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Ein Kino im Hafen

Das Kino liegt gegenüber den Schiffen. Von der See aus kann der Mensch, der die Freuden des Kontinents lange entbehrt hat, die großen, bunten Plakate mit dem Feldstecher sehen. Das Kino heißt bescheiden »Kosmos-Theater«. Man gibt den Film von den »Roten Wölfen«.

Die »Roten Wölfe« sind eine Räuberbande in den Abruzzen. Sie haben Margot geraubt, ein schönes Mädchen, und haben es in einem unerreichbaren, hohen Turm verborgen. Aber was ist unerreichbar, was ist hoch? Ein tapferer junger Mann, Cesare mit Namen, wird Mitglied der »Roten Wölfe«, aber nur zum Schein, und befreit Margot.

Sie glauben wohl, es wäre eine Kleinigkeit, Mitglied einer Räuberbande zu werden? Sie irren sich! Es ist unendlich schwierig. Man muß eine Aufnahmeprüfung bestehen: im Ringen, im Messerstechen und im Armbiegen.

Diese Aufnahmeprüfung ist der wichtigste Teil des Films. Cesare besteht sie und erobert nicht nur den Beifall der »Roten Wölfe«, sondern auch den der Zuschauer, deren sehnsüchtigster Traum es ist, Räuber in den Abruzzen zu sein.

Von zehn Uhr vormittags bis zwölf Uhr nachts wird im Kino der Film von den »Roten Wölfen« achtmal gegeben. Achtmal im Tag besteht Cesare die Aufnahmeprüfung, achtmal begeistern sich die Zuschauer, von denen ein Drittel den ganzen Tag im Kino sitzt.

Dieses Drittel sind Frauen und Kinder. Bei Tag ist es im dunklen Kino kühler als in der engen Wohnung und in der noch engeren Gasse. Die Frauen gehen also zur Abkühlung ins Kino. Die Kinder zahlen nichts. Jede Besucherin hat mindestens vier Kinder. Sie zahlt für einen Platz und nimmt fünf ein.

Am Abend kommen die Männer, Arbeiter aus dem Hafen, essen, waschen sich und gehen ins Kino. Sie haben gestern und vorgestern die Taten Cesares gesehen und bejubelt. Aber derlei Helden kann man nicht oft genug sehen, wenn man nichts mehr als ein Hafenarbeiter ist – mit der Sehnsucht im Herzen, Räuber in den Abruzzen zu sein.

Noch romantischer als ein Hafen ist eine Räuberhöhle in den Abruzzen. Dem Taglöhner, der heute ein Fischer ist, morgen angeheuert wird, übermorgen in einem anderen, fernen Hafen zu dem Film von den »Roten Wölfen« geht, ist sein eigenes Leben nicht romantisch genug.

Ich möchte wissen, ob die Räuber aus den Abruzzen in ein Kino gehen, in dem ein Film von den Seelöwen von Marseille gespielt wird. Die Räuber aus den Bergen beneiden die Männer aus dem Hafen. Der Räuber verrichtet sein romantisches Geschäft wie ein nüchternes Handwerk und träumt von einer fremden Romantik. Davon lebt die Filmindustrie.

Dabei haben die Männer aus dem Hafen ungefähr die gleichen Sitten wie die von den Bergen. Auch die Hafenleute stechen mit korsischen Messern, biegen mit Leidenschaft die Arme der Kollegen und ringen mit den besten Freunden. Sie freuen sich, daß in den Abruzzen dieselben Freuden üblich sind. Während sie im Kino sitzen, ziehen sie die Messer, und das Auge noch auf die Leinwand geheftet, strecken sie schon die Hände gegen den Nachbarn aus, um ihm einen kleinen, spielerisch leichten Stich zu versetzen. Der Nachbar, der sich nicht alles gefallen läßt, fordert den Freund auf, vor die Leinwand zu treten und es dem Helden Cesare gleichzutun.

Man sieht also im Kino nicht nur die Taten der Männer aus den Abruzzen, sondern auch die der Männer aus Marseille.

Indessen hämmert der Klavierspieler immer wieder »Die Tochter des Regiments«. Kein Wunder, daß sich die Zuschauer langweilen. Sie verlangen ein anderes Lied. Der Klavierspieler erhebt sich, geht hinaus, und der Film läuft ohne Musik weiter.

Nach einer Weile sieht man einen großen, ergrimmten Mann. Er läßt sich diese Frechheit eines Klavierspielers nicht gefallen. Man weiß, was es bedeutet, wenn ein sehr großer, sehr breiter Mann, mit einem breiten roten Gürtel um die Hüften, mit einer zwei Zentimeter kurzen Stirn und mit Händen wie eiserne Schaufeln, sich die Frechheit eines winzigen Klavierspielers mit Regenschirm und Cutaway nicht gefallen läßt.

Nach fünf Minuten zappelt der Klavierspieler in der eisernen Faust des erbitterten Besuchers, es wird hell, und die Gäste lachen. Der Riese winkt mit der Linken zum Publikum, setzt den Klavierspieler vor das Instrument und befiehlt das von der Mehrheit gewünschte Lied.

Dann läuft der Film weiter.

Ich sitze zwischen zwei Kindern, die auf meinen Knien mit Glaskugeln spielen. Es sind zwei schöne, schmutzige Kinder. Ich möchte sie streicheln. Die Kinder stehlen einander die Kugeln und verbergen sie in meinen Rocktaschen. Ihr Vater zündet ein Streichholz an und leuchtet mir ins Gesicht. Er will wissen, ob seine Kleinen gut aufgehoben sind.

»Schöne Kinder!« sage ich.

»Geben Sie acht!« sagt er, »daß sie sich nicht schlagen.«

Ich glaube, ich bin ihm sympathisch. Er hat gefunden, daß ich Kinder sehr gut bewachen kann, und er wendet sich jetzt sorglos den Ereignissen zu, die sich teils auf der Leinwand, teils im Saal abspielen.

Frankfurter Zeitung, 4. 11. 1925

 


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