Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

4.

Während der Schlenkrige den kurzen Weg in der Gasse und dann über den Marktplatz bedächtig und keineswegs eilig schritt, öffneten sich viele Fensterlein und Türen an den kleinen Häusern Alt-Eisenachs.

»Grüß Gott, Kaspar! Na? Alleweil wieder da? Dein tausendstes Glück! Meine Uhr steht. Ganz plötzlich. Von heiler Haut!«

»Gibt's nich. Wirst sie fallen gelassen haben, du dummes Luder. Grüß Gott!«

»Herjeh, der Kaspar ist wieder im Land! Bist wohl nur bis zum Kreuzweg gekommen, he? Grüß Gott!«

»Du kannst mir mal schreiben, aber frankiert!« rief Kaspar zurück. Sie lachten alle, und man sah, die Freude war groß über die rasche Rückkehr des unersetzlichen Faktotums von Meister Distelfink. –

Der Kaspar hätte wohl längst sein Meisterstück machen können, aber er behauptete, seine eigentliche Berufung liefe auf den »Dichter« hinaus.

»Grüß Gott, Kaspar! Komm bald 'nüber, meine Uhren stehen alle.«

»So biet ihnen einen Stuhl an! Grüß Gott.«

Man nahm diesem Gesellen nichts übel, es war eitel Freude in Eisenach eingezogen mit diesem Till Eulenspiegel, dessen Kunst von allen hochgeachtet war. – Unter lauter »Grüß Gottes« betrat Kaspar die Schankstube der »Goldenen Henne«. Auch hier rief von der Teke her der würdige Wirt: »Grüß Gott! Jessas, der Kaspar. Nur herein! Wenn du nicht da bist, steht die Zeit still.« –

»Dann mußt du ins Bett gehen, Wirt. Da braucht man keine Zeit. Nun frag ich: Ist ein gewisser Eulenried bei dir abgestiegen? Besagter ist ein unsicherer Kantoniste, – hat sich den Namen eines feudalen Schlosses beigelegt und walzt also mit falschem Paß.«

Das war Kaspars Dichtkunst.

»Härr du meines Läbens!« rief erschrocken der Wirt. »Der feine Hund liegt oben auf dem Kanapee und glubscht vor sich hin. Der hat wohl eins mit dem Topflappen abgekriegt?!«

»Ich mach 'nauf!« Kaspar erstieg polternd die Treppe. Er klopfte auch nicht an, – bei einem entlaufenen Lehrling hatte man so etwas nicht nötig. Und so fiel er, wie er immer tat, »mit der Tür ins Haus«. Er setzte sich gleich zu Illo auf das Kanapee. Dieser fuhr in die Höhe.

»Bist erschrocken, Ausreißer? Mach uns keine Sperenzien. Gib das Geklaute flugs raus, dann komm mit zu Meister Diestelfink. Ob er dir verzeiht, weiß ich nicht.«

»Ihnen wird wohl auch mal wieder wohler?« fragte Illo ganz gelassen. Was wollen Sie eigentlich von mir?«

»Wäre es dir lieber, der Schandarm stünde vor dir, he?« fragte Kaspar. »Was ich will? Dich selbst und das gestohlene Gut. Höherer Auftrag.«

»Sie haben wohl lange keine Backzähne gespuckt?« Illo machte die Bewegung des Boxens.

Aber in Kaspar Gärisch war auf einmal eine Freude aufgestiegen.

»Hör auf mit deinen Schmeicheleien«, meinte er ruhig. »Ich merk's schon, wir werden Freunde.«

Kaspar liebte alle schönen Menschen, wohl weil er selbst so häßlich war. Da saß nun vor ihm ein Muster von Schönheit, rassig und vornehm. Und so ein ausgesuchtes Exemplar nannte ihn, den Kaspar, »Sie«. Ehrte ihn also, während alle anderen gewöhnlichen, häßlichen Menschen ihn duzten, trotzdem er doch seine vierzig Jahre auf dem Buckel hatte, es also mit der »Gescheitheit« aufnehmen konnte.

