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1923

 

Bilder aus dem Schlachthaus zu St. Marx

Breit gelagert, über einen Umkreis von 59 000 Quadratmetern, ist das Schlachthaus St. Marx, die blutige Wallstatt, der Ochsen und Kälber auenumfriedetes, von der Außenwelt abgeschlossenes Feld der Ehre, auf dem sie geopfert werden für Mensch und Magen. Um fünf Uhr morgens herrscht im St. Marxer Schlachthaus sozusagen bewegtes Sterben, in der Schlachthausgasse frühes Leben. Vom Viehmarkt her schallt das Blöken der Rinder, der gewaltigen Kehle eines Todgeweihten entgrollt von Zeit zu Zeit ein kurzer dumpfer Aufschrei. Aus der Straßenbahn eilen Schlächter herbei, in trügerisches Unschuldsweiß gekleidet, und das Messer schlenkert an ihrer Hüfte.

Aus fünf großen Objekten besteht das Schlachthaus: Es sind fünf große Schlachthallen mit kleineren Schlachtkammern, von denen die meisten mit Aufzügen ausgestattet sind, mit bequemen Kühlräumen, die wie große Banksafes aussehen, mit eisernen, dichtgeflochtenen Türen versehen, mit Ställen, unterirdischen und ebenerdigen, in denen die frommen Schafe demütig und menschergeben vor den Krippen stehen, mit eisernen Ketten an ihr Schicksal gebunden. In diese Stallungen (Vorhöfe des viehischen Jenseits) gelangen die Tiere aus dem Viehhof durch ein breites Doppelflügeltor. Sie schreiten, dumpf, ohne Widerstand – die Ahnung des kommenden Todes überschattet ihre breiten weißen Stirnen, macht ihren Trott leichenfeierlich und langsamer – eine breite, sanft ansteigende Straße empor, den Golgathaweg der Tiere. Begleitet von ihren Treibern, die keinen Zwang mehr anzuwenden brauchen.

Es ist ungesund, die Tiere unmittelbar nach dem Auftrieb zu schlachten, solange die Erregung in ihren Gemütern noch nachzittert. Sie ruhen im Stall aus, mit breiten, mahlenden Kiefern ihre vorletzte und letzte Mahlzeit kauend. Die Ställe sind groß und durch Wände in Kammern geteilt – eine Vorsichtsmaßregel, die das leichtere Absperren verseuchter Tiere ermöglicht. Nur einige unterirdische Stallungen, dumpf und ohne Licht, die »Stallkatakomben«, müssen vorläufig noch benützt werden, bis (im September dieses Jahres) die Neubauten fertig geworden sind. Diese Keller sind schaurig und mittelalterlich und erinnern an die »Verließe«, in denen zum Tod Verurteilte ihre letzten Tage zubringen müssen. In den Ställen finden 2 300 Rinder Platz.

Der Auftrieb der Tiere

Von den Ställen führt der Todesweg des Tieres zur – metaphorischen – »Schlachtbank«. Es ist keine »Bank« da – in der großen Halle sind nur Pfosten vorhanden, an welche die Tiere angebunden werden. Hoch oben sind die Fenster angebracht, aus unerreichbarer Höhe dringt das letzte Licht einer grausamen Welt sparsam und traurig herein. Es riecht nach geronnenem Blut, seit 80 Jahren rinnt hier Blut, zum Wohle der Menschheit. Tag für Tag von 6 Uhr früh an vergossenes. Den Boden deckt gleichgültiges Steinpflaster, glattes, glitschiges, in der Mitte gewölbtes. Jeden Tag flutet kaltes, reinigendes Wasser über diese Steine, und sie sind sauber und in Unschuld gewaschen und sehen aus wie am ersten Tag. Hoch oben, vielfach gewölbt, ein steinerner Plafond, hinter dem sich Gott, unsichtbar und taub, verbirgt.

Die Schlachthallen in Betrieb

In diesen Schlachthallen können täglich in Intervallen 1400 Rinder »geschlagen« werden – zu gleicher Zeit aber nur 350. Hier lassen die Großlieferanten ihr Vieh schlachten, dazu verwenden sie die »Lohnschlächter«, Mitglieder und Gehilfen der »Arbeitsgenossenschaft für Schlachtungen«, geprüfte Schlächter, die das Messer sicher führen. Die kleinen Fleischhauer arbeiten mit eigenem Personal. Die heißesten Tage sind jene der Großmärkte. Montag und Freitag. An 140 Schlachtständen rinnt das Blut unaufhörlich. An 140 Ständen sinken die wehrlosen Tiere in die Knie, vom betäubenden Gnadenschlag bewußtlos geworden. Aus 140 gutgetroffenen Kehlen schießt der Strahl des roten Lebens.

