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Herbstrevue

Wie arm dieser Herbst geworden ist!

Reich und herrlich pflegte er einzuziehen, wie ein Kaiser. Der Sommer hielt einen Moment stille, stellte sich am Straßenrand auf und ließ die Symphonie von Gold und Purpur an sich vorüberrauschen.

Der Herbst hatte Fülle und trächtige Pracht. Er schüttete Früchte in strotzende Marktkörbe. Äpfel, braunrot von der Sonne des Südens geküßt, mit glänzender Glasur, als ob sie mit feinstem Flanell geputzt worden wären. Birnen, gelb, mit harter, glänzender Schale, aus deren Poren der Saft des Lebens sickerte. Und Trauben, schwer, von mystischem Dunkel, wie formgewordene bacchanalische Wollust. Ihr Saft war Sünde.

Auf der Ringstraße, zwischen Parlament und Oper, lustwandelte Kaiser Herbst an Oktobernachmittagen. Diese Nachmittage waren wie schwere venezianische Kelche; braun, mit Sonnengold bis zum Rande gefüllt. Manchmal fiel eine Kastanienfrucht mit gedämpftem Laut in die goldene Fülle, wenn der Herbst mit seinem Zepter einen Zweig streifte.

Er ließ Notizen in den Zeitungen drucken: Seht! Ich bin gekommen! Ich eröffne die Saison! Er zündete hunderttausend Bogenlampen in den Straßen an und schüttete Millionen Glühbirnen aus seinen purpurnen Ärmeln. Ein Troß von schweren, ächzenden Kohlenfuhrwerken, mit grobhufigen, großen Gäulen bespannt, hielt vor jedem Haustor.

Der Herbst tat nackte, weiße Frauenschultern in kostbare Pelze, Sealskin und Blaufuchs, wie man Edelsteine in samtene Etuis schlägt.

Die Fiaker standen vor den Konzertsälen und fragten: »Fahr' ma, Euer Gnaden?« Sie waren eingehüllt in Demut und Lakaientum und beugten ihre feisten Säufernacken unter das kaudinische Joch des Trinkgeldes.

Kaiser Herbst ist entthront und arm und elend geworden.

 

Wie ist er eingezogen? Der Sommer wollte nicht einen Schritt beiseite treten, sondern wuchtete schwer und träge bis zum letzten Moment auf dem glühenden Asphalt. Er wich erst, als der feuchte Nebel durch die Ritzen der Pflastersteine drang und ein hartnäckiger Proletarierregen schweißig herabtropfte. Wenige, wenige Früchte sind gekommen. Die glasurnen Äpfel und strotzenden Birnen und sündigen Trauben sind ängstlich in knisterndes Seidenpapier gehüllt und frösteln hinter Fensterscheiben. Auf den Märkten aber, von schmutzig-grauen Täfelchen überwacht, ist schmutziges Obst bettlägerig, das an Tuberkulose stirbt und die Ruhr hat. Es gibt keine Nachmittage mehr, an denen die Luft sich anfühlt wie warmes Gold. Es ist ein Ersatz aus Blech und Schwindel, und die Luft ist eine ganz gemeine Schiebung. Aus den welken Kastanienblättern werden die Zwanzighellerscheine der Gemeinde Wien hergestellt.

Der arme Herbst hat vom Stadtrat das Verbot erhalten, Bogenlampen anzuzünden. Seine Glühbirnen sind der Kunstkommission unter dem Vorsitz des Herrn Enderes verfallen.

Die kostbaren Pelze hat er den Spekulanten verkauft. Rote Fleischhauergattinnen mit speckigen Rindsnacken tragen Blaufuchs. Es sieht aus, wie wenn auf rohen Holzklötzen plötzlich Edelweiß blühte.

Und die Abende sind erfüllt vom Gestank des Karbids. An einer Straßenecke wird Pferdewurst verkauft. Schieber und Dirnen sammeln sich wie dunkle Moskitos um die bläuliche Stichflamme. Von der blau-roten Nasenspitze des Verkäufers plätschern blinkende Tropfen in den Kessel. Seine schmierigen Hände wühlen in Haufen von blauen Banknoten wie Mäuse in einem Speckmagazin.

Auf den Straßen schleichen vermummte Gestalten und suchen mit Blendlaternen das Pflaster ab. Sie suchen Zigarrenstummel und Dreck. Aus Pferdemist werden Ägyptische verarbeitet.

Nur im kleinen Park, in der Wollzeile, der so hilflos daliegt zwischen wiehernden Fiakerkutschern und besoffenen Pferden wie ein junges Mädchen in einem Soldatenlager, blühen Rosen. Rote und weiße Rosen. Verspätete Wunder. Blühende Anachronismen. Sie blühen für die sterbenden Kinder in den Kliniken.

Und auch kein Laub sehe ich fallen.

Die Menschen steigen vielleicht des Nachts auf die Bäume und pflücken Blätter zum Heizen ...

Der Neue Tag, 15. 11. 1919

 


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