»Komm her, Illo, ich meine es gut mit dir. Ich hoffe, daß du wirklich Illo heißest, wenn auch der Name Eulenried strafbar ist. Straucheln kann jeder Mensch, er darf nur nicht fallen. Und wenn du alles rausgibst, wird der Meister Erbarmen haben. Ich selbst trag dir nichts nach.«

So schwafelte und orakelte Kaspar Gärisch, und Illo wunderte sich über nichts mehr. Der heutige Tag hatte ihm zuviel Wunderliches gebracht. Er folgte dem »närrischen Zwickel« ganz gehorsam, und die Freude wuchs übermächtig in ihm, daß er dem Meister, der Base und dem Englein wieder unter die Augen treten durfte. Der Wirt verwunderte sich baß, daß Illo überhaupt seine schmale Rechnung beglich und so herrenmäßig fein für die gute Aufnahme dankte.

Herr Balian verstieg sich sogar zu einigen Bücklingen, über die er sich nachher selbst ärgerte. Aber an den falschen Paß glaubte er doch nicht. Der war wohl eine »Dichtung« des Kaspar Gärisch. –

Meister Distelfink stand mit der Aufwaschfrau vor der Tür, und beide winkten mit farbigen Taschentüchern. Der Meister mit einem hochroten, in welchem sämtliche Personen des Fürstenhauses eingewirkt waren. Das Winken galt aber nicht dem Kaspar und dem Illo, sondern man winkte einer hübschen Kalesche nach, die von zwei schönen Pferden gezogen wurde. Aus dem Wagen winkten auch zwei Tücher und vier Augen, sie verschwanden aber schon um die Ecke, als die Haustür hinter den drei Männern zufiel. Kaspar begab sich gleich in seine Kammer, nachdem er Illo ins Ohr geraunt hatte: »Sollt es dennoch zum Abführen kommen, – nicht sträuben, – Widerstand gegen die Staatsgewalt.«

Bald darauf saß Illo vor seinem Meister, der ihm die Beichte abhörte. – Als Illo zu Ende war, hatte der Beichtvater völlig die Sprache verloren. Er lief aufgeregt im Stübchen auf und ab und fuchtelte mit den Armen und Händen, daß es aussah, als flöge eine große, graue Motte durch den Raum. Illo folgte ihr mit den Augen hin und her, und er fand durchaus keine Komik bei seiner Feststellung, sondern sein junges Herz schlug recht bang und laut. Er meinte, der Meister müsse es hören, und jedenfalls spürte dieser die Not seines Lehrlings, den er bei sich »seinen Spezi« genannt hatte. Lieb hatte er ihn gewonnen, den schönen Jungen – auf den ersten Blick. Es ging ihm wie der Base. Nun lag es an ihm, wenn alles wieder ins Geleise kommen sollte. Innerlich schalt er den Jungen – Baron hin, Baron her – einen verfl ... »Quatschiendolmes« und seine Enkelin eine »dämliche Daute«, – aber dann legte die Motte die Flügel zusammen und blieb dicht vor dem Jungbursch – liegen. Denn Meister Distelfink warf sich in einen sehr kleinen, sehr tiefen Sessel, und Illo stand hoch und stramm aufgerichtet vor ihm.

»Den Lehrlingsspruch hat sie dir natürlich nicht beigebracht«, sagte der Meister plötzlich ganz zahm.

Illo wurde so rot, wie er eben noch blaß gewesen war.

»Nein, das hat sie nicht getan. Sie war ja wild und zornig. Aber wenn Sie mir wirklich verzeihen, Meister, dann kann es ja nachgeholt werden. Oder der Meister ist so gut und schreibt mir den Spruch auf, – ich lern' ihn in wenig Stunden.«

Die Motte hub wieder an zu fliegen.

»Sag mal, Illo, warum bist du so frech und hast es nicht nötig?«

Und als sie wieder bei dem Sünder angekommen war, versuchte sie ihn an seinem mittelsten Westenknopf zu schütteln. Weiter reichte sie nicht, aber der Knopf riß ab, und Illo hatte sich nicht von der Stelle gerührt. – Er trug auch gar keine Frechheit in sich. Er schämte sich nur gewaltig und war außer sich, daß er diesem so ganz besonderen Meister weh getan hatte.

»Ich bitte von Herzen um Verzeihung!« stieß er heraus.

Da hängte sich das Männlein an seinen Arm.

»Setz dich erst mal, Illo, – ich kann nicht so lange in die Höhe schauen, – es wird mir ganz übel. Und es schickt sich auch nicht für mich. – Also hör zu! – Du hast das rechte Wort gefunden. Denn wenn einer »von Herzen« um Verzeihung bittet, dann ist's ihm ernst, und sie muß ihm werden. Sieh, Illo, wenn jeder gestohlene Kuß streng bestraft würde, dann wär's wohl ein unholdes Leben auf der Welt.«

Nun lachte Illo ein ganz klein wenig, aber der Meister meinte doch, es sei »verständnisinnig« gewesen und drohte ihm mit dem Finger.

