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19.

Vier Uhr am Morgen. Die Straßen Eisenachs lagen dunkel, nur der Schnee leuchtete an einigen Ecken auf, auch vor dem Distelfinkhause, vor dem eine Nachtlaterne brannte. Die gleichmäßigen Schritte des Nachtwächters schallten gedämpft vom weichen Schnee herein. Einmal blieb auch die »Ablösung« vor dem Fenster stehen, und zwei Männer unterhielten sich leise. Illo glaubte seinen Namen zu hören. – Sein großes Geheimnis lag vor ihm, das er wie seinen Augapfel hütete: die fertige Erbuhr, die mit wunderbar vollem Klang trotz ihres Alters die Stunden schlug. Illo durchschauerte es andächtig, wenn er sie hörte. Nur einige Male ließ er sie anschlagen, denn er hielt sie streng verborgen vor fremden Augen. Eingewickelt in seidene Tücher, lag sie geborgen in dem alten, schwarzen Lederfutteral mit dem langen Riemen, gefüttert mit schwerem kobaltblauen Samt. Jetzt stand sie in ihrer einfachen Bronzetracht mit den facettierten Gläsern ringsum vor dem jungen Meister. Er war nicht eingebildet auf sein Werk, denn die Fehler waren nicht überragend gewesen in dem kostbaren, von erster Meisterhand geschaffenen Werke. Er hatte sie, wie er meinte, verhältnismäßig leicht gefunden. Aber das wußte niemand. Und je mehr Illo wuchs in seiner Kunst, um so bescheidener war er geworden.

Nicht ein, nein zwei Geheimnisse hütete seit Monaten der glückliche Mensch und Künstler. Die Erbuhr wollte er seiner Mutter auf die Burg bringen, sie sollten ihr nun viel gute Stunden schlagen, jeder Hall ein Gruß des fernen Sohnes sein. Was Illo jetzt vor sich hatte, das waren die Teile einer Spieluhr, die er selbst in vielen Tagen und schlaflosen Nächten gebaut hatte. Die wollte er seinem alten Meister und Lehrer Distelfink auf den Weihnachtstisch setzen. Deshalb sollte der Heilige Abend dem Meister und seinem Hause gehören, dem er die Entfaltung seines Talentes verdankte. Und hatte der Meister sein Englein der Mutter geliehen, so gab die gütige Mutter ihren Illo dafür. Mit seinen wehmütigen Gedanken allein sollte der treue Meisterfreund nicht sitzen am heiligsten, geheimnisvollsten Abend des ganzen Jahres.

Illo straffte sich. Er nahm jeden der einzelnen Teile auf, die er so liebevoll und mühselig gebaut hatte, angeregt durch viele starke Bücher über die Uhrmacherkunst und geleitet vom umfassenden Wissen seines alten Meisters. Da war das Laufwerk, das durch ein Gewicht angetrieben wurde. Dies Laufwerk sollte durch Krummzapfen und Pleuelstange zwei Blasebälge in Bewegung setzen, die in einen Windkessel die Luft auf Vorrat pumpten. Illo erlebte noch einmal im Geiste die geheimnisvollen Stunden, in denen er dies Material zusammengestellt, durchgedacht und durchgegrübelt hatte. Das schwerste am ganzen Werk war die Holzwalze gewesen. Wie mühselig war die Geduldsprobe, die Stiftchen in die Walze einzubauen; sieben Stifte hatte er dazu gebraucht. Nun sollte die Walze durch das Laufwerk in langsame Bewegung gesetzt werden. Jeder Stift entsprach einem Ton, und sieben Töne brauchte Illo zu dem Anfang eines alten Thüringer Liedchens, ein Anfang, der alles enthielt, was er dem Englein und auch dem Meister sagen wollte. Immer weiter hatte er gearbeitet. Die Stifte der Walze betätigten sieben kleine Hebelchen, und jedes Hebelchen öffnete und schloß die ihm zugehörende kleine Holzpfeife. Aus dem Windkessel ließ sie den Luftstrom in die Pfeife strömen, wodurch der Ton erzeugt werden sollte.

Ja, werden sollte. Da lag Anfang und Schluß seines Könnens. Fünf Pfeifchen versagten noch ihren Dienst. Nur die Anfangstöne g und e kamen klar und deutlich heraus. Illo übersetzte sie mit »Du, du!« Aber die folgenden Töne e, d, e, g, f wollten nicht erklingen. Woran lag es? Nach seiner Meinung konnte sich die Walze in ihrer Längsrichtung nur verschieben, wenn mehrere Tonstücke auf ihr lasteten. Dieser Umstand konnte wohl Ursache einer groben Störung sein. Aber nicht die Kleinigkeit von sieben Tönen. Wieder setzte Illo das Werk zusammen. Stunden vergingen. Base Konkordia erschien mit dem Kaffeebrett, die Uhren der Stadt und alle Uhren in der Stube rasselten, riefen und schlugen. Sieben Uhr! Illo winkte der Base ab. Er konnte jetzt nichts genießen.

