gesetze. Niemand kann sich über die Erde erheben, auf der er lebt. Es gibt keine Grenze zwischen einer Stellungnahme zu den öffentlichen Gemeinheiten und einer tapferen, »zur Ewigkeit hingewendeten« Arbeit. Ein Mensch, den ein Zeitungsbericht über eine Schändung der Menschlichkeit nicht unmittelbar zur Tat ruft, kann nicht mehr das Recht haben, über Gesichter und Handlungen von Menschen zu schreiben. Zola hat aus leidenschaftlicher Achtung für die Wirklichkeit die Grenze zwischen dem »Profanen« und dem »Edlen« aufgehoben. Jene verlogene Grenze, von den ewigen Reaktionären errichtet. Denn es ist ihre Eigenschaft, »Heiligtümer« zu errichten, um Eintrittskarten zu verkaufen. Zola war der erste europäische Schriftsteller ohne Schreibtisch als Instrument der Eingebung, der erste Romancier mit dem Notizbuch. Der erste Dichter auf der Lokomotive.

Ich glaube, daß er dadurch gerade Deutschland ein Beispiel sein kann. Denn unsere Autoren sind die Dichter am Schreibtisch. Wir haben die Fabel von den blinden Sehern und dem Fluch der professionellen Ästhetiker. Wer von den deutschen berühmten Schriftstellern hat sich um schwarze Reichswehr, massakrierte Arbeiter, bayrische Justiz, Pommern und die Herren von Kähne gekümmert? Wie viele Dreyfus-Affären hatten wir seit 1918? Wer von den berühmten Männern hat schon einen Lokomotivführer angeschaut? Konstruiert haben sie sich manchmal einen.

Nicht sie haben das Recht, den Zolaschen »Naturalismus« »flach« zu nennen. Er war die literarische Form eines starken Glaubens an die Kraft der Wirklichkeit. Nur durch eine minutiöse Beobachtung der Wirklichkeit kommt man zur Wahrheit.

Ich bitte Sie und Ihre Leser um Entschuldigung für diese hastigen Sätze und bin mit kameradschaftlichem Gruß Ihr

Joseph Roth

Die Neue Bücherschau, 1927

 

»Der lebende Buddha«

 

Paul Morand, bekanntlich aufgewachsen beim Buddhismus, hat einen Roman geschrieben:
»Der lebende Buddha«, der jetzt in deutscher Übersetzung im Insel Verlag erscheint.

Morand erzählt die Geschichte des buddhistischen Kronprinzen Djali von Karastra, der in Gesellschaft eines französischen Freundes seine Heimat verläßt, sich nach Europa begibt, es in- und auswendig kennenlernt, es zum Anlaß nimmt, zwischen seiner eigenen Biographie und jener Buddhas Analogien zu finden, und schließlich nach einer aussichtslosen und durch die bekannten Rasse-Vorurteile mißlungenen Liebe zu einem amerikanischen Fräulein in die Heimat zurückkehrt, um den Thron der Väter wiedereinzunehmen, schlicht und einfach ein König zu werden, nachdem es ihm mißlungen war, ein Weißer zu sein.

Was mich betrifft, so habe ich zwischen der Geschichte Morands und der von »Alt-Heidelberg« mehr Verwandtschaftliches gefunden als zwischen Djali und Buddha. Das harte Schicksal eines Thronerben, der auf Lust und Liebe verzichten muß, weil sozusagen eine Damokles-Krone ständig über seinem jugendlichen Haupte schwebt, kennen wir in Deutschland aus unserer eigenen Geschichte. Wenn in Karastra ähnliche Sachen passieren, so fühlen wir uns im Fernen Osten angenehm heimisch. Und ich sehe in der Tatsache, daß Morand in die deutsche Sprache übersetzt wird, das Walten eines Schicksals ebenso wie das eines sicheren Instinkts für den kleinbürgerlichen Geschmack der Leser. Seit den ersten Zeilen, die ich von Morand gelesen habe, weiß ich, daß jeder Buddha, den er anrührt, sofort auf die Dimension eines kleinen deutschen Provinzprinzen herunterkommt, und ich kann mir infolgedessen keinen idealeren Vermittler ferner Exotik für Deutschlands gute Stuben denken. Die Tatsache, daß Morand französisch dichtet, ist nur ein angenehmer Beweis dafür, wie leicht wir uns eigentlich mit den Nachbarn verständigen könnten.

