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Der Mythos von der deutschen Seele

I

In den Mythos von der »deutschen Seele« haben sich die ratlosen okzidentalen Intellektuellen geflüchtet. Sie haben sich vor den verwirrenden Spektakeln geflüchtet, die ihnen die deutsche Geschichte bietet. Aber verworrener noch als der Aspekt dieser Geschichte ist die Flucht ihrer Beobachter.

Es gibt, wie jedermann weiß, ganz bestimmte, den Geographen wohlbekannte Gegenden, in denen die Magnetnadel selbst sozusagen ihre eigene Richtung verliert. Trotzdem wird die Bussole noch kein sinnloses Instrument. Denn es gibt nichts Ungesetzliches in dieser Welt; lediglich Überraschendes. Was aber hätte man von jenen Forschern und Weltfahrern gesagt, die, verblüfft von dem angeblichen Versagen der Magnetnadel, nicht getrachtet hätten, die natürlichen Ursachen dieses Versagens zu ergründen? Wenn sie sich dem Wahn hingegeben hätten, die Bussole sei »unergründlich mystisch« geworden?

Es ist nichts Mystisches darin, daß in bestimmten Gegenden die Magnetnadel von ihrer Richtung abweicht. Und es ist nichts Mystisches darin, daß in bestimmten nationalen Regionen der Intellekt irregeführt wird. Es ist, wie gesagt, eine bequeme Ausflucht, zu behaupten, daß hier eine außernatürliche Gesetzlosigkeit vorliege. Diese Ausflucht ist gefährlich, wie jede Flucht. Aber gefährlicher noch ist es, daß sie eine Legende gebiert, nämlich die von der faktischen Unergründlichkeit eines Problems und jene »Da-ist-nichts- zu-machen«-Stimmung, in der man eben dem »Unergründlichen« entgegentritt.

Es gibt bereits – besonders in Frankreich, dem klassischen Lande der Vernunft, das eine unglückliche Liebe zum Wahn hat und das sich einbildet, in jedem deutschen Nebelfetzen die wahrhafte Walpurgisnacht zu greifen – die unselige Legende von der »germanischen Seele«. Keine geistige Verwirrung ist schwieriger zu korrigieren als ein geistiger Kollektiv- Snobismus. Die »germanische Seele« ist endgültig definiert als etwas Undefinierbares, und damit basta! Auf die historischen Tatsachen kommt es ebensowenig mehr an wie auf die täglichen, stündlichen, aktuellen. Man hat sich daran gewöhnt, die schändlichen Theaterszenen, die Deutschland von Zeit zu Zeit aufführt, durch jenes Lorgnon zu betrachten, das man in die Wagner-Opern mitnimmt. Der okzidentale Diplomat und Journalist sogar fährt nach Deutschland in der Stimmung etwa, in der ein Theaterbesucher in das Taxi steigt, um sich den »Ring des Nibelungen« anzuschauen. Dieser äußerst bequeme, ja lässige Snobismus nährt sich von der Mythologie. Die okzidentalen Politiker, Diplomaten, Journalisten treiben Germanistik, nicht Politik – und in der Tat sind nicht wenige von ihnen Germanisten von Beruf. Im Grunde sind sie herzlich gern geneigt, die Edda zu interpretieren, während sie dafür bezahlt werden, die Aktualität zu betrachten und zu erklären. Sie bringen das Kunststück fertig, in einem vulgären Hausmeister, der ein Gestapo-Beamter geworden ist und also gegen Bezahlung morden kann, tatsächlich einen Fasolt, einen Fafnir oder Gott weiß wen zu sehen, in einem gescheiterten Tapezierer zum Beispiel den Siegfried, in einem miserablen Literaten, gegen dessen Hand sich die Feder, die sie hielt, so gewaltsam sträubte, daß er gezwungen war, sich dem wehrlosen Lautsprecher zuzuwenden, womöglich den Loki. Sie sehen in braven Briefträgern, die zum »Arbeitsdienst« gezwungen werden, lauter Nibelungen, Kriemhild in jeder törichten Delikatessenhändlerstochter, die in der Hitler-Jugend tiefe Kniebeugen machen muß, und sobald das deutsche Radio ertönt, glauben sie, die Posaunen Richard Wagners zu vernehmen. Die – ebenfalls verkehrte oder zumindest verquerte, vor einigen Jahren noch gültig gewesene – Auffassung vom »faustischen Drang« des »deutschen Menschen« tritt immer mehr in den Hintergrund zugunsten jener anderen, vom »nordischen«, den man zeitgemäß allerdings mit dem Wort »Dynamik« bezeichnet. Ein Wunder, daß man die braunen Hemden der SA-Leute nicht einfach Bärenfelle nennt.

