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18.

Burg Eulenried, den 15. September 19..

Mein alter Illobruder!

Der Vater hat uns verlassen. Herzschlag. Er erlag ihm in der Nacht, gleich nach deiner Abreise. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Der geschwächte Körper vertrug nicht mehr die kleinste Aufregung. Ich drücke dir still die Hand. Eins müssen wir auf Vaters »Haben« buchen: sein ritterliches Gebahren zu unserer geliebten Mutter. Sie hat ihn ja auch nie in sinnloser Trunkenheit gesehen, hat nur schmerzlich gelitten, wenn wir Jungen verprügelt und verbittert anklagend zu ihr kamen. Wie lieb hat sie uns da getröstet und immer wieder zum Respekt gegen den Vater ermahnt. Als ich sie an sein Totenbett fuhr, strich sie in ihrer lieben Art – wir kennen sie, Illo – über seine Hände und sein merkwürdig friedliches Antlitz. »Du warst immer gut zu mir!« sagte sie sehr laut, als ob wir Umstehenden es uns einprägen sollten. Tante Hermine stand am Kopfende seines Lagers, stumm, fast bewegungslos, und ich erschrak über den harten Ausdruck ihres Gesichtes.

Bruder Illo, wir haben ihn nachts bei Fackelschein in die Eulenriedgruft getragen. Der Oberförster, sein neuer Jagdgehilfe, Vater Kreihorst und ich, zwei Oberknechte und unser alter Diener faßten die anderen Handhaben des Sarges. In der Gruftkapelle wartete der Fürst, der immer bereite, und unser Pfarrer. Ein kurzes Gebet und dann verschloß ich die schwere Tür der Gruft. Wir haben keine Anzeigen versendet. Die Standesgenossen des Vaters sind alle alt und wären wohl kaum hergekommen. Nur in der Kreiszeitung habe ich in unser aller Namen den Tod bekanntgegeben. Requiescat in pace.

Dein liebes Mädchen scheint wie gewachsen in diesen schweren Tagen. Sie ist ganz Sorge um unsere Mutter. Elisabeth und Tante Hermine sind dem Englein rechte Freundinnen geworden.

Leb' wohl, lieber Illobruder!

Dein Dankwart.

Ilmenbach, am 1. Oktober 19..

Lieber Illo!

Rasch folgt dieses zweite Schreiben. Dein Bruderbrief hat mir wohlgetan. Nun bin ich beim Ordnen des Nachlasses. Zieh nicht spöttisch die Mundwinkel herunter, gib mir lieber die Bruderhand.

» De mortius nil nisi bene«.

Es ist mir klargeworden bei den Niederschriften, die ich fand, daß man doch sein Urteil den Eltern gegenüber lieber dreimal durchsieben soll, ehe man es sich und anderen dauernd einverleibt. Schon daß Vater einer solchen Gefühlsregung fähig war, eine Art Tagebuch zu führen, ist fast unverständlich. Ich sage auch nur: eine Art. Denn es sind einzelne Notizen. Ihre Zusammenstellung wird längere Zeit erfordern. Folgende Notiz liegt 20 Jahre zurück. Sie gibt tief zu denken. »Herrgott, segne meine Frawe! Sie soll mir ja bald den Erben geben. Du wirst sie mir nicht sterben lassen, hörst du? Das darfst du einem alten, braven Soldaten nicht antun, dem nichts übrigblieb, als eben dieser Schutzengel. Rede Dich nicht drauf raus, daß Du oben Engel nötig hast. Dieser bleibt jedenfalls bei mir. Basta, Und wirst mir einen Buben geben, gelle? Für Frauenzimmer bin ich zu grob. Es sind ja auch nur halbe Wesen, weil sie nie zum Militär können. Also aufgepaßt! Und ich verspreche Dir, alter Herrgott da oben, daß ich den Jungen lieb haben werde. Notabene, wenn er meinen Engel nicht schädigt. Thassilo, Freiherr Eulenried.«

