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Der Marktplatz der Kettenhändler

Hier ist der Ursprung des Übels. Hier rundet sich das erste Glied der endlos langen Kette. Hier kauft man die Lebensmittel »aus erster Hand«. Von hier aus ergießt sich der dünne und ach so kostbare Strom von Milch, Eiern und Butter in die Straßen und wenigen Häuser der Stadt. Wo das ist, will ich nicht verraten. Ich möchte mich der Lynchjustiz der Kettenhändler doch nicht ausgesetzt wissen. Nur soviel sei gesagt: Es ist ein Bahnhof, fast im Innern der Stadt, ein idyllischer Bahnhof, der wie eine große gelbe Katze gemächlich im Sonnenschein schlummert, ein Bahnhof, dessen Züge gar nicht allzu weit und natürlich auch nicht allzu pünktlich in die Welt abgehen. Zweimal des Tages, am Nachmittag und am Abend, versammeln sich die Schleichhändler Wiens vor den Toren der Halle. Züge kommen mit ländlichen Reisenden, Kleinbauern, Großbauern, Bauernkindern, Bäuerinnen in bunten Kopftüchern. Jeder Passagier trägt Rucksack, Milchkanne und Eierkiste. Allsogleich kommt Bewegung in die harrende Menge. Einzelne Gestalten lösen sich aus der dunklen Masse, nähern sich dem Ausgang, treten an die Ankömmlinge heran. Oh, die Schleichhändler haben Manieren! Sie grüßen höflich, halten während der Ansprache den Hut in der Linken und betasten mit der Rechten liebevoll den Rucksack der Passagiere. So schüchtern ist kein Gymnasiast, wenn er den angeschmachteten Backfisch anspricht, und ich glaube, die Herren Schleichhändler haben Herzklopfen. Mit Herzklopfen allein gewinnt man allerdings nicht das harte Herz eines Landmanns, und deshalb haben die Schleichhändler wertvolle Dinge in Jacken und Taschen. Tabak kommt zum Vorschein. Da würde der Herr Scheuchenstuhl Augen machen! Tabak in allen Arten und Abarten, in Packungen verschiedenartigster Fasson. Pfeifentabak aus Herzegowina, Türkischer und Persischer, Ägyptischer, Memphis, Diana, Trabucos, Portoricos und alle offiziell längst totgemeldeten Zigarrensorten. Der Handel entwickelt sich, man wird lebhaft. Dort in der Ecke redet ein Mann auf ein Bäuerlein ein, unermüdlich, immerzu, drängt es an die Wand, redet mit Händen und Füßen. Demosthenes ist ein Zwerg dagegen. Während seine nimmermüden Lippen einen Schwall von Redensarten, überzeugenden, drohenden, gebietenden, flehenden Worten hervorsprudeln, sind seine Hände fortwährend damit beschäftigt, Zigarren, Schnupftücher, Seidenborten, Strumpfbänder, Broschen, Halskragen, Manschetten dem eingeschüchterten, verwirrten, betäubten Bäuerlein unter die Nase zu halten. Schließlich »hat er ihn«. Willenlos, schlaff, ganz im Bann des flinken Händlers, läßt er sich von diesem in ein gegenüberliegendes Haustor drängen. Nach fünf Minuten kommen beide zum Vorschein. Das Bäuerlein mit seinem schlaff gewordenen Rucksack, ohne Eierkiste, mit einer leeren, scheppernden Milchkanne. Der Schleichhändler geschäftig, flink, trocken, ohne einen Blick mehr für sein Opfer. Er stürzt sich aufs neue in die Menge, und bald hat er eine junge Bäuerin bei der Schürze erwischt. Sie will sich losreißen, sie will nichts verkaufen, sie hat die Lebensmittel ihrer Schwester gebracht. Es hilft nichts. Mein Schleichhändler ist unerbittlich. Er hält sein zappelndes Opfer fest, da gibt's kein Loskommen. Mit einem Zauberring aus amerikanischem Double mit einem giftgrünen Stein hat er es ihr angetan. Das Haustor verschlingt sie.

Seht hin! Dort streiten zwei Händler um die wuchtige Gestalt eines biederen Landmannes. Es kommt sogar zu Faustschlägen, die aber wirkungslos abprallen von der dicken Bauernjoppe des Streitobjekts. »Ich hab' den Herrn vor Ihnen gesehen!« wütet der eine Händler. »Aber ich hab' ihn aufgehalten!« kreischt die sich überschlagende Stimme des zweiten. Sie zerren an der plumpen Massigkeit des Bauern herum, der fest steht, als hätte er Wurzel gefaßt im Straßenpflaster. Es wäre ihm ein leichtes, die zwei hadernden Männchen abzuschütteln, aber die Geschichte macht ihm offenbar Spaß, er hat die Augen eingekniffen und schmunzelt schlau und boshaft. Schließlich haben sich beide Parteien geeinigt. Sie kaufen alles zur Hälfte. Der Bauer kichert: Jetzt wird er sie beide drankriegen.

Außer den beruflichen Schleichhändlern haben sich natürlich auch passionierte Liebhaber des Berufes eingefunden, Dilettanten in der Kunst des Kettenhandels oder schüchterne Debütanten, Frauen haben Hemden, Leintücher, die spärliche Tabakfassung ihres Mannes herausgebracht. Manchem gelingt's, ein halbes Dutzend Eier zu ergattern. Nach einer Stunde etwa zerstreut sich die Menge. Die, denen es gelungen, stolz und siegesbewußt. Die andern, müde, verstaubt, eingefallen, sehen aus wie Soldaten auf einem »strategischen« Rückzug.

Wo das ist? Wie gesagt, vor einem Bahnhof in nächster Stadtnähe. Mehr mitzuteilen ist gefährlich für den Verräter und überflüssig für den Leser. Wer von den Lesern Schleichhändler ist, weiß es. Wer's nicht ist, braucht's nicht zu wissen. Die Polizei aber, die Polizei glaub' ich – na, red' mer lieber von was anderem! ...

Der Neue Tag, 25. 5. 1919

 


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