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10.

Es war der siebzigste Geburtstag des Meisters Distelfink. Freilich sah man dem behenden Männlein nicht seine Jahre an, und immer, wenn man ihn gefragt hatte, wie alt er sei, zirpte er mit seinem jungen Stimmlein: »Der Teufel ist alt, und seine Großmutter noch viel älter.« Das ist echt thüringische Redensart, aber er setzte auch noch freundlich hinzu: »Sie wollten gewiß fragen, wie jung ich bin.« Das wollte denn der Fragende auch. Denn Meister Distelfink hatte noch nie »auf die Postille gebückt zur Seite des wärmenden Ofens« gesessen. Er lief noch bis in den November hinein in einem Pelerinchen umher, »mit Essig gefüttert«, sagten die Eisenacher. Und der Meister freute sich, wenn man ihn für einen Kurrendeknaben hielt. – Heute waren schon in aller Gottesfrühe die Stadtmusikanten dagewesen und hatten unerhört schön auf ihren Posaunen geblasen. Zuerst sein Lieblingslied: »Wie groß ist des Allmächtgen Güte.« Dann durfte das Lutherlied nicht fehlen: »Ein feste Burg ist unser Gott!« Dann unterbrach die feierliche Deputation der Handwerksmeister das Ständchen. Auch etliche Honoratioren stellten sich ein, um dem hochgeschätzten Mitbürger Distelfink ihre Freude und Verehrung zu bringen. Das Stadtoberhaupt sprach gute Worte, der Postdirektor folgte, und der Stadtarzt sprach seine uneigennützige Freude aus, daß man an Meister Distelfink auch rein gar nichts verdienen könne und wünschte weiter Frische, Gesundheit und Wohlergehen. Jeder nahm Platz im großen Grasgarten unter früchtereichen Bäumen und trank den Frühschoppen aus hohen, alten künstlerischen Gläsern, von denen jedes eine andere Farbe hatte, in der sich die Sommersonne spiegelte. Base Konkordia reichte mit zwei raschen Dirnen aus der Nachbarschaft belegte Schnitten mit der berühmten Hausmacherleberwurst, Späterkommende behaupteten lachend, man röche den Majoran schon auf der Straße. Hinterher kam etwas »Schnackerdatsches«, denn Meister Distelfink war ja ein fröhliches Gemüt, und außerdem hielt der »Dirichente« auf Tradition. »Das ganze ›Läben‹ ist ernst«, sagte der Musikus, »aber heiter ist die ›Gunst‹, und jedes ernste ›Läben‹ sollte heiter schließen.« Base Konkordia aber fand es nicht schicklich zu blasen: »Wenn der Pudel in der Wut sich'n Been rausreißt«, sondern setzte sich nach dem Abgesang an das Spinett und sang mit bewegter Stimme: »An der Saale hellem Strande stehen Burgen stolz und kühn«, und Illo mit dem schönen Tenor, und Kaspar Gärisch mit dem tiefen Baß fielen sangesfreudig ein.

Meister Distelfink aber ging still auf den Söller, um einen Augenblick mit seinem Herrgott allein zu sein. – Ihm folgten später die anderen zum einladend gedeckten und geschmückten Kaffeetisch auf den Altan. Nun läuteten die Glocken den Sonntag ein. –

»Man möchte dichten«, sagte Illo versonnen. Einen weiten Rundblick hatten sie auf den Wald und die Wiesen und die Häuser mit den roten Ziegeldächern.

»Ja, das tu du man«, meinte Kaspar Gärisch. »Der Doktor Martin Luther hat auch an so'n ähnlichen Sommersonntag gedichtet und hat gesagt: ›Die Thüringer Dörfer liegen da, wie Spinat und Eier.‹«

»Das ist nahrhafte Dichtung«, meinte der Meister geruhig, »aber ich bin doch froh, daß wir nebenbei seine Lieder haben, gelle?«

Die Base schenkte wieder ein, und die mannigfachen duftenden Apfel-, Mohn-, Speck- und Käsekuchen wurden schier noch heiß gegessen. Bäcker Sagetiel hatte sie eben erst aus dem Backofen gezogen, aber sie waren doch eigenstes Produkt von Base Konkordia und schon vor Tau und Tag ins Backhaus geschickt.

