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Das Café der elften Muse

Das Artistencafé liegt in der Praterstraße, nicht zufällig, sondern schicksalsgemäß, ein Ausläufer des Volkspraters.

Stellungslose Artisten und solche mit Engagement verkehren im Artistencafé. Sie ruhen hier aus von den Mühen ihres Berufes. Hier dürfen sie sich den Neigungen, den Temperamenten hingeben. Hier brauchen sie ihre Natur nicht zu verleugnen. Der Clown darf sich auf einen Stuhl setzen, ohne vorher zehnmal herunterzufallen. Dem Schlangenbändiger ist gestattet, seiner natürlichen angeborenen Furcht vor bissigen Hunden freien Lauf zu lassen. Es darf der Seiltänzer auf ebenem Boden ausrutschen und der Bauchredner seine Kehle zum Sprechen benützen. Ich sah, wie ein Jongleur eine Mokkatasse fallen ließ, sah, daß sie zerbrach, aus gewollter Ungeschicklichkeit. Abend für Abend läßt er zehn, zwanzig Teller aus Porzellan durch die Lüfte wirbeln und fängt sie mit zwei Händen auf. Einmal im Leben möchte er gerne ungeschickt sein.

Morgens, mittags, abends – immer ist das Artistencafé besucht. Tänzerinnen warten hier auf das Glück, das ein Varietédirektor zu sein pflegt. Tief in die wohltätig schattende Nische gedrückt, harrt eine ältliche Zirkusreiterin ihrer ritterlichen Auferstehung in der Manege entgegen. Und ein Telepath, kurzsichtig, mit doppeltem Augenglas, einen Zwicker vor die Brille haltend, greift zur Zeitung, um den Leitartikel zu erraten. Und ein Dresseur hat seinen Affen mitgebracht, ein kleines Äffchen.

Am Abend kann es Mokka trinken aus zierlich mit Daumen und Mittelfinger gehaltenem Täßchen. Hier in diesem Kaffeehaus übt diese Künste der Dresseur aus. Der Affe aber, im Café vom Kaffee beurlaubt, hockt auf dem Boden, jeden Gedanken an kontraktische Zivilisation hat er aufgegeben.

Die meisten Besucher sitzen nicht wie gewöhnliche Kaffeehausgäste an Tischen, brav, von ihren Regenschirmen abgelegte Inhaber. Die Gäste dieses Kaffeehauses wandern fast unaufhörlich herum – von Tisch zu Tisch, auf die Straße hinaus und wieder zurück. Sie haben eine Besprechung, sie erwarten einen Freund, die Besprechungen sind Konferenzen in Bewegung, peripathetische Konferenzen, und die Freunde sind unpünktlich. Man wartet einen halben Tag auf sie.

Man spielt auch Karten. Sie klatschen auf den Tisch, Pappendeckelohrfeigen. Man verliert, man gewinnt. So ist das Leben.

Der Groteskkomiker, erkennbar an Runzelreichtum seines lustig-traurigen Angesichts, wie ist er hier gesucht einfach, wie naiv natürlich die müde Bewegung seines Knies, dessen allabendlich dreifach komplizierte Biegung zu kunstvollem Sprung eine zahlreiche Familie ernährt.

Der kühne Feuerschlucker, der von der Flamme in den Mund lebt – wie stellt er hier erschrocken die Schale, an der er kaum genippt hat, auf den Tisch, weil ihm der Tee fast die Lippen verbrannt hätte.

Von vielen begrüßt, tritt ein Mann ein, kein Artist, ein Gönner, ein Gott, er kann grausam sein und gütig, er ist ein Unternehmer, er sucht Material. An allen Tischen geht er gleichmütig vorbei. Die hier sitzen, sind vergeblich schweigsam geworden. Auf einen Neger geht der Gewaltige zu, einen glücklichen Schwarzen findet er, einen Neger, der auch im Kaffeehaus Neger ist, seine Hautfarbe ist eine natürliche Attraktion, jederzeit und an jedem Ort wirksam.

Wie gern möchte der Liliputaner ebenfalls seine »Stellung verändern«. Groß erscheint ihm die kleine Welt und eng sein gegenwärtiges Tätigkeitsfeld. Seit zehn Jahren lebt er im Prater. Zwanzig Jahre kann er noch gut leben. In diesen zwanzig Jahren könnte man Paris, London, New York sehen, als kleiner Zwerg in einem großen Unternehmen. Andre Zwerge, die glücklicher waren und Weltbummler werden durften, konnten auch nicht mehr als klein sein.

Und leben doch besser. Und sehen die Riesenstädte der Erde, die so unermeßlich ist.

Manchmal, verlockt von dem beruflichen Lächeln einer wartenden Tänzerin, tritt ein Unbefugter in das Café, ein Bürger, Abenteuer witternd. Oh, der Naive! Er glaubt, das Lächeln, das dem Zuschauer gilt, hätte dem Mann gegolten. Diese Damen leben vom Lächeln. Von der Freundlichkeit ohne Zweck. Sie sind achtbar, keusch und streng gesittet wie deine Töchter, abenteuerlustiger Mann. Niemals erreichst du hier die erwartete Gunst. Hier sitzen (metaphorisch verstanden) Damen ohne Unterleib. Plötzlich ertönt lieblicher Nachtigallenschlag. In welcher Lüsterkrone sitzt der Vogel der Liebe? Es läßt ein Vogelstimmenimitator seine Kunst vernehmen. In Pausen von fünf, sechs, zehn Minuten schlägt er an. Eine Lerche fällt ein mit schmetterndem Jubel. Ich vermute: Er hat einen Vorschuß bekommen, der Zwitschkerer. Also singt er, wie der Vogel singt. Unsereiner trinkt einen Schnaps in solchen Fällen. Der Vogelstimmenmensch läßt einen sommerlichen Waldeschor ertönen.

Die Gäste des Cafés schlürfen Sommerfrischenluft. Blau wie der Sommerhimmel breitet sich der Plafond über den Häuptern. Zwischen den Kaffeehaustischen sprießt saftiges Grün.

Josephus

Neues Acht-Uhr-Blatt, 19. 7. 1923

 


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