»Siehste, Illo, wenn du ein rechter Meister werden willst, dann mußt du erstmal dich selbst in strenge Zucht und in genauste Beobachtung nehmen, ehe du dich an eine hochwerte Uhr getraust. Es nützt nicht das Lernen allein, und wenn du Tag und Nacht studieren solltest, daß der Kopf raucht und die Schwarte knackt. Dein eigenes Werk in dir, dein Herz und dem Sinnen müssen gereinigt sein, eher geht dir auch nicht der wahre Sinn für unser schönes Handwerk auf, notabene das schönste auf der ganzen Welt. Wie überall, so ist auch hier die Liebe die ›Größeste unter ihnen‹. Lieben mußt du dein Handwerk, damit es dich zum Künstler erhebt. – Sieh, als ich dir zum ersten Male angesichts der Wartburg in die braven, guten, verteufelt spitzbübischen Augen sah, – da wußt ich sofort, daß du unserm Gewerbe wohl anstehen würdest. Das braucht nämlich Gutheit, Bravheit, Sauberkeit, Humor und Musik. Und das hast du, Illo, du Galgenstrick.«

Illo griff stürmisch nach der Hand des Meisters.

»Was kann ich tun, um Fräulein Konkordia und – auch die Angela wieder gut zu stimmen?«

»Gar nichts. Die Base kommt morgen wieder, – das Englein ...« – hier versagte die Stimme des Alten etwas – »ja, mein Englein, das soll mir zum mindesten ein Vierteljahr fort bleiben. Jawohl! Es wird mir schwer – –. Desto fleißiger wirst du sein, gelle, Illo, weil du doch so etwas verantwortlich bist, jo gelle? Verstehst mich! Das is recht. Und allewege dran denken, wenn du wirklich nun bei mir dein Studium machen willst – – allweil dran denken, daß du'n Baron bist. Jawohl. Und das Englein ein ganz schlichtes Bürgerkind, das trotzdem vor keinem noch so großen Schloß bettelnd zu stehen braucht. Denn alles an ihr ist golden – – zumal ihr reines Herz. Hörst? Das darf nicht verstört werden von einem fahrenden Gesellen, der – –«

»Der nichts ist und nichts hat, und sich noch schuftig benahm«, stieß Illo zornig heraus. »Ich weiß schon, was der Meister sagen wollte.«

»Gar nichts weißt du, Zornickel. Es schickt sich auch nicht, daß du mir in die Red' fällst, hörst? Ich wollt' sagen: ›von einem fahrenden Gesellen, der die Schönheit gepachtet hat.‹ Das tut nicht gut. Denn mein Dirnlein ist schönheitsdurstig und so arg jung, es könnt sich betrinken.«

»Das Englein? Denkt nicht dran, Meister. Der Schlag, den es mir versetzte, war ganz nüchtern.«

»Illo, ich will dir noch was sagen, weil wir so hübsch beisammenstehn – –. Weißt, warum ich dir zu dem nüchteren Schlag nicht noch einen gesalzenen gegeben hab? Weil du zutiefst in Rührung stecktest, du Dämlack, genau wie ich. Meinst, ich hätt' nich von Anfang an gewußt, daß das Englein der Kuckuck in der Uhr war? Sie ist ja ein mageres Rehkitz geworden vor lauter Aufpassen und Klettern, und hat um Mitternacht ebenso gerufen, wie des Mittags um zwölf Uhr. Aber Illo, – hättest die selige Lust gesehen in Engleins Guckäuglein und um ihr rotes Göscherl herum, daß sie ihrem alten Großvater kunnt eine Freud machen! Und daneben den unbändigen Kitzel, die oberste Behörde im Haus hinters Licht zu führen !« –

Der Alte war sehr aufgeregt und gestikulierte heftig mit seinen kleinen Armen und den seinen Händen. Er lachte übers ganze, durchfurchte Gesicht, und dabei waren ihm die Tränen locker. Und Illo dachte: Hier will ich bleiben, will studieren, daß die Schwarte wirklich knackt, will die Kuckucksuhr ganz heimlich instand setzen, und meine Erbuhr, die soll einst mein Gesellenstück werden, so wahr Gott helfe. Sein Inneres war aller guten Vorsätze voll. Helle Begeisterung für seinen neuen Beruf war in ihm, aber das Haus dünkte ihn seltsam leer ohne das wüste Englein.