»Liebe Base, – ich bitte Sie, rufen Sie mir den Kaspar Gärisch.«

Sie eilte kopfschüttelnd davon.

»Wo brennt's?« rief der Geselle und stellte sich heischend vor Illo hin. Der hatte ein Tuch über beide Uhren gebreitet. Verblüfft schaute Kaspar auf das sonderbare Tun und den aufgeregten Lehrling.

»Kaspar, Sie werden mir einen Liebesdienst tun.«

»So, werde ich? Seit wann befiehlt ein Lehrling einem Gesellen?«

»Ich befehle nicht, Kaspar, ich bitte um tausend Gotteswillen, halten Sie mir den Meister, die Base und alle Kundschaft vom Leibe, bis ich Ihnen Bescheid gebe. Es ist ein Geheimnis, Kaspar, Sie erfahren es später einmal. Gehen Sie, rennen Sie, eilen Sie, verlassen Sie mich! Ich will's Ihnen lohnen mein ganzes Leben lang. Fort mit Ihnen, Kaspar!«

Der setzte sich langsam in Bewegung. Rückwärts ging er, wie ein Tierbändiger aus dem Käfig, wenn er sieht, daß der Tiger den Respekt verliert. Er rief noch: »Wenn einer verrückt wird, fängt's zuerst im Kopf an!« und dann schmetterte er die Tür zu. Er konnte sie nicht rasch genug zwischen sich und den Lehrling legen. Draußen berichtete er dem Meister und der schaudernd lauschenden Muhme von dem Gebahren und dem Auftrag des Lehrlings.

»Meister, mir schwant, er ist unter die Goldmacher gegangen. Passen Sie Achtung, Meister, er hatte ein seidenes Tuch, welcher Lehrling auf Gottes Welt hat große, seidene Tücher – – über seine Schätze gebreitet, und darunter gleißte es wie eitel Gold.«

»Du bist total verrückt, Geselle Gärisch«, sagte das graue Männlein ruhig und gefaßt.

»So hat er mich angesteckt.«

Und Kaspar ging mit schweren Schritten davon.

»Base Konkordia, – heute wird der Illo mit nichts behelligt, was ihn stören könnte. Hörst du, liebe Konkordia? – Vielleicht wird es ein großer Tag im Distelfinkhause. Vielleicht wird ein Meister geboren.«

Da weinte die alte Muhme. Es war gut, daß Frauen immer Tränen in Bereitschaft haben. Sonst hätte sie »den Tod von so was« gehabt.

Illo hatte sich eingeschlossen. Er setzte das Werk von neuem ein. Er prüfte, sondierte, nahm die Lupe zu jeder Handhabung. Eine Stimmgabel brauchte er nicht. Er hatte das A im Ohr und dadurch alle Tonleitern.

»Du, du liegst mir im Herzen« sang er leise vor sich hin. In der alten Fassung, wie sie ihm schon die Großmutter, die gesunde, bodenständige Thüringer Eulenriedin, gesungen. Die war nicht im Bett gestorben, war von einem Unglücksfall jäh hinweggerafft worden. Seine bis in die Fingerspitzen musikalische Großmutter, von der alle drei Enkel ihren Singsang erbten. ...

Du, du liegst mir im Herzen. g, e, e, d, e, g, f! Nein, es blieb bei den zwei Tönen g, e ! Als wenn ein Kuckuck riefe, ein kleiner zarter Kuckuck. Und es sollte doch der Anfang seines liebsten Liedes sein. Eine immerwährende Liebeserklärung für sein Englein. Und paßte auch auf den Meister, dem Illo in tiefer Dankbarkeit ergeben war. – –

Nun war es Nachmittag. Base Konkordia hatte nun doch schon mehrmals an die verschlossene Tür geklopft, ohne Antwort zu erhalten. Erst als ihre flehende Stimme bat: »Lehrling, ich vergehe vor Angst!« schloß Illo die Tür auf, öffnete sie aber nur um Handbreite und rief hindurch:

»Bitte ein Glas Milch und zwei trockene Semmeln!«

»Es sind Klöße da!« hauchte sie zurück.

Aber da schloß Illo wieder ab.

»Ich hole die Semmeln! Auch die Milch! Um Jesuwillen, nur etwas essen!«

Illo reckte sich. Er öffnete auch die Fenster, vor dem die Vorhänge zugezogen waren, und machte Tiefatmung.

Auf das erneute zaghafte Klopfen öffnete er wieder um einen Spalt die Tür und nahm Semmeln und Milch mit Dank entgegen. Das zarte Stimmlein des Meisters zirpte ihm entgegen: »Bist du munter, Illo? Es ist Palastrevolution deinetwegen.«

Illo lachte. »Jawohl. Ich bin am Ende und werde bald erlöst sein.« Eine Redeweise, die den Meister frohlocken ließ, aber die Base schreckhaft auf den nahen Tod des Lehrlings vorbereitete.