Nur deshalb – und weil Morands außergewöhnlich hohe französische Auflagen ein Beweis für die Existenz der guten Stuben auch in Frankreich sind – beschäftigen wir uns mit diesem Autor ausführlicher, als wir es etwa mit einem deutschen seiner Art täten. Dieser Weltreisende, der das Kunststück versteht, noch zwischen zwei Expreßzügen am Autovolant der Zeit ein Weltbild zu entwerfen, und der jeden Augenblick den Globus aus der Westentasche ziehen kann – er hat uns gerade noch gefehlt! Wir besaßen nur unsere biederen Kolonialreisenden, die wenigstens die Details falsch sahen und den großen Vorzug besaßen, nicht schreiben zu können. Morand aber kann schreiben – das heißt: Er besitzt die Fertigkeit, Beobachtungen so hinzuschreiben, als ob er sie gemacht hätte, und aus der engen, modernen und amerikanisch geschnittenen Manschette Behauptungen so fallenzulassen, als schüttele er sie aus einem Röllchen. Morand begnügt sich nicht mit Details. Er bezieht aus ihnen apodiktisch vorgebrachte Verallgemeinerungen. Ein Schotte steckt bei ihm im Nationalkostüm und hat rote Haare. Die Inhaberin eines snobistischen Salons ist eine »Zigeunerin«, die bereit ist, »überall Weihrauch zu streuen«. Der Agent Sowjetrußlands ist natürlich ein dicker Geschäftsjude mit Propagandaflugblättern in der Aktentasche. Dessen Sohn in Paris ein katholischer Klerikaler. Denn es können bei Morand nicht zwei Juden auftreten, ohne daß sie die Gegensätze der ganzen Rasse darstellten. Und so auf jeder Seite. Morands Menschen sind immer Repräsentanten von Rassen, Nationen, Religionen, Ständen, Typen, und man schlägt die Bücher dieses fixen Kosmopoliten auf wie die bekannten farbigen Blätter in einem großen Atlas, in dem die Menschen so sauber klassifiziert sind wie die Hunde im Lehrbuch der Naturgeschichte.

Es geht den Gegenständen nicht anders. In Amerika zum Beispiel »steigen die Häuser steil in die Luft wie ein gellender Schrei«. Die Schornsteine von London bilden selbstverständlich »ein Meer«. Und sogar »die Toten« fallen »in die Versenkung« – damit man nicht sage, sie würden begraben. Die Beine eines Straßenmädchens sind »wie eine Schere, die den Asphalt schneidet«. Die Kühnheit der Morandschen Metaphern entspricht vollkommen der seiner Weltanschauung.

Es gibt eine Solidarität – außer jener der guten Stuben. Und in ihrem Namen bedauern wir, daß statt der Morands nicht andere französische Autoren übersetzt werden. Es ist die Solidarität, die uns veranlaßt, Frankreich selbst vor seinen Morands in Schutz zu nehmen.

Frankfurter Zeitung, 6.5.1928

 

Der Franzose auf der Wodanseiche

Georges Bernanos, französischer Schriftsteller von Rang, veröffentlicht ein Buch über den im Krieg verstorbenen antisemitischen Publizisten Edouard Drumont, den die literarische Welt bereits vergessen hatte; zu Unrecht vergessen. Denn der Polemiker Drumont war ein bedeutender Schriftsteller, seine Leidenschaft war edel, seine Sprache kräftig, sein Witz tödlich, seine Ironie blank, sein Haß der Haß eines Starken, seine Liebe warm und groß, sein persönlicher Mut (in vielen Duellen bewiesen) war die Quelle seines literarischen Mutes, sein privates Leben entsprach vollkommen seinem öffentlichen, er war in der Tat ein Ritter ohne Furcht und Tadel, und das Ziel, das er mit Leib und Leben, Geist und Feuer, Degen und Pistole verfolgte, war leider außerordentlich dumm: denn er wollte die Juden ausrotten. So viel Genie für eine Torheit! So viel Tapferkeit für eine Schwäche! So viel Edelmut für eine Idee von Menschenfressern! So viel Eifer für eine Banalität! So viel katholische Überzeugung für den Teufel und so viel Glauben für die Katz! So viel Heroismus für eine Feigheit! So viel Einsicht für eine Ahnungslosigkeit: fürwahr, ein verpfuschtes Leben!