»Man könnte dichten«, sagte Kaspar, mit vollen Backen kauend, aber auf dieses Plagiat bekam er keine Antwort. Wenn er verlegen war, wie eben jetzt, dann redete Kaspar gern dummes Zeug. »Es ist alles da, was ein Geburtstag haben muß«, meinte er bedächtig. »Aber das muß'ch sagen, Zwibbelkuchen fehlt. Is vielleicht ganz gut, denn wenn man beispielsweise kissen mißte, – dann riecht's.«

»Kaspar, sieh zu deinen Worten! Mein Geburtstag darf dir nicht zu Kopf steigen. Und du weißt, meine Enkelin kommt nun bald wieder, und dann darf kein ungeschaffenes Wort fallen. Kenne dich auch gar nicht so Kaspar, – bist sonst immer der Anständigst gewesen.«

»Freilich, freilich, Meister!« beeilte sich Kaspar mit hochrotem Kopf zu versichern. »Aber so im Frihling und erschten Sommer, da entgleise ich leicht ä linschen.«

»So was hör ich nicht gern, Kaspar. Du weißt, ich bin 'n alter Marine, kennst ja meinen Spruch: ›Rein Schiff, klar Kimming!‹«

»Weiß ich, weiß ich, Meister, das braucht mir nicht eingeremst zu werden. Aber kommt das Fräulein Angela wirklich bald wieder???«

Jäh sprang der Meister auf. »Es ist schon da! Es ist schon da!« jubelte er, und die Tränen rieselten über seine gefurchten Wangen. Er horchte gespannt nach draußen, nachdem er die Tür aufgestoßen hatte.

»Kuckuck! Kuckuck«, rief drunten der Vogel aus der alten Uhr. Illo faßte des erregten Meisters Hand; fest, ganz fest, auch den Arm, und hielt ihn zurück.

»Oh, wie leid tut es mir, Sie so zu enttäuschen!« rief er fast demütig bittend. Ich wollte den Meister nach der Kaffeestunde zur alten Uhr führen. Meister, – ich habe, sie ist –«

Kaspar stand nun auch neben ihnen. Immer noch lauschte der Meister – – obwohl die Uhr längst verhallte. Dann richteten sich seine Augen verständnislos auf die beiden. Warum wollten sie ihn hindern, seine schmerzlich entbehrte Enkelin zu begrüßen?

»Meister Distelfink«, sagte Kaspar feierlich, »das Englein ist nicht in der Uhr, – aber die Uhr ist das Lehrlingsstück des dasigen ehrenwerten Illo Eulenried, der sich aus dem unbewußten Zustand einer juristischen Null, einem sogenannten eventuellen Dolus zu einem bewußten, gesunden Uhrmacherlehrling herauf entwickelt hat. Daß er meine Anleitung verschmähte, – Meister – der Illo hat dies schwierige Stück allein, allein fertig gebracht. – Also ich verzeihe ihm ... Illo, du stehst in höchster Achtung.«

»Ich verstehe kein Wort!« rief der Meister und hielt sich eine Weile beide Ohren zu. Dann lauschte er wieder nach draußen. Es regte sich nichts. Base Konkordia war in der Küche, briet und kochte lauter gute Sachen für den Abend.

»Kaspar, du kannst den ruhigsten Menschen verrückt machen mit deinem ›Gär‹. Trägst wahrlich deinen Namen ›Gärisch‹ mit Recht. Immer wenn du von Weimar kommst, bist du so geschwollen.«

» Klassisch, will der Meister sagen.«

Die richtige Feststellung mußte vertagt werden, denn die Base rief zu Tisch. Einen ganzen Mohnkuchen hatte sie schon vom großen Backblech zerteilt und in einer Riesenschüssel auf die Tafel gestellt. Das sollte der Nachtisch werden.