Stunden vergingen. Illo merkte nichts davon. Zuerst hatte er noch durstig die frische Milch getrunken und mit seinen festen weißen Zähnen die Semmeln zermalmt. Er spürte, daß es dieser Atzung bedurft hatte, um sich mit besserer Kraft an die Arbeit zu setzen. Die Abendsonne lugte schon in sein Fenster, als er etwas mutlos den Kopf in die Hand stützte. Sechs Töne hatte er erobert, der siebente wollte sich nicht hören lassen. Immer wieder ließ er das Werk spielen: »Du, du liegst – im Herzen.« Das d blieb aus. Von neuem hob er die Lupe ans Auge. Eine schärfere. Jäh zuckte er zusammen. »Heureka!« rief er leise, beglückt – und faltete die Hände.

Eine unmännliche Träne stahl sich in seine Augen. Mit zitternden Fingern hob er ein winziges Hebelchen, das sich eingeklemmt hatte. Illo war außer sich vor Freude. Wieder spielte das Werk. Ja, es war Wahrheit. Alle sieben Töne waren beieinander. »Du, du liegst mir im Herzen.«

Sein Werk! Sein liebes, schönes Werk! Nun war er Geselle, ganz sicher, wenn auch noch ohne Brief. Er sprang zur Tür, riß sie auf, klopfte leise an die zweite Werkstatt. Nebenan verhandelt laut und wortreich Kaspar Gärisch mit Muhme Konkordia. Stimmen, die der Kundschaft gehörten, mischten sich dazwischen. Als der Meister seinen Illo sah, sein blasses und doch strahlendes Antlitz, packte er ihn mit beiden Ärmchen.

»Komm, komm!« drängte er. »Du hast mir was zu sagen. Das brauchen die beiden anderen nicht zu wissen. Wie zwei Knaben sprangen Meister und Lehrling in Illos Werkstatt.

»Meister! Lieber Meister! Ja, ja!!!«

Weiter brachte Illo nichts heraus. –

»Wo ist die Erbuhr?« rief atemlos der alte Herr.

Rasch deckte Illo das seidene Tuch über die Spieluhr, und just schlug es sieben Uhr auf allen Kirchen, und Illos Erbuhr tönte mit.

»Herzensjunge! Wie hast du dein Gesellenstück fein zusammengebracht. Siehst du, wie der Distelfink da lacht? Als ob der Vogel wüßt', daß es meines Großvaters Meisterstück war, diese Uhr. Bis ins kleinste besah sich der Meister das Werk. »Wer es vorher gesehen hat, verstaubt und verdorben, überdreht und elend behandelt, gerade als ob eine Uhr kein Herz hätte, das lebendig schlägt in Freud und Leid, ein treuer Kamerad, der oft noch verzeiht, wenn man ihn niederwirft; – wer sie vor Monaten sah und sie jetzt so schmuck dastehen sieht, der möcht' es fast nicht glauben, daß es dieselbe ist. – Ich hab' ja auch so hundertjährige Kameraden. Sixt, Illo, manche Uhren sind gar nicht totzukriegen. Die überleben hundert Jahre und mehr den Meister, der sie schuf.« Ganz aus den Fugen war das graue Männlein.

»Hab' freilich noch nicht viel erlebt, Meister, – aber es hört sich gut an, und ich höre gern zu, wenn Ihr so frisch erzählt.«

»Ei, jetzt müßt' ich wohl rot werden, Illo. Aber ich freu' mich, daß mit diesem Werk, mit dieser großartigen, feinen Instandsetzung etwas Feierliches dich überkommen hat. Sixt, Illo, du nennst mich auf einmal ›Ihr‹ und ›Meister‹ und hast mich vordem schon ›Großvater‹ und ›du‹ genannt. Schad't nix, schad't gar nix. Können all' beid' hin und wieder zurückkehren zum ›Ihr‹ und zum ›Meister‹. Und bei ›Meister‹ fällt mir ein, – – gleich nach Weihnachten geht's an dein Meisterstück. Schade, daß das noch wieder Jahr und Tag braucht, auch bei dir. Andere brauchen viele Jahre. Jetzt, – am großen Innungstage hätte ich gern noch was Anderes von dir vorgelegt, – was Selbsterdachtes, Illo – aber kommt Zeit, kommt Rat. Und dein Gesellenstück hast weiß Gott früh genug gemacht! – Stolz bin ich auf dich – Schwiegerenkel.«

»Ich dank' Euch, Meister. – Lieber, lieber Großvater!«

»Schon recht. Wo soll's stehen, das Ührlein?«

»In Eulenried. Der Mutter schenk' ich's zu Weihnachten.«

»Weihnachten!« Ganz nachdenklich wurde der Meister, und eine Wolke ging über das offene Gesicht. »Ich werd' recht einsam sein am Heiligabend, aber ich kann nicht fort von der guten Muhm, und der närrisch Kaspar hat auch niemand auf der Welt wie mich alten Krabauter.«


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