Illo, bringst Du das mit Vaters Wesen in Einklang? Und so gibt es noch mindestens fünfzig solcher Zettel, gerichtet an eine höhere Macht. – Auch ein anderer seltsamer Nachlaß fand sich. Ein Päckchen, – ja was glaubst Du? Wo fand ich's? In einem riesenhaften Strumpf, wie Großmutter sie trug. Und Vater war doch wahrlich kein altes Weib. Für unsere Mutter drei Hundertmarkscheine: »Zu einer Badekur! Für Tante Hermine 20 M. Zu einem schwarzen Trauerkamisol. Denn Herminchen verkneift es sich ja doch nicht, um ihren verrückten Bruder zu trauern.« Für Dankwart 10 M. »Man soll nicht sagen, ich hätte niemals was für das Gut getan. Kaufe Mist!« Für Illo 6 M. »Das gibt einen Brautstrauß. Denn Du nimmst sie ja doch.« –

Bruder Illo, – wenn selbst unser Vater solch närrisch weiche Regungen hatte, darf ich wohl jetzt auch ein bißchen heulen, ohne mich zu schämen. Es war also doch ein »Nachlaß« da, und wir hatten unrecht. Manche Flasche Rotspon hat er sich versagt. – – Und dann der Brief, an uns gerichtet. Illo, lies ihn in Deiner Werkstatt.

Dein Dankwart.

Illo las. Sein Herz schlug heftig. Er meinte, es müsse sämtliche Uhren der Wertstatt übertönen.

Liebe Söhne!

Mir ist schnurrig zumute. Ehe der Sensenmann kommt, will ich dies niederlegen. Ich mein', ich hätt' in meinem ganzen Leben nie solchen Spaß gehabt, als in Gedanken an Eure dummen Gesichter, wenn Ihr die Trikotagenfabrik aufstöbert. »Hat der alte Herr doch was hinterlassen?! Ich bin überzeugt, die Hermine gibt ihr Teil sofort Eurer Mutter noch obendrauf. Und Dankwart tut desgleichen. Illo verbiete ich's. Ne, ne, den Brautstrauß kriegt der kleine Distelfink!!! Ich nenn' ihn nicht »Englein«. Das ist nur Eure Mutter. –

Jetzt öffne ich die letzte Flasche Rotspon, die ich im Keller hatte. Pontet canet. Ahhhh! Aufs Wohl meiner Frawe, Eurer Mutter! Klirr! Da liegt das Glas! Niemand soll mehr daraus trinken! Lebt wohl, Lausbuben! Bleibt gesund!

Thassilo, Freiherr Eulenried.

Illo stand auf. Er reckte sich hoch und trat an das Fenster. Er grüßte still die Wartburg. Der Vollmond stand hell darüber. Schlaf wohl, Vater! Illo legte erschüttert den Brief fort, und erst nach Stunden las er den Wirtschaftsbericht. Es war eine Entspannung, und es war ja auch sein Gut und seine Heimat.

Die Roggensaat ist beendet; heute ist der bestellte Winterweizen gekommen, den wir mit Kupfervitriol in genügend Wasser gebeizt haben. Zuviel Brandsporen waren am Saatgut. Kartoffeln und Rüben sind in die Mieten eingebracht; wir haben sie leicht bedeckt, denn es ist schon manche Nacht empfindlich kalt gewesen. Ihr Stadtleute merkt davon noch nichts. Pferde habe ich mir vom guten Schwiegervater geliehen, denn ich muß vierspännig pflügen für Zucker- und Futterrüben. Und ebenso tief für das Sommerkorn, damit die Furche ordentlich durchlüftet und durchfriert im Winter. All diese Sachen sind in den Vorjahren so jämmerlich versäumt worden.