»Aber vorher gibt es doch hoffentlich Schweinsrippchen und rohe Klöße?« fragte der Meister und rieb sich die Hände.

»Hattest du etwa Rindsbraten mit selbstgemachten Nudeln zum siebzigsten Geburtstag erwartet?« fragte die Base spitz.

»Nein, nein«, rief der Meister. »An solchen Frevel denk ich nicht. Ich will keinen Weltuntergang.«

Es erschien alles planmäßig. Der riesige Rippenbraten und die hochgetürmte Kloßschüssel.

»Merkst du, Lehrling, in welch gediegenes Haus wir gekommen sind?« raunte Kaspar Gärisch. »Die Base sitzt auf der Tradition wie auf einem Thron. Vierundzwanzig Klöße und fünf Pfund Schweinsrippen für fünf Personen; das nenne ich praktisches Christentum.«

Illo winkte ihm Schweigen zu, denn der Meister hatte sich erhoben und sprach das Tischgebet. Danach aber widmete sich jeder den dargebotenen Gaben, wobei Kaspar sich mit wahrer Andacht dem praktischen Christentum hingab. Es war erstaunlich, wie der Reichtum verschwand. Und als der letzte Kloß vertilgt war, weil ja der Aufwaschfrau auch ihre vier Stück in die Küche gebracht wurden, nahm Kaspar Gärisch den Mohnkuchen in Angriff.

»Ist noch einer da?« fragte er bescheiden die Base, und als sie beruhigend nickte, nahm er Bullrichsalz. Das trug er immer bei sich. –

Danach rauchten alle gemeinsam ein Pfeifchen mit Varinasmischung, der kleine Meister aus einer langen Pfeife mit schöner Troddel und einem handgemalten Kopf, der das Uhrmacherzeichen trug. Geselle und Lehrling durften sich die »Kurze« anstecken, so war es Sitte bei Distelfinks.

»Nur bei einer Pfeife«, so meinte der Meister, »könne ein wahrhaft tiefgründiges Gespräch zustande kommen.« Sie saßen nun alle auf dem Altan in der warmen Abendluft, und schon traten ein paar flimmernde Sterne über den Zinnen der Wartburg hervor.

»Sag, Illo«, begann der Meister bedächtig. »Ich kann noch immer nicht über dein Lehrlingsstück hinwegkommen. Wie, wo und wann hast du es fertig gebracht? Neben der Arbeit, die ich dir gab? Ist das der Grund von deinem schlechten Aussehen, daß du etwa die Nacht zur Hilfe nahmst? Und trieb dich das Gelüst, mein Englein als Kuckuck auszuschalten, zu der knifflichen, anstrengenden Sache? Oder bist du tatsächlich ein Leib- und Seeluhrmacher, wie ich das nenne?«

»Es wird wohl das letzte sein, Meister, – ich kam halt nicht davon ab. Und ich hab an den Meister und seine Freude gedacht, nicht an Fräulein Angela und ihren Zorn.«

»Du bist grundbrav, Lehrling. Aber wenn's das wüste Englein erfährt, – leicht kannst die zweite ›Horbel‹ besehen.«

»Die besehe ich niemals«, sagte Illo ernst. »Dazu ist Ihre Enkelin zu feinfühlig, sie müßt sich zum zweitenmal schämen, denn sie weiß ja, daß ich nicht wiederschlagen darf.«

»Da hast mir eine Lehr gegeben, Illo. Jawohl, wie könnt ein gebildeter Mann eine Frau schlagen! Doch solls wohl auch solche Ehen geben.«