Der schlenkrige Geselle besah ihn sich von allen Seiten, als sie zum gemeinsamen Essen zusammenkamen.

»Dich hat der Herrgott schmuck zusammengerichtet, Lehrling«, sagte er anerkennend. »Kannst alle Tag einen Baron abgeben. Bist aber halt keiner, sondern hast dich nach mir zu richten. Das wird dich vor Hochmut bewahren. Der Meister hat mich beauftragt, dich zur Polizeiwache zu führen. Brauchst nicht bange zu werden, ich soll dich ›legimieren‹, das heißt ›beglaubigen‹. Daß du wirklich unser Lehrling bist, Illo Eulenried heißt und von armen, aber ehrlichen Eltern stammst.«

»Das können Sie ja gar nicht, »legimieren«, Kaspar!« lachte Illo, »woher wollen Sie das wissen?«

»Musche Illo, vergiß nie, daß du in meiner Gegenwart nicht lachen darfst, – ich meine, nicht über mich. Und wie steht es mit deinem Lehrlingsspruch? He? Hast du ihn schon vorgebracht?«

»Den werden Sie mich lehren.«

»Haha!« Kaspar lachte laut, voll Hohn, seine Stimme überschlug sich kullernd. »Man möchte Döskopp zu dir sagen, wenn man nicht in stiller Nacht einen heiligen Schwur getan hätte, nicht grob zu schimpfen, sondern nur zart. Also, du neugeborener Hammel, ich soll dir den Lehrlingsspruch lernen? Bist also so grün, daß du nich mal wissen tust, daß Ihr Lecker gar keinen Spruch noch nich verdient? Daß erst der Geselle ein geborener Mann ist? O du mein Saitenspiel, ist je etwas so Verrücktes jung geworden? Dieser Eulenried, der noch nicht mal Lehrling ist, sondern eitel Kaulquappe? Der sich einen Rittersnamen beilegt und noch nicht mal zum Knappen angenommen wurde? Wenn du noch Schamgefühl hast, setze dich und hör mir zu: Also dein Vater muß einen Brief an den Meister schreiben, sotanen Inhalts, ob er wirklich dich geboren hat. Denn mit unehelichen Sachen gibt sich unsere Zunft nicht ab. Und aus diesem Brief werden wir dann ersehen, ob auch dein Vater es wagt, sich ›Eulenried‹ zu nennen. Ich hoffe es nicht, aber Gott geb's. – Und nun geh vor allen Dingen zu Gottlieb Merseburg, vorn am Tore, gleich links die rechte Tür, und kauf dir ehrliche Lehrlingskluft. Ich hoffe zwar, daß du dir die jetzige Kledasche auch ehrlich erfochten hast, wundre mir aber doch, daß es noch soviel Reiche gibt, die sowas nicht selbst auftragen. Aber dieser Plunder an dir ist hin, wenn du erst dreimal den Estrich vor dem Hause und in Küche und Halle gescheuert hast. Und das muß der Lehrling tun. Oder willst du neue Moden aufbringen, Fremdling?«

Illo stöhnte vor Entzücken, er wußte, dieser Kaspar würde sein Freund in alle Ewigkeit sein. Da er aber nicht laut lachte, sondern nur Grimassen schnitt und sich krümmte, rief ihm Kaspar herrisch zu: »Trink einen Bittern, du hast die Kollera.«

Dann ging Kaspar sofort zum Meister und erzählte wortgetreu, was er dem »Grünling« gesagt. Da Meister Distelfink aber nur auf die Stirn tippte, setzte er sich still an seinen Platz in der Werkstatt. Dort arbeitete er, ohne aufzusehen. Vergaß Essen und Trinken, erschien nicht zum Nachtbrot, präsentierte aber um 10 Uhr abends eine geheilte Uhr, deren geheimnisvolle Krankheit bis dahin niemand erkannt hatte. Freilich hatte Kaspar sie nie aus den Händen gegeben, das wäre ihm gegen »Ehr und Reputatschon« gewesen. Aber nun lag die feine, schmale, goldene Taschenuhr mitten auf dem Tisch. Ging auf die Sekunde und repetierte einen feinen Gesang, – sie, die solange siech und ohne Stimme gewesen. – Meister Distelfink war krebsrot vor Freude, wie immer, wenn seinem närrischen Gesellen etwas gelungen war. Und Kaspar aß in selbiger Nacht noch fünf rohe Kartoffelklöße mit viel »Titsche«, und alle sahen ehrerbietig zu, wie neue Kraft über ihn kam. –