Immerhin: Es hat nicht viele Antisemiten von menschlichem und literarischem Wert gegeben, und Drumont ist sicher in den Himmel gekommen, in jene Abteilung, in der die wertvollen Kannibalen sitzen, die seltenen Besessenen, deren Lauterkeit belohnt wird, damit ihre Dummheit nicht bemerkt werde. Bernanos, der den toten großen Antisemiten auch der Nachwelt erhalten will, scheint die Meinungen seines Gegenstandes und seines Meisters teilen zu wollen. Aber Bernanos ist kein Polemiker, sondern ein Epiker. Deshalb nimmt er eine pietätvolle Haltung ein, wenn er eine rein kriegerische einnehmen wollte. Er macht den Eindruck eines Mannes, der mit gezücktem Degen einem Leichenwagen folgt – statt mit einem gesenkten. Er macht einen schlechten Eindruck, der Epiker Bernanos: Er jammert und fuchtelt. Eine Haltung, die, nach der Meinung der Antisemiten, eher einem Juden anstehen sollte. Bernanos' Intentionen sind nicht weniger edel als die des toten Drumont. Aber wenn ein Polemiker naiv ist, vergißt man über der Technik des Kampfes die Dummheit des Ziels. Wenn aber ein Epiker naiv ist, der gerne fechten möchte, sieht man lediglich, wie er sich hinter jenem verbirgt, hinter dem »großen Bruder«. Sicherlich fehlt es Bernanos ebensowenig an Mut wie Drumont. Aber Bernanos kann die Waffe nicht führen, die er sich von Drumont ausgeliehen hat. Also gerät er in eine Stellung, die beinahe so lächerlich ist wie die eines Schwächlings: Er klagt und schlägt. Gewiß ist seine Klage edel. Seine Sprache hat ihren eigenen Glanz und einen lang nicht mehr gehörten Klang. Er ist ein bedeutender Schriftsteller. Man kennt seine (in Deutschland übersetzten) Romane: Sie überragen die französische Durchschnittsliteratur der letzten zehn Jahre. Sie verraten Erkenntnis, Gewissen, Tradition und die himmlische Gnade (im religiösen und literarischen Sinn). In dem Buch nun, das er dem Andenken Drumonts widmet, versucht er vergeblich, den Nachruf mit einem Kampfruf zu verbinden, und es gelingt ihm nicht, ein Bild des Toten der Nachwelt zu vermitteln, sondern nur einen starken Eindruck von dem Toten. Dieser erscheint gerade noch der Vergessenheit entrissen; keineswegs aber dem dauernden Gedächtnis erhalten.

Das Buch kündet seinen polemischen Charakter im Titel an. Es heißt: »La Grande Peur des bien-pensants« (zu deutsch: »Die große Angst der Ewig-Braven« etwa) und trägt in Klammern, erst auf der zweiten Titelseite, den dünn gedruckten Namen Edouard Drumonts. Mit der Linken wird die Fahne gesenkt, mit der Rechten das Schwert erhoben. Eine angemessene Art, einen toten Kämpfer zu ehren – wenn man sie beherrscht. Wenn man's nicht kann, sollte man's lieber bleibenlassen. Es wäre des Epikers Bernanos würdiger gewesen, den Namen seines Helden fett gedruckt auf das erste Titelblatt zu setzen. (Wahrscheinlich aber ist er der Eingebung seines Verlegers gefolgt, der Frankreichs lautester ist: Grasset.)