Diese Art, die deutsche Welt zu betrachten, kennen die heute regierenden Deutschen selbst genau, und sie wissen sie auszunützen: nach innen und nach außen – was bedeutend gefährlicher ist. Sie arrangieren eine Wagnersche Szenerie und machen also eine den Ausländern genehme Oper aus der vulgären Nutz-Politik. Sie kommen dem romantischen Bedürfnis jener törichten Beobachter aus fremden Ländern entgegen, die eine barbarische, simple, gemeine Hinrichtung eines Arbeiters oder einer Frau »durch das Beil« am liebsten vom Standpunkt des Theaterbesuchers betrachten möchten. Denn es ist bequemer, und es liegt in der menschlichen Natur, das allzu Grausame für ein Spiel zu halten. Entweder man schließt die Augen davor, oder man hält ein Opernglas vor die Augen. Man möchte lieber deuten als sehen, schauen, beobachten. Es gibt in der deutschen Geschichte – und besonders in der Literaturgeschichte – Anhaltspunkte genug für eine poetische Auslegung und Auffassung der grausamen deutschen Wirklichkeit. (Auch die Kunst kann unmenschliche Folgen zeitigen.)

Nicht umsonst liebt Hitler Wagners Opern oder gibt es vor, sie zu lieben. Ich glaube nicht, daß er ihren musikalischen Wert schätzt. Er liebt ihre Symbolik – eine falsche Symbolik, nebenbei gesagt – und ihren plakat-politischen Charakter.

Vielleicht liebt er Wagner gar nicht. Er ist vielleicht nur von diesem genialen Laut-Sprecher ebenso abhängig wie von jenem minderwertigen, den er zu seinem Propaganda-Wagner ernannt hat.

II

Es ist kein Zweifel, daß ein großer Teil der Gleichgültigkeit, welche die Welt den erschreckenden deutschen Symptomen entgegenbringt, zurückzuführen ist auf den Wagner-Snobismus Europas. Man sieht den gemeinen Mord in einem bengalischen Licht. Das Blut, das rot aus der Wunde strömt, bekommt also eine distanzierende violette Tönung gleichsam, und das Opfer wie der Mörder sehen beide so aus, als warteten sie nur auf das Niedergehen des Vorhangs, um sich hinter den Kulissen gegenseitig freundschaftlich den Schmerz, die Wunde und den Hals abzuschminken. Die Deutschen haben die Fähigkeit, seit jeher, mit Musikbegleitung zu töten. Aber deshalb sind sie noch lange keine »nordischen Barbaren«. Unter Friedrich dem Großen vollzog sich das berüchtigte Spießrutenlaufen so, daß die zwei Reihen prügelnder Soldaten, zwischen denen der Delinquent durchlaufen mußte, laute Lieder zum Takt ihrer Schläge sangen, damit sie selbst, die Henker, das Geschrei ihres Opfers nicht hörten. Diese Art Barbarei hat mit der nordischen Grausamkeit ebensowenig zu tun wie mit der nordischen List. Sie stammt keineswegs aus der Edda, sondern aus dem preußischen Dienstreglement. Und die »Stimmung«, die aus dem architektonischen Dekor Nürnbergs über die ausländischen Gäste der Nürnberger Parteitage strömt, hat ebensowenig mit Hans Sachs zu tun – dem echten, meine ich, nicht jenem aus den »Meistersingern« – wie der Berliner Kurfürstendamm mit Wodan und wie Baldur von Schirach, der in Paris eingeladen wird, Vorträge über Goethe zu halten, mit dem mythologischen Baldur, mit Goethe und mit Paris. Ja, der politische Terror, den Hitler gegen seine europäischen Kollegen ausübt, ist noch begründet in dem unbewußten oder unterbewußten romantischen Irrtum der Welt, daß der Herr Gustav Schulze aus Magdeburg, der sich von Haferflocken nährt, wenn er Bauchweh hat, und von Leberwurst, wenn er gesund ist, ein Ritter und Gefolgsmann der Wikinger zumindest sei. Ja, noch die Uniform aus »Ersatzstoff«, in die Schulze gezwängt wird, sieht bei Fackelbeleuchtung aus wie eine Rüstung aus Stahl, und der arme Journalist, der weder die Edda noch das Nibelungenlied, noch die Gudrun gelesen hat, dafür aber alle die Ammenmärchen von der »germanischen Seele« kennt, kommt nach Deutschland endgültig präpariert, um in dem Deutsch aus Papiermaché, in dem die deutschen Führer sprechen und schreiben, den althochdeutschen Stabreim zu entdecken. Ein lächerlicher Theaterschimmer, den die Menschen für die »deutsche Wirklichkeit« halten, verdeckt die wahre deutsche Wirklichkeit – nämlich die »Pleite« – dermaßen, daß man angefangen hat, die deutsch-jüdische Metapher »Pleitegeier« für den berühmten Raben von Wodan zu halten. Die Gefahr besteht eben darin, daß die jüdischen Bankiers von London dem Raben Wodans mehr Kredit geben als dem »Pleitegeier« jenes berüchtigten Schacht, der nicht umsonst den nordischen Vornamen Hjalmar trägt ...

Die deutsche Wagner-Maskerade ist, wie man sieht, vollkommen: Die Täuschungen »Baldur« und »Hjalmar« sind bezeichnend. (Es sind keine Vornamen.) Die preußische Symbolik ist genauso billig, wie die romantische Leichtgläubigkeit der okzidentalen Europäer groß ist. Der mechanisierte Geist, der preußische »Drill«, hat sich mit der germanischen Mythologie drapiert. Und das, was man die »europäische Welt« nennt, ist ihm, wie man nicht nordisch, aber richtig sagt: »hereingefallen«.

Das Neue Tage-Buch (Paris), 12. 3. 1938

 


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