Illo aber schrieb in dieser Nacht nach Ilmenbach, und der alte Briefträger Heins brachte den Brief zu gegebener Zeit auf die Burg Eulenried. Der alte Baron schloß sich mit dem Schreiben ein. Nach einer Stunde brachte er es seiner Frau, die es nach dem Lesen mit stillen, frohen Augen an »Tante Hermine« weitergab. Von dieser empfingen es Dankwart und Wildrich.

Verehrter, lieber Vater!

Aus tiefer Überzeugung teile ich Dir mit, daß ich hier am rechten Platze bin. Ich grüße die liebe Mutter vor allem mit ehrerbietigem Handkuß. Und winke Tante Hermine und den Brüdern fröhlich zu. Bitte schreibe an Meister Distelfink, daß ich Euer ehelich geborenes Kind bin. – Es ist wohl alter Zunftbrauch.

Gott befohlen!

Dein getreuer Sohn Thassilo.

Darauf erfolgte zwar keine Antwort, aber der Briefträger Heins beförderte nach wenigen Tagen ein weiteres Schriftstück aus Eisenach auf die Burg. Und dann war lange Zeit tiefes Schweigen zwischen Burg und Uhrmacherwerkstatt.

Meine teure Mutter!

Eisenach im Mai – »Im schönen Maien hab i viel noch im Sinn.«

Du siehst mit den tiefgründigen Mutteraugen, du hörst mit den aufgeschlossenen Mutterohren, denen nichts entgeht, was den fernen Jüngsten betrifft, – daß ich »singe und arbeite«. Richtig singen ist beten, gelle, Mutterle? Sitz nieder in meiner Werkstatt, – ich möchte Dir alle Uhren vorstellen mit Namen, damit Du weißt, in welch erlesener Gesellschaft ich mich befinde. Ich möchte es, aber ich muß es mir noch versagen. Es sind zuviele, und Dein Illo ist nicht Schriftsteller, sondern Uhrmacherlehrling. Das darf ich nie vergessen. Und bis ich einmal Meister bin, fließt noch viel Wasser mit der rauschenden Ilm hinunter. Wir wollen einen Pakt schließen, Mutterle. Meine Briefe an Dich gelten auch Tante Hermine, der Treuen, der ich nie vergessen werde, daß sie mir das Felleisen übergab in einer schweren Stunde ...