Dieses Werk wäre, auch wenn es einigermaßen Aufsehen erregt, eine rein französische Angelegenheit, und wir hätten keinen Anlaß, uns damit zu beschäftigen, wäre es nicht in einer Zeit erschienen, in der der deutsche Antisemitismus Triumphe feiert, die ihn allmählich aus dem Stadium des Kannibalismus in das des Parlamentarismus zu führen scheinen. In dieser Zeit ist es von Bedeutung zu hören: daß ein guter Franzose und ein guter Katholik die Juden (besonders die Juden deutscher Herkunft) für bestimmte französische Mißstände haftbar macht; daß auch Franzosen für eine garantierte Blondheit schwärmen können und manchmal in die Lage geraten, einen »Normannen« einem »Kelten« vorzuziehen und diesen wieder einem »Mediterraneer«; daß man imstande sein kann, den Katholizismus zu einer Angelegenheit der »französischen Rasse« zu machen, und daß also eine alte katholische Tradition gewisse Franzosen nicht hindert, sich einen Gott nach dem Ebenbild Wodans zu schaffen; daß auch unter den »Welschen« die Blauäugigkeit geschätzt wird und daß sie keineswegs ein deutsches Reichspatent ist. Wir haben allen Anlaß, die Franzosen zu beneiden, weil ihre Antisemiten bedeutend begabter sind als die unsrigen. Aber welch ein Vergnügen zu hören, daß jene ebenso töricht sind! Welch eine Genugtuung zu vernehmen, daß ein von dem Katholiken Bernanos geschätzter katholischer Antisemit die Tatsache bedauert, daß Jesus Christus der Sohn einer Jüdin war! Der Beweis dafür, daß die barbarische Geschmacklosigkeit kein ausschließliches Kennzeichen bestimmter europäischer Länder ist, wird geradezu eine Garantie für das kommende geeinigte Europa! Laßt uns nur hoffen! Auch der französische Romancier, nicht nur der slowakische und rumänische Bauer, glaubt an den Ritualmord. (Bernanos glaubt heute noch an Dreyfus' Schuld.) Bernanos ist überzeugt, daß die einzige Rasse, die geeignet wäre, den katholischen Glauben fruchtbar zu machen, die französische sei. Ein französischer Katholik von Genie als nationalsozialistischer Pfarrer von Borkum ist eine recht interessante Erscheinung. Die historische Ahnungslosigkeit, die Rom nach der Normandie verlegt, unterscheidet sich um ein Haar von der Monstrosität jenes deutschen Gelehrten und Rasseforschers, der das biblische Paradies in Ostpreußen gesucht hat. Wir haben einander nichts mehr vorzuwerfen. Wir sind quitt. Auch Frankreich hat sein Thüringen!...

 

Diese harmlose Provinz-Kasino-Fröhlichkeit, mit der hier der Mut eines Juden, der sich duelliert, geringgeschätzt wird, während zum Beispiel die heilige Überzeugung antisemitischer Straßenbanden (»Sturmkolonnen« heißen sie in Deutschland), daß man Juden die Köpfe oder zumindest die Hüte einschlagen müsse, einen literarischen Preisgesang davonträgt; diese sture Burschikosität, die »Saujud!« brüllen kann, ohne die klassische Haltung aufzugeben; diese wütende Blindheit, die den Prügelstock schwingt und dabei in würdiger Sprache über das Unglück jammert, das die Geprügelten angerichtet haben; diese Treue gegenüber dem Glauben, dem Adel, dem Heroismus, der Tradition, der Noblesse, Schulter an Schulter mit der kindischen Lust am Straßenkrawall; diese Hand, die nicht aufhört, mit der Knute zu drohen, und dabei gleichzeitig das Zeichen des Kreuzes machen möchte: und kurz und gut: Diese ganze Mischung aus Kreuz, Krone und Hakenkreuz ist eine Mißgeburt, würdig dieser Zeit, gegen die Bernanos zu Felde zu ziehen glaubt. Wie sehr er selbst eines ihrer Zeichen geworden ist, wird ihm ewig unbekannt bleiben.

 

Es handelt sich aber keineswegs um diese billige nationale Schadenfreude über die primitive Tatsache, daß jeder »seinen Juden schlägt«. Ich zögere nicht, das Buch von Bernanos eine Gefahr zu nennen, nicht nur, weil es eine Dummheit ist, sondern weil es eine Dummheit sanktioniert. Es ist ein Unterschied, ob man seine antisemitische Haltung mit Argumenten aus germanischen Urwäldern belegt oder ob man den heiligen Augustinus zu ihrem Zeugen degradiert. Was einem Heiden ansteht, der »nicht dertauft« werden konnte (ein Scherzwort, das zu Unrecht auf jüdische Konvertiten angewandt wird und das haargenau auf jene Christen paßt, die es seit Jahrhunderten nicht werden können), wird eine Gottlosigkeit unter der Feder eines Mannes, an dessen Christentum nicht gezweifelt werden kann, auch wenn er aus ahnungslosen Provinzen kommt. Was man gewohnt ist, aus dem Munde eines gottesleugnerischen »Osaf« zu vernehmen, der bewußt die Haltung eines Keulenschlägers annimmt und auch dessen stammelndes Kauderwelsch nachahmt, kann nicht von einer Stelle verkündet werden, die sich berufen glaubt, Rom vor den Juden zu schützen und den Erlöser vor seiner jüdischen Abstammung. Wer sich auf die Edda beruft, um den Juden »ihr Geld« abzunehmen, mag vielleicht recht haben. Wer aber die Bibel in der Hand hält, um aus ihr die Superiorität der »französischen Rasse« abzuleiten, begeht ein Sakrileg.