»Du lieber Gott«, mischte sich Kaspar ein, »Feinfühlig!!! – wie der Lehrling Worte zu finden weiß! Ich bin nicht mehr ›feinfühlig‹. Ich habe eheliche Prügel genug un' satt gekriegt. Vater und Mutter schlugen mich umschichtig. Im übrigen sagt ein großer Mann: ›Wenn ein Weib nicht zu Gott will, muß sie zu ihm hin geschlagen werden.‹«

»Hör auf mit deinem großen Mann und seiner kleinen Gesinnung.« Der Meister paffte gewaltig. »Kaspar Gärisch, ich sage dir, – soviel Räder du in deinem Kopf hast, und alleweil heimlich sortierst, – meinst, ich wüßt das nicht? – soviel Schnozeln herbergst du gleichfalls. Halt doch um Gotteswillen das Maul zu, wenn so was raus will.«

»Dann so platz ich, Meister. Und wer bringt dann die Bescherung weg??«

»So gib's meinswegen von dich, ›Mattheschen‹, wie wir alten Thüringer sagen. Sixt, Kaspar, ich würd' dich gar nicht berufen, weil du so'n ganzer Meister in deinem Fach bist. – Ein Berufener, wie der Illo, aber natürlich noch weit erfahrener. Eins aber kann dich verpfuschen und zu Falle bringen, deine lose Gosche –«

»Ich falle nicht, Meister. Dieses Handwerk ist ja nur Zwischenstation. Und sollte ich am Boden liegen – Kalliope und Polyhymnia heben mich auf.«

»Kaspar, komm zu dir!«, rief Illo und schenkte ihm ein Glas Wasser ein.

Der Meister sprang auf: »Sollst dich was schämen, Kaspar. Ein preisgekrönter Uhrmachergeselle, weit und breit bekannt, berühmt, und nennt sein heiliges Handwerk Zwischenstation ... Bleib bei deinem Leisten, Schuster, und du bei deinen Rädern!«

Da erhob sich auch Kaspar: »Meister, Meister, sehen Sie zu Ihren Worten. Der mit Recht so verstorbene Bürgermeister jener Stadt, die meine Mutter gebar, hat mir geweissagt: ›Kaspar, du bist zu etwas Höherem geboren.‹«

»So sorge, daß du nicht an den Galgen kommst!« Also Base Konkordia. – Und dieses Wort scheuchte den Gesellen hinaus. Er fühlte sich unverstanden.

Illo war zu seiner Erbuhr gegangen. Dem Meister schmeckte die Pfeife nicht mehr. Er stellte sie fort und schritt zu seinem Kuckuck. Er hob die Uhr, das schönste Stück seines Urväterhausrates, von dem gewichtigen Nagel. Illo hatte sie fürsorglich niedriggehängt und auch noch die kleine Leiter daneben stehenlassen, damit der Meister immer zu dem Kleinod gelangen konnte. Der hatte noch nie einem Menschen so tief ins Herz geschaut wie dieser Uhr. Nur das »Englein« ließ sich mit ihr vergleichen. Und hatte doch bei beiden nicht die rechten Fehler entdecken können. Nun aber war ihm durch den genialen feinen Jungen ganz unerwartet ein Helfer entstanden. Der brachte ihm als Lernender noch das Wertstück in Ordnung. Und das rührende Enkelkind hatte ihm den Kuckuck durch ihre liebevolle Täuschung noch nähergebracht. Ach diese liebe, närrische Jugend, die ihn, den alten Meister, umgab. Er trug die Uhr, nachdem er die Gewichte abgelöst, vorsichtig zum Tisch. Dann setzte er sich. »Mußt mir helfen, Kaspar«, rief er leise hinter sich, denn er hatte wohl gemerkt, daß dieser am Uhrenschrank stand. Der barg die uralten Taschenuhren, die Sonnenuhr mit Kanonenschlag, die Stöcke mit den winzigen Ührchen im Knopf, vor allen Dingen die feinen goldenen, schmalen Repetieruhren. Ganz zu schweigen von den Bronzeuhren, deren kostbarstes Stück im Deutschen Reich ihm der junge Eulenried gebracht hatte, – das Meisterstück des Großvaters Distelfink. – Kaspar stand längst neben dem Meister, aber seine Augen hafteten immer noch auf dem Glasschrank, in dem er die Nürnberger Eier sah, von Peter Henlein, der sie im sechzehnten Jahrhundert werkte. Die wurden an einer Halskette getragen. Auch die Sonnenuhr, die man in die Tasche stecken konnte ...

