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Das Kind in Paris

In allen Gärten spielen Kinder. Das Betreten der Rasen ist in einem Maß erlaubt, das den deutschen Besuchern beinahe schon sündhaft vorkommt. Und wenn etwas in einem der großen Parks und der kleinen Anlagen den Erwachsenen verboten ist, den Kindern ist es immer gestattet. Kinder dürfen in Paris auf Bänken stehen, durch Gitter kriechen, über Zäune klettern, Bälle in Blumenbeete werfen und Blumen pflücken. Spartanische Grundsätze in der Kindererziehung liebt der Franzose nicht anzuwenden. Dieses Volk, das so wenig Kinder zeugt und gebiert, achtet nicht nur im Kind die Zukunft des Landes, der Nation, der Welt – es liebt auch, ohne jede Überlegung, das Kind als Geschöpf, den werdenden Menschen, der noch halbes Tier ist.

Im Jardin du Luxembourg, in den Champs-Élysées, im Louvre – überall sind die kleinen bunten Zelte zu sehen, in denen Marionettentheater gespielt wird. Auf niedrigen Bänken sitzen die kleinen Zuschauer, kleine Mädchen, wie Damen, mit Handschuhen, Hüten, kleine ritterliche Jungen. Kavaliere mit eleganten Bewegungen, die ihre Damen mit vollendeter Höflichkeit und tadellosen Manieren behandeln. Es ist ein getreues Abbild der großen französischen Gesellschaft. Die Kultur der äußeren Bewegung, der Grazie im Gang, im Stehen, im Sitzen haben alle diese kleinen Mädchen genau so wie ihre jungen Mütter. Die französischen Kinder benehmen sich mit der freien Selbstverständlichkeit der Erwachsenen. Das ist weniger eine Blut- und Rassen-Angelegenheit als Folge der liebevollen, warmen, hegenden Nachgiebigkeit der Erzieher. Das pädagogische Prinzip in Frankreich ist nicht: spartanische Strenge, sondern: romanische Freiheit der individuellen Anlagen – es ist nicht: Zucht, sondern: Sitte.

In allen Gärten, auf allen Jahrmärkten, an besonderen Feiertagen auf allen freien Plätzen gibt es Karussells für Kinder. Mit diesem Spiel ist in sehr geschickter Weise die Erziehung des Kindes zur Geistesgegenwart verbunden: Der Karussellbesitzer hält kleine, an einem Stock locker hängende und leicht abzulösende kleine Ringe in der Hand. Alle Kinder auf den kleinen Schaukelpferdchen, in den winzigen Wagen sind mit Stäbchen ausgerüstet. Während sie an den Ringen vorbeifahren, versuchen sie sie abzulösen, gleichsam auf das Stäbchen zu spießen. Wer eine bestimmte Anzahl von Ringen hat, erhält einen Preis.

Schon die Kleinsten, die Drei- und die Vierjährigen, nehmen an diesem Spiel teil. Sie lernen das schnelle Zugreifen, den Wert des Augenblicks, das geschwinde Sichbesinnen, das treffsichere Zielen.

Es gibt schwerlich in Paris einen öffentlichen Park, in dem etwa das »Befahren der Wege mit Kinderwagen« verboten wäre. Kinder dürfen alles: in Museen, Paläste vordringen, Schwäne füttern und kleine Segelboote in den Zierteichen der Gärten schwimmen lassen. Diese weißen Segelschiffchen kauft man in allen Spielzeugläden, sie sind solide und ordentlich gebaut, mit allen Details der großen Schiffe ausgestattet, Fahrzeuge für Liliputaner. Man läßt sie schwimmen in den großen marmornen Bassins, steht stundenlang am Ufer und sieht zu, wie der Wind die Segelchen bläht, die kleine sanfte Strömung die Schiffchen zieht, wie zwei zusammenstoßen, wie jedes immer wieder zum Ufer heimkehrt. Dann stößt man sie mit langen Stangen wieder hinaus, auf das weite, glitzernde Rund des Wassers.

Frankfurter Zeitung, 17. 3. 1929

 


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