Verzeih, daß ich in Deine feine Uhrmacherkunst mit meinen derben Bauernfäusten hineintappe, aber auch Du bist ja Miterbe dieses Gutes, und es ist Dir ans Herz gewachsen. Mit tiefer Freude habe ich vom Englein gehört, daß Du die Absicht hast, Deine Werkstatt einst in unsere Burg zu legen. Vater Kreihorst läßt sein vierhundertjähriges Stammhaus erweitern. Der Brand ist eine Verjüngungskur für das schöne Gebäude geworden. Ein kluger Architekt hat seine Wirkungen herausgeholt, auch eine große Gerümpelkammer entdeckt, in der Spreu lagerte. Alles umschlossen vier Wände, die mit alten, feingemalten Kacheln belegt waren: Thüringer Porzellankacheln von den »Greiners«. Das war ein herrlicher Fund, und die Gerümpelkammer wird ein Staatszimmer. Alter Illo, ich wollte, Du kämst mit Deiner Erbuhr so weit und immer weiter, wie ich mit unserem Gut. Es schafft sich als Bauer wahrhaft gut, wenn der Himmel Gedeihen durch gutes Wetter, das heißt Regen und Sonnenschein in gerechter Abwechslung schickt. – Arbeit kann es gar nicht zuviel geben. Manchmal brummt mir ja der Schädel, wenn ich z. B. an Wasserfurchen und Vorflut für Gräben denke. Es bricht im Oktober gar so viel auf einen Landwirt herein. Aber glaube mir, wenn ich etwas geschafft und gut geschafft habe, dann lohnt mir das der feine Schwiegervater mit einem so frohen Lachen, daß die eigene Tochter den herben Mann gar nicht wiedererkennt. Und wenn er zart noch hinzusetzt: »Brav, brav, Schwiegersohn!«, dann bin ich stolzer als ein ... Du, Illo, ich finde gar keinen Vergleich, wie stolz und froh ich bin. Alte Rittergutsbesitzer schätzen Bauer Kreihorst als einen genialen Kopf. Und Vater tut, als wäre ich der eigentliche Mann an der Spritze. Vor Größenwahn bewahrt mich nur mein eigener Gerechtigkeitssinn und Lisels ruhige Besonnenheit. Den Höhenflug meiner Zukunftspläne hemmen die Mäuse, die mir Klee und junge Saat zerstört haben. Verd ... Schädlinge. Aber sie lernen mich jetzt kennen. Heute habe ich wieder mal auf dem Speicher geschuftet. Die Getreidevorräte um und um gearbeitet mit einem Jungknecht. – Du siehst, mein Ruhm läßt mich nicht schlafen, ich versetze Dir alles, guter Illo, denn augenblicklich ist Feierabend. – Der richtige Bauer schreibt aber nicht vor Feierabend, wenn er gerade nicht notwendig Rechnungen aufstellen muß. Aber die Berechnung der Erntevorräte kommt erst nach beendeter Ernte. Ich teile aber schon in Gedanken das Futter ein, habe ordentlich Kraftfutter gegeben für meine tragenden Tiere. Heute war schon ein Käufer für Korn da, er machte auch das Geschäft. Dafür nahm ich Ölkuchen und Kleie. – Futtermöhren und Weizenkleie will ich den Pferden geben, damit sie mir ja nicht die Druse bekommen. Mit phosphorsaurem Kalk hatte man mich angeschmiert, man muß höllisch aufpassen. Ich habe mir nun Rat bei Vater geholt, der die Quellen weiß, wo man ihn am besten für seine tragenden Tiere bezieht. Der verfl... offene Administrator hatte immer Freßpulver gegeben, dies teure Zeugs, das nichts nützt, sondern unserm Vater nur das Geld aus der Tasche holte. Heute sagte der Hütejunge Kaspar tiefsinnig: »Ich brauch kein Freßpulver, mein Appetit ist prima.« Da hat er recht. – Er erkundigte sich auch schon bei der Mamsell nach seiner »Winterfütterung«. Ewig hat dieser Bengel Hunger. Aber ich beginne ja auch damit beim lieben Vieh. – Zum Schluß bekommst Du auch noch ein paar gute Bauernlehren: »Bringt der Oktober viel Frost und Wind, sind Januar und Hornung gelind. Und wandert die Feldmaus bald nach Haus, bleibt der Winter nicht lange aus.«

Illo, ich bin wolkenlos glücklich. Der Tag war voll heiliger Arbeit, und nun tritt mein schönes, starkes Weib herein, die unsern Erben unter dem Herzen trägt.

Wir grüßen Dich beide.

Dankwart und Elisabeth.