»Was sinnierst, Kaspar? Hast es oft genug studieren können und hast es nicht getan. Hat mich gewundert. Der Illo war am ersten Tag drüber her.«

»Weiß schon. Der Illo, Meister, das ist ein Besonderer. Bin nicht neidig. Auf Besonderes darf man niemalen neidig sein. Kehr die Hand um, ist er auch dem Meister über. Der hat's mit dem Grips alles weg. Mit dem ›Kapito‹, was wir uns mit dem Gegenpol der Vernunft abgesessen haben. Meister Distelfink, da beißt die Maus keinen Faden ab.«

»Kaspar, es ist viel Wahrheit in deinen Gedanken, aber vor deinen Worten kann einem angst und bange werden.«

»Das ist nur die dichterische Begabung. Die schreckt alle Laien zurück. Meister, dieses Jungvieh hat gearbeitet wie ein ausgewachsener Ochse, – wenn ich mich dieser Blumensprache bedienen darf. Tag und Nacht ist er zu Gange gewesen. Einmal bin ich Glocken zwei Uhr nachts der Fräulein Base über die Kaffeebüchse gegangen und habe Illo 'n einen zur Stärkung gekocht, der sich gewaschen hatte. Das bestätigte der Lehrling auch, indem er sagte, der sogenannte Kaffee sei zu schlecht, um ihn einer alten Kuh nachzugießen. Meister, solch einem Genius muß man alles verzeihen. Und jetzt will ich leise sprechen, denn ich sehe, der Meister hat die Uhr auseinandergenommen.«

»Möchtest du nicht lieber ganz hinausgehen?« zirpte des Meisters feines Stimmlein.

»Nicht, ehe ich die Intelligenzen erklärt habe, mit denen dieser Grünling geschuftet hat. Meister, Meister, man gerät außer sich.«

Kaspar holte aus seiner Westentasche ein winziges Instrument und tippte auf die verschiedensten Werkzeuge. »Schauens hierher und daher! Merkens was? – Ja jetzt. – Freilich, – jetzt kanns auch ein Dummer – – –«

Distelfink zuckte zusammen, aber er rührte sich nicht. Er war überwältigt. Kaspar sprach jedoch fort: »So oft wie diese Uhr auseinandergenommen und wieder ›repariert‹ worden ist, ohne daß sie ging, – das läßt sich nicht schildern. – Ich bin auch mal nachts drüber gewesen, ohne Erfolg. Und der Meister auch desgleichen, – ich hab ihn ja belauscht, und das ist noch meine reinste Freude ...«

»Scher dich zum – Hörselberg, Kaspar – – ich will dich los sein. In einer halben Stunde bringst mir den Eulenried.«

Der Meister saß und sann. Er prüfte die Arbeit genau. Ihm entging nichts, und was er sah, war gut. –

Nach einer halben Stunde erschien Illo. Er sah mit leicht erblaßtem Gesicht auf das Werk, das vor seinen Augen in einzelnen Teilen lag.

»Du wirst es wieder zusammensetzen, Illo, – denn du sollst das versehrte Werk selbst neu geschaffen haben, und es wird dich üben. Die Kundenarbeit übernehmen ich und der Kaspar. Aber wie du diese letzten Fehler fandest, – schau her, diese letzten zwei, – das mußt du mir sagen, hörst?«

»Und wenn ich's nicht sage?« getraute sich Illo fast schelmisch zu fragen. – »Nichts für ungut, Meister Distelfink, diese zwei letzten Fehler sollen mir zu meinem Meisterstück verhelfen. Ich will sie in das Geheimnis meiner bronzenen Erbuhr hineinnehmen.«

»Komm her, Illo, – will dir was ins Ohr sagen. Und dann tu, was ich dir sagte. Wir wollen fröhlich sein. Ich komme bald nach.«

Mit frohen Augen ging Illo hinaus und stieg in den Keller.