Kein Zweifel, daß sich Bernanos dessen bewußt ist, denn er tritt mit der Ambition eines Reformators auf, eines »Protestanten« (im wörtlichen Sinn). Er weist die Kardinäle zurecht und erteilt dem Papst unerbetene Ratschläge. Er hat keine Vorstellung von der Weltkenntnis, von der Vorsicht, ja von der Weisheit, die den Vatikan auch dort noch auszeichnen, wo er offensichtliche Fehler begeht, und von den alten, überlieferten, von der Institution selbst, automatisch beinahe, an ihre Diener vermittelten Fälligkeiten, dank denen noch der subalterne Angestellte Roms einem französischen Romancier aus geographischer und geistiger Provinz bei weitem überlegen ist. Der gute geniale Bernanos ist aus dem harten, biederen Holz geschnitzt, das offenbar aus den alten nordischen Wodanseichen herstammt und aus dem seit Jahrhunderten alle Gründer aller »nationalen Kirchen« hergestellt werden. Er ist ein Sektierer. Und fehlt es ihm nicht an Sinn für den Humor seines Helden Drumont, so doch zweifellos an eigenem. Er kämpft gegen die Kirche mit der Sicherheit, die ihm das Bewußtsein gibt, ihr treuer Sohn zu sein. Er ist überzeugt, sich dies und jenes »herausnehmen« zu dürfen. Und er hätte bestimmt bereitwilliges Gehör zu erwarten und vielleicht sogar auch hie und da ein verborgenes wohlgefälliges Lächeln, wenn seine Ahnungslosigkeit nicht so hartnäckig zu einem nur verzeihenden herausforderte. Man muß es ihm lassen, dem Bernanos: Für Porzellanläden bedeutet er eine immense Gefahr; auf dem Fechtboden ist er vermutlich besser zu verwenden. Er gehört zu den Typ der eifrigen Katholiken, die es besser wissen als die Kirche und die gerade scharfäugig genug sind, deren plumpste Irrtümer mit ausgestrecktem Zeigefinger zu agnoszieren. Da sind Banalitäten, die bei Dramont erträglich werden, weil er ein polemisches Temperament ist – die einzige literarische Qualität, die das Banale entschuldigt. Was aber fängt man mit den Banalitäten eines Romanciers an? Was soll man gar mit Torheiten anfangen, die in einer klassischen Form dargebracht werden und in einer glänzenden Sprache, in der die Leidenschaft für das Wort den Leser ebenso erfreut wie ihn die Selbstsicherheit ärgert, mit der ihm der Autor seine gleichgültigen Erkenntnisse mitteilt?! Aus Respekt vor der schriftstellerischen Persönlichkeit des Autors unterdrückt man noch ein Gelächter. Aber ein Lächeln läßt sich nicht mehr hintanhalten.