*

Inzwischen hatte Meister Distelfink eine große Reise gemacht. Hatte seltene Uhren eingekauft und fremden Meistern das Lob seines Lehrlings gesungen, der ihm nun mal ans Herz gewachsen war. Base Konkordia und Kaspar Gärisch waren als Wächter des Hauses zurückgeblieben. Illo hatte sich gleich nach seiner Ankunft wieder an die Erbuhr gesetzt.

Nun war auch der Meister heimgekehrt. Er stand vor Illo, hielt einen Brief in der Hand und sah seinen Lehrling an, als wollte er ihn mit den scharfen Uhrmacheraugen – immer noch scharf für seine siebzig Jahre – durch und durch ergründen. Huschte dann plötzlich in eine Ecke, warf sich in den uralten Ohrenstuhl seiner Vorfahren, sprang wieder auf, rannte, ja flog durch die Werkstatt, so daß Illo wieder der Vergleich mit einer Riesenmotte aufstieg. Dann stellte er sich vor seinen Lehrling hin. Dies närrische Spiel wiederholte sich ein paarmal, und Illos Kopf konnte kaum so schnell sich rechts und links drehen, wie der behende Meister lief.

»Guten Abend, Meister«, sagte er endlich unbehaglich.

»Guten Abend? Wünscht mir dieser Musjeh einen guten Abend und bringt mir Aufregung und Unfrieden ins Haus???«

»Der Meister muß sich irren«, stammelte Illo.

»O gewiß! Ein Meister kann sich auch irren«, zirpte das graue Männlein und nahm seinen Stubenflug wieder auf. »Aber ich hätte nimmer gedacht, daß ich mich in Eulenried irren würde.«

»Niemals wird sich der Meister in mir täuschen«, sagte Illo ruhig und fest, »es sei denn, daß mein Können ihm nicht genüge.«

»Davon ist keine Rede.«

Meister Distelfinks Stimme versagte, und er ließ sich wieder in den Ohrenstuhl fallen. »Was habe ich ihm gesagt, Musjeh Eulenried? Beim Eintritt in mein Geschäft und mein ehrliches Handwerkerhaus?«

Illos Gesicht war jäh erblaßt. »Ehe Sie weitersprechen, Meister Distelfink, ersuche ich Sie, mich nicht so verächtlich mit ›Musjeh‹ in der dritten Person anzureden. Was habe ich getan, um das ›Du‹ zu verlieren, mit dem Sie den Lehrling ehrten?«

Zornrot und heftig schrie das graue Männlein: »Er hat mir versprochen, allstunds dran zu denken, daß Er ein Baron ist und mein Enkelkind ein schlichtes Bürgermädchen, – und Er gab mir das Versprechen und – hat's nicht gehalten!!!«

Die Stimme des Männleins überschlug sich, und dann versagte sie.

»Meister Distelfink, Sie sind auch einmal jung gewesen, – können Sie gar kein Verständnis für mich aufbringen? Und wie kommen Sie auf einmal auf dies Thema? Ich hätte Ihnen heute noch selbst davon gesprochen.«

»Hätten Sie? Es ist die Möglichkeit. Aber meine Enkelin hat es mir selbst geschrieben ...«

»Darf ich fragen, was? Das Englein ist jung, – es weiß wohl nicht, daß man in diesem Fall das erste Wort dem Brautwerber überläßt.«

»Wem?« fragte Meister Distelfink erschrocken.

»Dem Brautwerber. – Ich weiß, daß ich nichts bin und nichts habe, Meister. Nicht einmal eine richtiggehende Erbuhr. Aber Englein ist noch so jung, – und ich auch kein Greis. Und wir beide haben uns lieb – lieb – Meister – reißen Sie uns nicht auseinander!!!«

Ganz langsam stand Meister Distelfink auf. Es war, als wollten seine Füße ihn nicht tragen. Er tappte sich zu Illo hin und faßte dessen Hand. »Jungvolk liebt sich leicht. Illo, deine Eltern – –!«

»Die Mutter hat mein Englein und mich schon gesegnet, – der Vater. .. er ist gestorben ... Komm, Vater Distelfink, – setz dich auf das alte Kanapee und laß dir erzählen –«

Der Alte ließ sich willig führen, zog aber Illo neben sich auf das Sofa, seinen Lehrling! Illo wußte, daß dies eine unerhörte Tat von ihm war.