»Was tust, Illo?« fragte Kaspar an der Treppe.

»Mäuse fangen.«

Zwei brachte er mit. Eine gute Rheinweinflasche und eine Aßmannshäuser. Die stellte er beide kalt. Dann rief er die Base Konkordia und den Kaspar, sagte auch der braven Abwaschfrau Bescheid, die beide Hände zur Abwehr hob, aber doch zugleich nickte.

Der Meister blieb lange aus.

Illo mußte ihn suchen.

Immer noch saß Meister Distelfink über die Uhr geneigt, die er fest umklammert hielt. Als die Tür knarrte, hob er erschrocken den Kopf. Aber Illo zog sich still zurück, denn er sah, daß der alte Meister geweint hatte.

Es war schon sehr spät, als man den frohen Tag beendete. Kaspar Gärisch hatte beim Aßmannshäuser noch eine Rede geschwungen, die wirklich Hand und Fuß hatte und dem Meister nicht ein einziges Mal Gelegenheit bot, ihm »die Gosche« zu verbieten. Er stieß seinen Lehrling an.

»Bist so still, Illo. Freut dich dein Leben nicht?«

Mit versonnenen Augen sah Illo auf. Aber dann waren alle Lichter in seinem Gesicht angesteckt. »Meister! Ich glaub, ich bin wieder einem Fehler auf der Spur. Herrgott, wie bin ich glücklich!« Er war wie trunken, aber sein Glas mit dem roten Schaumwein stand noch unberührt.

»Lehrling Illo, – ich versteh dich! Echt bist du. Echt! Ich habe Freude an dir.« Meister Distelfink hob sein Glas und trank es dem Lehrling zu.

Kaspar, der längst ausgetrunken hatte, nahm Illos Glas und trank es leer. Illo merkte es gar nicht.

»Darf ich diese Nacht aufbleiben, Meister? Ich möchte mehr finden, möchte arbeiten!«

»Das muß ich dir verbieten, Lehrling. Du siehst jetzt schon durchsichtig aus. Sei vernünftig, gelle? Und hast in deinem Sinnieren gar nicht die Rede gehört vom Kaspar?«

»Hat er geredet?« fragte Illo erschrocken.

Kaspar betrachtete sein leeres Glas. – »Illo, ich verzeihe dir! Ich habe sie halten können, meine Rede. Das genügt. Ob einer zuhört, darauf kommt's nicht an. Ich bin glücklich wie du.

»Gute Nacht!« sagte die Base Konkordia.

Aber in diesem Augenblick hub die Kuckucksuhr an zu schlagen. Zehnmal rief der Vogel, und dann fiel irgendein großer Gegenstand polternd zur Erde.

»Was ist das für ein Unfug?« tönte eine helle Mädchenstimme.

»Die Angela!« rief die Base schreckensbleich.

»Das Englein!« jauchzte der Meister.

»Jesus, Maria und Josef«, sagte Kaspar Gärisch, obwohl er streng lutherisch war.

Illo allein war ganz still. Er sah nur das lichte Bild, das da im Türrahmen stand mit den blitzenden Augen und dem flimmernden Blondhaar.

»Was ist mit der Kuckucksuhr? Warum hängt sie so niedrig? Warum schlägt sie?«

»Richtige Kuckucksuhren müssen schlagen und rufen«, sagte Kaspar mit großer Ruhe.

» Dösbartel!« ward ihm heftig zur Antwort.

In diesem Augenblick starb seine große Liebe.