Und niemals werde ich aufhören, euch beiden großdenkenden Frauen zu danken. Aus meiner seelischen Hochstimmung heraus bitte ich Tante Hermine, mir meinen Koffer mit Wäsche zu schicken. Das Felleisen barg ja nur das nötigste. Und in einem soliden Handwerkerhaus wird der Mensch nach der »Wäsche« bewertet, die er mit sich führt, weniger nach den Kleidern. Weshalb ich mir schlichte Lehrlingskluft besorgt habe, aber meinen guten, schwarzen Anzug könnt Ihr mir trotzdem schicken, – man kann nicht wissen ... Ich sitze auf dem Trocknen. Denn ich mochte auf der Walze nicht »fechten«. War noch zu sehr mit Hemmungen behaftet, die wir »Standesherren« wie Krankheiten mit uns herumschleppen. Ein »Nordhäuser« wurde mir wohl öfters angeboten, auch Dietendorfer »Aromatique«, aber ich wollte, da ich nicht ausgepicht bin, nicht torkelnd nach Eisenach kommen, und so ersetzte stramme Haltung das mangelnde Mittagessen. Doch hier pflegt mich Fräulein Konkordia, welche auch sonst die verkörperte Eintracht darstellt. Von den Brüdern möcht ich auch hie und da hören, sie brauchen mir nur kurze Schlagworte zu senden, wir übten uns ja allzeit in solcher Stenographie und klaubten schnell den Kern heraus. Wann Vater mir einmal antworten wird, oder das Senfkorn, oder das Harmonium, – liegt noch im Zeitenschoße. Ich bitte auch nicht darum. Habe zu arbeiten, Mutterle, und all das, was ich heute so umständlich zu Papier bringe, ist nur Kundgebung, Umschreibung und – das Verbergen meiner tiefen Sehnsucht nach Dir, nach Tante Hermine, nach den Brüdern, nach Eulenried, – kurz Heimweh. Ich schreibe Dir dies sentimentale Zeug, weil ich weiß, daß Mütter diesen Ballast gern auf sich nehmen, ja, daß sie vom Herrgott extra dazu geschaffen sind. – Gräme Dich nun ja nicht um mich, weil ich auf dem Trocknen sitze, hörst, Mutterle? Ich habe hier nichts auszugeben, wie in der seligen Studentenzeit, da man noch Schulden obendrein hatte. Eher fürchte ich, schnöder Kapitalist zu werden, denn von morgen ab gebe ich Nachhilfestunden in Latein, Französisch und Englisch. Habe durch den Meister Distelfink eine nicht nur kinderreiche, sondern auch sonst wohlhabende Familie kennengelernt, die den Ehrgeiz hat, ihre Söhne ins Gymnasium zu schicken. Es sind drei aufgeweckte Schlingel, und pro Nase bekomme ich für die Stunde fünfundsiebzig Pfennige. Zwei Stunden wöchentlich für jeden. Macht vierundeinehalbe Mark im ganzen. Tante Hermine und Ihr könnt Euch also seidene Kleider wünschen, und den Brüdern setze ich ein Taschengeld aus. Die Stunden gebe ich am Frühabend, so »zwischen Lichten«, wie man in Ilmenbach sagt, denn tagsüber arbeite ich an einer wertvollen Kuckucksuhr, die hier sehr hoch an der Wand hing, weshalb kaum jemand an sie herankam außer einem törichten Maidli, welches aber das Weite gesucht hat. Nun sind die kleinen Blasebälge ganz verstaubt und voll Spinnweben. Liebste Mutter, das bißchen Öl ist schon lange verharzt und erschwert den Lagerzapfen der Räder den Abfluß und vermehrt die Reibung. Das wird Dir und Tante Hermine natürlich klar sein, während die Brüder mit dummen Gesichtern danebenstehen. Sie haben nicht die angeborene Intelligenz der Uhrmacher. Der Kuckuck soll schon bald wieder unter meinen Händen schreien, wenn auch das Englein fort ist und nicht mehr wüst tun kann. Und wenn erst die Räder gereinigt und richtig zwischen den Messingplattinen gelagert sind, dann werden auch die Messingräder in die Stahltriebe wieder richtig eingreifen. Und die stählerne Tonfeder wird funktionieren, und das Englein kann zurückkommen, braucht nicht mehr Kuckuck zu rufen, und die Ohrfeige werde ich großmütig vergessen. Denn in diesem allen, Du liebes Mutierte, liegt ja mein Heimweh begründet, das wird Euch inzwischen klar geworden sein.

Ich grüße Dich als Dein treuer Sohn

Illo.

Eulenried, 19. Mai.

Lieber Neffe Illo!

Deine Mutter liegt nach dem Lesen Deines Briefes noch in Betäubung. Aber ich habe mich nie mit Schwindel abgegeben und stehe aufrecht. Wir wußten beide nicht, daß das Uhrmacherhandwerk auf den Neuling gehirnstörend wirken kann, aber in Deinem Kopf scheinen alle Räder der Werkstatt ihr Unwesen zu treiben, und ich flehe Dich an, das Surren bald abzustellen. Deinem Vater sagen wir nichts von dem Brief, er würde unsern alten »Gensdarm«, der von dem neuen Landjäger verachtet wird, mit Handschellen zu Dir schicken und Dich zurücktransportieren lassen. Ich bin aber sicher, daß du noch geheilt werden kannst. Vielleicht mit einer zweiten Ohrfeige, – aber ich sehe in nichts klar. Jedenfalls halte Dich an das Englein, damit Dich der Teufel nicht übermannt.

In Trauer

Deine Tante Hermine.

Nachschrift: Ruhe Dich ein paar Tage, gib keine Nachhilfestunden, sondern Du brauchst sie selbst. Ich schicke Dir für den Ausfall zehn Mark. – Wildrich geht auch seit ein paar Tagen düsig umher. Hoffentlich nimmt er sich mit dem Gewehr in acht. Nur Dankwart ist vergnügt und fleißig, weil er sich ganz auf den Dung geworfen hat.

Die Obige.


 << zurück weiter >>