Die Luft des Schlachthofes macht die kraftstrotzenden prächtigen Tiere willig und ergeben. Ein sanfter Mahnruf des humanen Todesengels genügt, eine leise Berührung des Opfers, und es gibt den nutzlosen Versuch auf und widersteht nicht mehr. Ein sanftes Wedeln mit dem nervösen Schweif wie ein letzter Gruß an die versinkende Welt. Der fromme gute Blick schweift an den Menschen vorbei – in eine kaum erahnte Ferne dringt er durch Körper und Wände. Noch einmal sträuben sich die weichen Pelzhaare, ein kleiner Schauer streicht die Wirbelsäule entlang. Aber die Augen bleiben offen und traumverloren, das Lid zuckt nicht, das Tier scheint den Arm, der sich eben zum vernichtenden Schlag erhebt, gar nicht zu sehen. Es steht einsam inmitten seiner Todesgefährten und der tötenden Menschen, nicht mehr von dieser Welt, bereit für die Ewigkeit. Der mächtige Schlag gegen eine bestimmte Stelle des Hirns tötet schonungsvoll jede Empfindung, ehe das Messer angesetzt wird und das Tier, durch den ersten Schmerz zum halben Bewußtsein wiedergelangt, die Augen noch einmal aufschlägt, zum letzten Mal. Es ist einer der wenigen Augenblicke, in denen jedes Tier vollkommen menschlich wird durch die Macht des Todes.

Dann hängen sie nebeneinander, die Leiber, aus denen die wühlende Hand des Schlächters Eingeweide und irdischen Schmutz entfernt; die sauberen Tierleichen mit den friedlichen Köpfen, mit totem Gehirn, erstorbenen Nerven. Sie kamen einst weit her, aus Rumänien, Ungarn, Jugoslawien, und nur wenige waren in dem Land geboren, in dem sie starben. Viele Tagereisen lagen hinter ihnen, Tage in engen, finsteren Waggons, in denen sie furchtsam und erschreckt durch fremdes rollendes Geräusch ihre warmen Leiber aneinander rieben, weite Fahrten unternahmen sie nach dem unerforschlichen Willen einer höheren Gewalt, um am Ziele ihr Leben zu lassen – wie dereinst die Marschkompanien. In die sauberen

233 Kühlzellen

gelangen sie, wo das Eis vom 158pferdekräftigen Elektromotor erzeugt wird. Teile, die leicht verderben könnten, dürfen hier nicht eingelagert werden. In diesen Kühlräumen, die sich etwa auf 1540 Quadratmeter erstrecken, ist man sorgsam auf Appetitlichkeit bedacht. Das Blut gelangt in die Fattingersche Blutverwertungsanstalt, und die Menschen gewinnen auch daraus allerlei chemische Stoffe. Der Dünger wird in Eisenbahnwagen geschüttet und zu guten Preisen verkauft. Der Mensch versteht die Tiere großartig auszubeuten. Wie viele ihm auf Erden anheimfallen müssen, kann man sich vorstellen, wenn man erfährt, daß im St. Marxer Schlachthaus allein vom Jänner bis Ende Juni 1923 – 64 423 Rinder, 11 518 Kälber geschlachtet wurden. Dazu kommen noch Schafe, Lämmer, Ziegen, Kitze und Pferde.

Im Laboratorium, in das mich der liebenswürdige Schlachthofleiter Dr. Moser geleitet, leben idyllisch Kaninchen und Hasen: Versuchstiere. Auch sie dürfen sich nicht eines ungestörten Lebens erfreuen. Dr. Hennenberg nimmt ihnen Blut ab, um jenes Serum zu gewinnen, durch das die Zusammensetzung der Würste geprüft werden kann. Die Rinder tötet man, die Kaninchen läßt man leben, und der Mensch bleibt ein schlachtender Herr der Schöpfung – Sinn und Zweck alles tierischen Lebens.

Josephus

Wiener Sonn- und Montagszeitung, 9. 7. 1923

 


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