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Vom Abbau der Preise

Ein sogenannter »letzter energischer Versuch« zum Abbau der Preise wurde vom Zentralverband der deutschösterreichischen Staatsbeamtenvereine beschlossen. Worin eigentlich dieser letzte energische Versuch bestehen soll, ist nicht bekannt. »Scheitert dieser letzte Versuch« – so heißt es in der Resolution –, »dann lehnen wir jede daraus zu ziehende Schlußfolgerung ab.« Es ist so ziemlich das einzige, was den Leuten übrigbleibt: Schlußfolgerungen abzulehnen. Die Folgen des Wuchers und der Preissteigerungen muß man leider auf sich nehmen. Dafür werden sie von den zu ihrer Beseitigung berufenen Faktoren – abgelehnt ...

Schon glaubt man, die gelobte neue Zeit hätte dem Kettenhandel die Götterdämmerung gebracht. Man wendete Anzüge zum vierten und fünften Male und entdeckte, daß jedes Ding, wenn man nur will, mehr als zwei Seiten habe. Man wartete mit der Anschaffung der dringendsten Bedarfsgegenstände, und der aus der Blockade wie aus dem Dornröschenschlaf durch den Frieden langsam, ach, nur zu langsam wachgeküßte Mitteleuropäer entdeckte erstaunt und plötzlich, daß seine eigene Lage sich in dem Maße zu heben begann, wie die Preise in den Schaufenstern sanken. Wer so dringend Hosenträger brauchte, daß er jeden Augenblick Gefahr lief, in eine Katastrophe hinabzurutschen, begnügte sich lieber mit einem Papierspagat, mittelst dessen man sich ohnehin nicht gefahrlos aufknüpfen konnte, und wartete auf das »Sinken« der Hosenträger. Zerfetzte Überzieherexistenzen wurden geflickt, und selbst aus den Trümmern einer Krawatte wurde noch eine kunstvolle Schleife geknüpft. Man wartete und wartete. Man hoffte auf den Friedensschluß. Die Behörden taten, was sie sonst zu tun pflegen: Sie versprachen den »Abbau der Preise«. Aber sie versprachen nicht nur, sie taten auch noch, was sie sonst zu tun pflegen – sie hielten nicht. Denn während zwei, drei Wochen hindurch tatsächlich eine Reduktion der Preise zu bemerken war, ein Meter Stoff 40 bis 50 Kronen, Strümpfe 12 bis 15 Kronen, Herrensocken sogar 7 Kronen, ein Paar Lederschuhe schon 120 bis 150 Kronen kosteten, klommen die Preise im Laufe der letzten Woche mit einer ungeahnten Geschwindigkeit die Höhenleiter empor und bleiben nicht nur auf einer der höchsten Sprossen – nein! –, sie bemühen sich, noch immer höher und höher zu steigen, um schließlich in den himmlischen Wolken unerreichbaren Kriegsgewinnertums den sehnsüchtigen Blicken festbesoldeter Alltagsmenschen zu entschwinden. Stoffe kosten heute schon 150 bis 200 Kronen, Herrensocken 20 bis 30 Kronen, Schuhe 250 bis 270 Kronen. Einzig sogenannte Luxuslebensmittel, die leider aus der deutschösterreichischen Verzweiflung einer arg rationierten Gegenwart heraus zu Notwendigkeiten geworden, sind verhältnismäßig billiger. Daß jemand heute Schokolade ißt und an zerrissenen Stiefelsohlen krankt, ist längst nicht mehr paradox. Aber paradox ist die Tatsache, daß jemand im Monat 150 Kronen für Luxusfahrten mit der Elektrischen ausgeben kann und das Doppelte haben müßte, um sich ein Paar Stiefel anzuschaffen und sich überflüssige Reifen zu ersparen. Barfuß und zerschlissen fahren wir mit einem 60-Heller- Fahrschein der Endstation des Unterganges entgegen ... Warum diese urplötzliche Steigerung? Eine Laune der Kettenhändler? Eine göttliche Eingebung der Wucherer? Müssen wir zusehen, wie sie uns aussaugen und untätig bleiben wie die Behörden? Der Zentralverband der deutschösterreichischen Staatsbeamtenvereine hat einen »letzten, energischen Versuch« unternommen. Wann tun es die anderen? Es wird vielleicht nichts übrigbleiben, als die »Schlußfolgerungen abzulehnen«. Aber man wird sich wenigstens gewehrt haben, ehe man dazu verurteilt wird, die Folgen – nicht ablehnen zu können.

Der Neue Tag, 6. 7. 1919

 


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