Es ist nicht lächerlich, durchaus nicht lächerlich! Es ist ein tragischer Anblick! Ein edler Mann, ein Kämpfer »für Recht und Glauben«, zieht aus, um diese Plattheit zu bekämpfen, diesen Absud der Aufklärung, dieses schäbige Gemisch aus Gottlosigkeit und Kollektivismus, diese ganze plebejische Gesinnung, die sich bald »demokratisch«, bald »proletarisch« nennt, die Literatur, Wissenschaft und Kunst mit ihrem vulgären Zentnergewicht erfüllt und herabzieht. In welch einer Rüstung tritt er auf, der Kämpfer? In der nationalsozialistischen. Mit dem naiven Kinderglauben, er trüge das Kreuz auf dem ritterlichen Schild, und mit der Blindheit geschlagen, die nicht sehen kann, daß dieses Kreuz an allen vier Ecken verdächtige Auswüchse zeigt, Haken, die sich beizeiten krümmen; unter dem Zeichen des Hakenkreuzes will Bernanos kämpfen. Er weiß nicht, daß die Idee von der »Rasse« und daß die Idee des »Antisemitismus« Schwestern sind, Schwestern des »Materialismus« des 19. Jahrhunderts, Zeit- und Wiegengenossinnen jener Plattheit, die den heroischen Menschen stürzt, um den kleinbürgerlichen einzusetzen, den aufgeklärten anstatt des gläubigen, den Vetter des Affen anstatt des göttlichen Ebenbilds, den hochmütigen Bürger an Stelle der demütigen Noblesse und der noblen Demut. Er hat, blondgläubig und blind, ein »Idealist«, den Sündenbock gefunden: den Juden, der handelt, den Typ des Geldmenschen, der kaufen kann, wo andere kämpfen müssen. Diese haarsträubende Ignoranz, der die Schwarzhaarigkeit mit der Börse identisch erscheint und die aus der Tatsache, daß es »Levantiner« gibt, das Recht zu dem Sakrileg ableitet, Gottes Ratschluß zu korrigieren und Christus wegen seiner Herkunft zu bedauern, diese Ignoranz ist das deutlichste Kennzeichen des »Heidentums«, der mißlungenen Taufe, der Stimme des Urgroßvaters aus der Eisbärhöhle, auf den Bernanos so stolz ist. In diesem Beifall, den er prügelnden Straßenräubern klatscht, meldet sich der Ahne mit der Keule. Wie kann jemand, der an die göttliche Gnade glaubt, eine Gemeinschaft verurteilen? Und wie kann jemand, der eine Gemeinschaft verurteilt, nicht einsehen, daß er ein intimer Bruder der »kollektivistischen« Gesinnung wird? Wie kann einer, der höchstens die Bekanntschaft des Herrn Arthur Meyer gemacht hat, das westliche Produkt einer barbarischen Glaubensverfolgung und eines echt europäischen zweckhaften Denkens, den Anspruch erheben, die Juden zu kennen? Dieses Volk, dessen geheimnisvolle östliche Massen, weit entfernt von jeder okzidentalen, bequemen Sparkassen-Bürgerlichkeit, jeden Tag aufs neue gekreuzigt werden, Wunder erleben, Hungers sterben, für den Gott, den der Antisemit anzubeten vorgibt? Hat dieser französische Katholik keine Ahnung davon, daß ihm, wenn er nur katholisch ist, der weißrussische Chassid näher ist als sein eigener Verleger aus Paris?

Er weiß es nicht. Ihn aufzuklären ist wahrscheinlich zwecklos. Aber es galt, einmal festzustellen, daß unter den anständigen Kämpfern für die Wiederaufrichtung der menschlichen Würde sich zu Unrecht Antisemiten befinden. Die Antisemiten gehören auf die andere Seite. Kleinbürgerlich, materialistisch, niedrig, wie sie sind, haben sie gar nichts zu tun mit Gläubigkeit, Heroismus und Gnade. Nur ein Schwerhöriger verwechselt das, was er die »Stimme seiner Rasse« nennt, mit der Stimme des Himmels. Es gibt, ohne Zweifel, auch taube Katholiken.

Der Morgen, August 1931

 