Angela trat ungeduldig von einem Fuß auf den andern. »Großvater, – so hör doch!«

»Erst sagt man ›Guten Abend‹, wenn man nach Monaten heimkehrt in ein ehrsames Handwerkshaus. Und warum so spät? Hast alle gute Sitte draußen gelassen?«

»Der Schmied von Ruhla hat mich mitgenommen«, stammelte das Mädchen, »die gute Gelegenheit wollt ich nicht verpassen. – Den Großvater läßt er grüßen.«

»So so, – der Schmied von Ruhla. Der Gruß will mir passen. ›Landgraf werde hart!‹ hat mal sein Ahn jemand ins Ohr gehämmert, der allzu gutmütig war. – Also jetzt sagst schön ›guten Abend‹ und machst einen Knix.« Das Mädchen rührte sich nicht. Schneeweiß war sein Gesicht. – »Die Uhr ist wieder heil und gesund. Der Lehrling Illo Eulenried wollte eine Schuld abtragen und hat dabei sein Lehrlingsstück gemacht. Das schon einem Gesellen gut anstünde.«

»Sieht ihm ähnlich, – dem – dem –. Mir zum Schur hat er's getan. Damit ich nicht mehr rufen könnt' ...«

And Englein warf sich an den Hals des Großvaters und weinte bitterlich. Er tröstete ungeschickt an ihr herum. Da lief sie hinaus.

»Meister, ich bitte Sie um meine Entlassung. In dies schöne alte Haus soll durch mich kein Unfrieden kommen.«

»Als ob der nicht schon lang bei mir wohnte. Ist halt ein wüst Englein, hab dir's gleich gesagt. Und kreuzbrav dazu. Will's gar nicht anders haben. Bringt Kurzweil. – Und du, Illo, sollst dich was schämen. Bist aus ritterlichem Geschlecht und willst einem ehrlichen Handwerksmeister zeigen, wie man fahnenflüchtig wird?? He? Willst wieder auf die Walze? Ich sag dir: Wo viel Freiheit ist, ist viel Schatten. Sonne bringt nur die Pflicht. Hast verstanden?«

»Ja, Meister!« – Illo straffte sich. Dann ging auch er aus dem Zimmer, und man hörte ihn die Treppe hinaufsteigen in seine Kammer. –

Meister Distelfink nahm am andern Morgen sein Enkelkind bei der Hand und machte einen Rundgang mit ihm durch sein schönes, stilles Haus, das einmal diesem Kinde gehören sollte. Und die Ruhe der Räume und des schönen Gartens legte sich wohltuend auf sein altes Herz.

»Das ist deine Heimat, Englein«, sagte er feierlich. Darin haben lauter stille, ehrsame Frawen geschaltet, und ich sinniere, wie es kommt, daß in dir der helle Unfried steckt. Es ist große Schuld von mir, daß ich dir keinen Zügel angelegt habe. Du wirst von jetzt ab denen nacheifern, die vor dir hier waren, hörst? Und ich werd besser aufpassen. Auch wirst den Kaspar Gärisch um Verzeihung bitten, darauf besteh ich.«

»Ist nicht nötig«, sagte der Geselle, von dem man schon gewohnt war, daß er irgendwie als deus ex machina erschien, wo man ihn nicht vermutete. – »Ich muß mich selbst entschuldigen, daß ich schon lange hinter dem Meister herging. Dem Fräulein wollt ich sagen, daß es ganz recht gehabt hat. Ich bin ein Dösbartel. Jawohl! denn ich hab' sie lieb gehabt, die Fräulein Angela. Und nun kann sie abseits gehen, denn ich hab' noch eine sehr wichtige Frage an den Meister zu richten.«

Angela war schon entflohen.