»Erst mußt du aber Engleins Geschreibsel lesen, Illo, – es hat mir beinahe den Verstand genommen.«

Er drückte Illo ein nicht einwandfreies Papier in die Hand, das sehr zerknüllt und wohl auf dem Küchentisch geschrieben war. Viele Fettflecke zierten es, und es war mit Blei-, Rot- und Blaustift zu je einer Drittelseite bemalt. Aber energisch und pünktlich waren die Buchstaben gesetzt, einwandfreie Orthographie und Interpunktion: »Großvater, sei gut zu ihm! Großvater, wir haben uns lieb, so lieb! Großvater, besprich nichts mit Base Konkordia! Sage auch nichts zu Kaspar Gärisch! Sag nur dreimal ja zum Illo. Großvater, und wenn er der Hütejunge in Ilmenbach wäre, ich würde ihn nehmen l Der liebt mich auch und wird bald zu dir kommen. Er sagt, wenn er sein anderes Vieh von der Weide weg hätte. Großvater, sei gut mit dem Illo. Ich bin Deine liebe Enkelin Angela.«

Illo küßte den Brief und steckte ihn in die Brusttasche.

»Mir gehört der Brief!« mahnte der Großvater wehmütig.

»Ach«, bat Illo herzlich, »laß ihn mir! Bis ich die Erbuhr geschafft habe. Großvater, ich will mir alle Kraft dazu aus diesem goldenen Brief holen.«

»Ist gut, ist gut! Herrgott, man wird wieder jung, wenn man dich und den Liebesbrief sieht!!«

Darauf tranken beide still und besinnlich eine Flasche »Erbschmiede«, den besten Wein, den der Meister in seinem Keller hatte.

Base Konkordia räumte die gebrauchten Gläser fort und fragte steif und förmlich: »Ist ein Jubiläum zugange? Früher war es im Distelfinkhause Sitte, daß man die ältesten Hausbewohner, die noch dazu zur nächsten Verwandtschaft gehören, davon benachrichtete. Man nahm dann teil an der Freude, jawohl!«

»Bist du fertig, Base?« zirpte das graue Männlein. »Es gibt auch Sachen, wo man nicht die Hausbewohner benachrichtigt, weil sonst ganz Eisenach von einer Sache erfährt, die noch nicht spruchreif ist.«

»Habt Ihr mich je als Schwatzbase erkannt, Vetter?« Die Stimme schwankte bedenklich, und Base Konkordia zog ein Taschentuch hervor, in welches in Thüringer Landesfarben die fürstliche Familie eingewebt war.

»Nur keine Heulerei, gute Base«, flehte der Meister. »Du weißt, ich weine leicht mit. Ich weiß, daß du verschwiegen bist. Aber es ist alles noch nicht zum Veröffentlichen reif. Ist es an der Zeit, darfst du mit der Trommel auf den Marktplatz gehen.«

Und nun weinte die Vase doch. Ganz jammervoll. Da strich Illo ihr begütigend über den grauen Scheitel. – »Ehrenwort, Fräulein Konkordia? Daß es noch niemand weiter erfährt? Ich will Ihr Neffe werden. Habe ich Ihre Einwilligung?«

»Großer Gott! Bei sowas kann man den Tod kriegen!«

Sie sackte fassungslos in den Ohrenstuhl. »Ich will keinen Baron zum Neffen. Das bringt nur Verwirrung. Vetter, du solltest dich was schämen, darauf auch noch ›Erbschmiede‹ zu trinken. Die ist nur für Hochzeiten und Kindtaufen.«

»Kommt Zeit, kommt Rat«, lachte Illo und wurde »ganz niedlich« rot dabei, wie die Base feststellte. Und wenn ein Mann noch rot wird, ist er unverdorben, heißt es in Thüringen.