»Französische Menschen«

Hermann Wendels jüngstes Buch » Französische Menschen« (erschienen im Rowohlt-Verlag, Berlin) erhebt, wie der Verfasser im Vorwort betont, nicht den Anspruch, den Leser zu »belehren«. »Diese Porträtskizzen wollen und sollen nichts, sie sind einfach da.« Wir glauben dem Verfasser seine bescheidene Absicht, obwohl wir nicht die literarische Höflichkeit verkennen, die sich gleichzeitig in ihr ausspricht. Eine leicht »altmodische« Haltung, diese Galanterie gegenüber einem Publikum, das sie leider nicht mehr verstehen dürfte. Wir loben uns diese Haltung. In einer Zeit, in der die »Biographen« so begehrte Autoren sind und sich meist von der Substanz ihrer Gegenstände oder gar von der Verfälschung dieser Substanz allein nähren, scheint es schon auf den ersten Blick ein Verdienst, in einem einzigen Bande zweiunddreißig Porträts interessanter Persönlichkeiten zu vereinigen, statt, wie so mancher Biograph von heute es wohl versucht hätte, zweiunddreißig Bände herzustellen, um zweiunddreißig Jahre von ihnen zu leben. Freilich sind unter diesen Porträts einige, (die durch häufige Behandlung bereits allgemein bekannt – um nicht zu sagen: populär – geworden sind. Und äußert der Verfasser im Vorwort Bescheidenheit, so verrät er Mut, wenn er eine vielbehandelte Gestalt wie Jeanne d'Arc nicht nur noch einmal porträtiert, sondern auch mit diesem Porträt sogar seinen Band eröffnet.

Nun offenbart es uns zwar keine neuen wesentlichen Züge: Allein, in dem Zusammenhang betrachtet, in dem es der Autor zeichnet, ist es selbst und der Platz, den es einnimmt, nicht unwichtig. Wie überhaupt im Verlauf der Lektüre dieses Buches allmählich den Leser die Erkenntnis überkommt – fast hätten wir gesagt: der Verdacht –, daß die augenscheinliche Anspruchslosigkeit des Verfassers einen immerhin ansehnlichen Anspruch verdeckt, ja: sozusagen enthält. Und die scheinbare Harmlosigkeit des Titels »Französische Menschen« erhält unversehens beinah einen didaktischen Sinn. Der Titel erscheint gleichsam abgetrennt von dem Satz: »Seht, so sind französische Menschen!« oder: »So können französische Menschen sein!« Und somit erhält das ganze Buch einen anderen, will sagen: einen beinahe aktuell-politischen Sinn. Das heißt, bei einem Buch, das ein Deutscher, der die Franzosen liebt, heutzutage für deutsche Leser schreibt: einen humanen Sinn. Und das ist also das Verdienst dieses bescheiden auftretenden Autors. Ob er die Publizistin Severine behandelt, die geistige Urenkelin Voltaires, oder den blutbespritzten Fanatiker der revolutionären Sauberkeit Marc Guillaume Vadier oder Antoine de Lassalle, den »Haudegen«, einen der anständigsten Typen unter jenen Franzosen, in denen das kriegerische Gallien so sichtbar wird, oder den armseligen Ludwig XVIII., oder Louise Contat, die klassische Mätresse einer Epochenwende: Überall bestrebt sich der Verfasser, »zwischen den Zeilen«, das heißt: hinter den Gestalten der moralischen Leitgedanken seines Buches sichtbar werden zu lassen: deutlich zu machen, daß in manchen von ihm zitierten Repräsentanten der französischen Nation die sogenannten »männlichen Eigenschaften« wie Tapferkeit, Stille, Bescheidenheit, Opferfreudigkeit ebenso vorhanden sind wie in anderen die Anmut, die Leichtigkeit, die Grazie, in dritten alle diese Eigenschaften vereint. In der Tat scheinen uns die zweiunddreißig, von Wendel aus der französischen Geschichte hervorgeklaubten Gestalten für den »französischen Nationalcharakter« repräsentativ zu sein, in dem Maße, daß wir behaupten zu dürfen glauben, man lerne an ihnen sehr viel von Frankreich kennen und seiner humanen Anmut. Über all diesen Gestalten schwebt Melancholie. Der Tod, mit dem jede der Geschichten naturgemäß endet, beschattet das Leben dieses Buches. Dadurch (weil nämlich der Schatten des Todes schwerer wiegt als das Gewicht des Lebendigen) erhält das Buch die metaphysische Gravität, die mit seiner historischen Leichtigkeit kontrastiert. Ja, das scheint uns der Reiz des Buches: Es beschreibt den Tod. Sein Wert ist ein praktischer: Es lehrt Frankreich kennen, durch seine Individuen. Denn nur durch ihre repräsentativen Individuen wird eine Nation erkennbar.