Der Meister seufzte tief und hörbar. »Was hast, Geselle Kaspar?«

»Der Meister sprach gestern von ›ritterlichem Geschlecht ‹ und meinte unsern Lehrling. Wie ist das zu verstehen? Ich hab die ganze Nacht schwer geträumt, als hätt' ich eine Rüstung an und das Visier wär' geschlossen.«

»Kaspar, Kaspar! Wenn es nur auch am Tage so wäre!« stöhnte Meister Distelfink. »Will dir aber verraten, was ich gemeint hab, gibst ja doch sonst keine Ruh. Unser schlichter Lehrling Illo ist der jüngste Freiherr von Eulenried aus Ilmenbach. War Referendarius und hat umgesattelt. Bist nun zufrieden?«

Kaspar Gärisch ließ sich in Gegenwart des Meisters auf einen Stuhl fallen, und Distelfink setzte sich auch rasch, um seinen Gesellen nicht zu sehr entgleist zu wissen.

»Großer Gott! Ob mir's nicht immer so vorgekommen ist? Ich bin blamiert. Meister, ich dachte bei Ihnen in Frieden zu sterben, aber ich muß mich wo anders niederlassen.«

»Leg dich ins Bett. Vorher einen Kübel eiskaltes Wasser über den Schädel, nachher bist wieder wohlauf.«

Aber Kaspar schlich vor dieser Radikalkur zum Lehrling. Diesmal fiel er nicht zur Tür hinein, er klopfte.

»Herein!« rief eine ärgerliche Stimme. Denn Illo war mitten in seiner schönen Arbeit. Er glaubte auch, daß es ein dummer Scherz sei, denn beim Lehrling klopfte man nicht an.

»Ich wollte mich gehorsamst beim Herrn Freiherrn melden.«

Illo fuhr herum. – »Sind Sie verrückt?«

»Ich war es, Herr Freiherr. Aber jetzt habe ich mich zurückgefunden. Seit man zu mir Dösbartel sagte.«

»Ja, das war häßlich. So häßlich, wie dies Mädchen schön ist.«

»Ich danke Ihnen, Herr Freiherr. Es tut wohl.«

Illo legte erst alle Schrauben und Schräubchen, Stifte, Räder beiseite, bis die Samtplatte recht wie ein Schmuckkästchen aussah. Dann sprang er auf und holte für Kaspar einen Stuhl, auf den er noch ein Kissen legte, von Tante Hermine eigenhändig für Illo gestickt und mit Daunen gestopft.

»So! Darauf setzen Sie sich, Geselle. ›Sitzt du gut, so sitze feste, alter Sitz, das ist der Beste.‹ Aber sagen Sie nicht ›Herr Freiherr‹. Woher wissen Sie überhaupt irgend etwas?«

»Dem Meister fuhr es heraus, und ich bohrte nach.«

»Ihre Ausdrucksweise kann einen Hund jammern, Kaspar. Ich bin derselbe, der ich gestern war.«

»Allerdings. Aber für mich nicht. Da sind Sie in was neingetreten, in den Hochadel. Sind hochgeboren.«

»Ja, auf einer Burg. Auf dem Eulenried hoch droben bei Ilmenbach.«

»Also wahr, wahr!« Kaspar sprang auf. Er schien aus den Fugen zu sein. Das Kissen fiel zu Erde. Er hob es auf, pustete es sorgfältig ab und setzte sich wieder drauf. »Sie stammen von jener hehren Burg, unter deren Fenstern meine Mutter geboren wurde und mich selbst gebar?«

»Sie lieber närrischer Geselle! Mit allem Respekt natürlich! Und nun nennen Sie mich wieder ›Du‹, wie es die Zunft erheischt. Und Sie sind mein unmittelbarer Vorgesetzter, Geselle Gärisch. Das ist ja gerade das Herrliche, daß ich hier nichts bin als ein Mensch unter Menschen.«

»Jawohl! Und ich werde nie wieder Dämlack sagen, oder ›du Neugebornes!‹, wenn du unwissend bist, wie ein junger Hund.«

»Und ich werde nie wieder fragen, wann Sie die letzten Backzähne gespuckt haben.«

»Sprechen wir nicht davon. Damals wußten wir nicht, wen wir vor uns hatten.«


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