»Sagen Sie ›warrraftchen Gott‹, Herr Baron l«

»Fräulein Konkordia, ich spreche die Wahrheit!«

Da vergaß die Base ihr Versprechen und ihre ganze Vorrede. Weinend riß sie die Tür auf und rief: »Kaspar Gärisch, schnell, schnell, der Lehrling will das Englein heiraten.«

Freilich rang nun der Meister die Hände, und Illo sah bitterböse aus. Die Base kam zur Besinnung.

»Ich hab's ja gesagt, den Tod kann man bei so 'ner Neuigkeit kriegen!«

»Den Tod nicht, aber das ›Gären un Mähren‹«, schalt der Meister. »Wenn du nicht bald stirbst, Base, weiß es morgen ganz Eisenach.«

Sie wimmerte laut. »Ich bitt um Entschuldigung«, klang es aus ihrem weißroten Taschentuch.

»Illo«, sagte Kaspar Gärisch streng, »ich hatte dich für einen Verlaßfreund und Ehrenmann gehalten. Die Enttäuschung ist groß. Meister, ich mache mich fremd und bitte um mein Zeugnis.«

»Darum hast du mich schon siebenmal gebeten. Man wird dich ja doch nicht los. Deshalb gebe ich dir auch kein Zeugnis, – hast schon drei Stück überher, du Dummbartel!«

»Dank schön für die gute Meinung, Meister. Aber wie soll ich's ertragen, daß Fräulein Angela eine Baronin von, auf und zu wird, und nicht Frau Gärisch???«

»Geh schlafen, Geselle! Und wir trinken noch eine ›Erbschmiede‹ mit der Base, nachdem sie uns leckere Brötchen zurechtgemacht hat.«

»Mit Verlaub, ich gehe mitnichten schlafen, – das Vermögen dazu würde ja fehlen bei dem Gram. Und es würde sich wohl nicht schicken, wenn der Meister mit einem simplen Lehrling Wein trinkt, während der verständige Geselle im Bett liegt. Dafür werde ich die ›Erbschmiede‹ heraufholen. Wieviel pro Nase?«

»Eine für alle, sagte der Meister bestimmt.

»Einer für alle! Alle für einen! Hab' ich mal wo gelesen. Fräulein Konkordia, ich bitte um die Kellerschlüssel.«

Base Konkordia begleitete ihn in den tiefen, burgverliesartigen Raum. Sie wollte verhindern, daß der Geselle in seinem Weltschmerz etwa noch mehr Flaschen heraufbrachte.

Aber als die beiden das Zimmer wieder betraten, die verstaubte Flasche feierlich auf einem zinnernen Teller postiert und vier Gläser aufgestellt hatten, da fehlten sowohl Meister als Lehrling. Diese hatten sich eingeschlossen, der Meister in seiner Stube, der Lehrling in der Werkstatt. Beide hatten Schreibpapier mitgenommen, der Meister einen Bogen mit goldenem und silbernem Aufdruck, in den sich grüne Myrthenzweige rankten. Auch eine neue spitze Feder steckte er in den Halter, eine hohe Kerze brannte während des ganzen Abends, und mit einem großen Petschaft, in dessen Metall ein Distelstrauch mit einem Fink eingeschnitten war, siegelte er feierlich den großen Briefumschlag. Mit feinen, wahrhaft »güldenen« Worten hatte er dem geliebten Enkelkinde seinen Segen erteilt, nachdem er es ermahnt, der hohen Pflichten eingedenk zu sein, die ihrer warteten, wenn sie die Stammmutter eines neuen Geschlechtes sein würde. Und wie sie dem Gatten, der sie dieser Ehre für würdig halte, treu dienen sollte bis an den Tod. –

Und Illo wiederum beugte sich vor Engleins reiner Mädchenehre und vor der langen Reihe ihrer hochwerten und untadeligen Handwerkervorfahren. Dankte ihr auch für den närrischen, wunderguten Brief, der nun auf seinem Herzen ruhte. Und er gelobte der Angela Distelfink, daß er in die Fußtapfen ihrer Vorfahren treten wolle, damit die Uhrmacherkunst auch auf Burg Eulenried Wurzel schlage, wachse, blühe und gedeihe. So wahr ihm Gott helfe. – Es war kein eigentlicher Liebesbrief, der da aus der Werkstatt zur Burg hinaufzog, aber Illo wollte dem Englein erst die ernste Seite seines Charakters zeigen. Alles andere konnte ja noch hundertfältig nachgeholt werden, dachte er glückselig.