Frankfurter Zeitung, 31. 7. 1932

 

Der Dichter Paul Claudel

Unter den wenigen europäischen Schriftstellern der Gegenwart, denen man mehr als Begabung, Talent, Kenntnisse und Fertigkeiten zusprechen darf, nämlich: Gewissen, steht ohne Zweifel Paul Claudel. Erst das Gewissen macht den bedeutenden Schriftsteller, das heißt jenen, der nicht nur darzustellen und auszusprechen und zu formen weiß, sondern auch auszusagen und zu verändern. Das Gewissen des Autors verleiht seinem Wort die Magie, und allein das magische Wort ist imstande, die Welt zu verändern beziehungsweise zu erneuern. Gewissen ist aber ohne Gläubigkeit nicht möglich. Das Gewissen eines europäischen Schriftstellers hat einen religiösen Grund. Das Gewissen gibt dem Wort die Magie, der Glaube gibt ihm die Weihe.

Paul Claudel ist ein religiöser Schriftsteller. Indem er sich zu Gott bekennt, erneuert er mit den Gestalten, die er schafft, das Wunder der Schöpfung im doppelten Sinne: im literarischen und im religiösen. Es gibt in der ganzen, wirklich bedeutenden europäischen Literatur keine wirklich lebendige Gestalt, über die nicht ein Widerschein des großen Wunders von der Erschaffung des ersten Menschen gebreitet wäre. Jedes einzige Werkzeug des Schriftstellers und der wirklich lebendigen literarischen Gestalt hat den feierlichen Glanz dieses allerersten irdischen Wunders. Und da das Wort erst den Menschen ausmacht, das Wort, der göttliche Atem, der einzige Stoff, der ihm zur Verfügung steht, um zu gestalten, trägt auch das Wort den feierlichen Glanz des ersten Wunders.

Es gibt ein Charakteristikum Claudels: das feierliche Wort. Er gebietet ihm (und er liebt es) mit erstaunlicher Sicherheit. Er liebt das volle tönende Gefüge der »Wendung«. Von seinen Sätzen könnte man sagen, sie schrillen und klängen zugleich, wandelnde Glocken. Es kann bei einem Schriftsteller von der Art Claudels nicht ausbleiben, daß er, verliebt in den vielfarbigen Tiefsinn des Wortes, begeistert und ergriffen von seiner Magie, dem Wort manchmal sozusagen erliegt. Er gehorcht also und dient dem Gebilde, das er selber erschaffen hat. Dies ist aber gerade ein Kennzeichen der echten Schriftsteller: Sie befehlen dem Wort, und sie sind ihm zugleich hörig.

Die Form der Rede und Antwort ist dem Dichter Claudel die bequemste. Der Reichtum und die Vielfalt seines schriftstellerischen Wesens finden in dieser Form ihren gemäßen und gerechten Ausdruck. Das in deutscher Sprache erschienene, soeben vom Dritten Reich verbotene Werk »Gedanken und Gespräche« gehört zu den kennzeichnendsten Werken Claudels. Man findet in diesem (übrigens ausgezeichnet übersetzten) Buch alle bedeutenden Gegenstände, d.h. alle ewigen dieser Erde. »Moderne« Menschen würden sagen: »alle Probleme der Gegenwart«. Politik, Architektur, Privatleben, Kunst, Literatur, Soziologisches. Die Weisheit ist demütig, das feierliche Wort selbst hat immer den Anschein, es wolle sich gleichsam entschuldigen, und die Verpflichtung, die das Gewissen schafft: Der Behauptung die Gegenbehauptung folgen zu lassen, hat die Form auch dieses Werkes bestimmt. »Für einen Schriftsteller« – sagt Claudel – »hat der Gedanke etwas Erschreckendes, daß er in alle Ewigkeit in der Gesellschaft seiner Gesammelten Werke auftreten muß, daß er in alle Ewigkeit einen Druckfehler, den er zu korrigieren vergessen hat, wie eine Laus im Pelz spürt ...«

Man ermesse an dieser sachlichen, handwerklichen Gewissenhaftigkeit des Dichters, wie groß seine menschliche Verantwortung ist und seine Furcht vor Gott. Denn gewiß ist in seinem Munde das Wort »Ewigkeit« kein Synonym für die »Nachwelt«, die der Himmel der profanen Autoren ist, sondern die wirkliche Ewigkeit: die des Jenseits und der Gnade ohne Grenzen.

Der deutsche Weg (Oldenzaal), 6. 2. 1938


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