Die anderen beiden leerten allein die kostbare Flasche. Die Base nippte, Kaspar Gärisch trank und philosophierte ohne Punkt und Komma. Bis ihn ein lautes Schnarchen seiner Partnerin wissen ließ, daß sie von seiner ganzen Weisheit unberührt geblieben war.

Illo Eulenried arbeitete. Seine Arbeit war bewußter geworden. Er hatte ein hohes Ziel vor Augen. Die Meisterwerkstatt auf Burg Eulenried. Der Name des »schönen Jungburschen«, wie die Eisenacher sagten, hatte schon einen feinen Klang bei den Kunden des Meisters Distelfink. Man brachte ihm immer wieder ganz verzwickte Reparaturen, die sonst Meister und Geselle abwiesen, weil sie nichts einbrachten und gänzlich vergeudete Zeit forderten; aber für Illo war nichts gering, er tiftelte und spintisierte und hatte schon oft aus uralten Gehäusen einen Fingerzeig für seine eigene Erbuhr gefunden. Es kramte auch manch schönes und wohlhabendes Bürgertöchterlein irgendeine alte Uhr aus einer Erbschaftsmasse und schickte Vater oder Bruder zum Illo, der die Reliquie heil machen sollte, ja es kamen auch die Mägdlein selbst, brachten ernsthaft und gesetzt oder auch kichernd und verschmitzt ihre Anliegen vor; aber der schöne Lehrling tat gottlos gleichgültig und hatte nur »Uhrenaugen« und keine »Schönjungferguckerln«. Gegen seinen Meister tat Illo arg geheimnisvoll. Dieser lächelte nachsichtig. Es war ja auch sein Wunsch, daß »Meistergedanken« still ausreifen sollten. Er wußte aus seinen eigenen Lehrlings- und Gesellentagen, wie sich das »Meisterliche« Schritt für Schritt entwickelt hatte. Das unglaublich stürmende Vorwärtskommen seines Lehrlings, der doch auf ganz anderem Grund und Boden gewurzelt hatte, erregte sein höchstes Staunen.

So verging die Zeit. Das Englein hatte noch nicht wieder die Flügel gehoben, um heimzufliegen, sei es auch nur als Gast. Die Mutter ihres Illo beanspruchte das Maidli immer mehr, und es war Angela, als könne sie sich überhaupt nicht mehr von der Feinen, der Gütigen trennen. Das Englein war auch überall beliebt und gern gesehen, konnte auch, wenn Tante Hermine bei der leidenden Mutter ihre Stelle vertrat, der allzu fleißigen Elisabeth etwas schwere Arbeit abnehmen. Freilich bekam Angela einmal einen heftigen Jähzornsanfall, der sich durchaus nicht mit dem Engleinnamen vereinigen wollte, aber nachdem sie dem Hütejungen eine schallende Ohrfeige verabreicht hatte, die er ohne Heulen, nur mit Zähneknirschen quittierte, kam alles in schönste Ordnung. Der Hütejunge wurde zum »Weiberfeind«, wie er sagte, was auch die Stallmägde mit Freude begrüßten, und Dankwart, der »hintenherum« von der Geschichte erfuhr, freute sich über seine junge Schwägerin, die wohl als Schnellrichter aufgetreten war, aber nicht gepetzt hatte. Englein aber fand hier und da Sträußchen von Wiesenblumen, gepreßt vom Sommer her, auf einem Briefbogen mit Unterschriften wie: »An die Ehwige!« oder auch »Du Krausahme!«. Aber Angela lachte nicht einmal über die »krausahme« Rechtschreibung, sie schickte diese Zettelchen alle gewissenhaft an Illo, weil sie es für ehrenhaft hielt, ihren Verlobten in das Seelenleben des Hütejungen einzuweihen. Darauf schickte Illo den Hütejungen wütend »zum Teufel«, freilich nur sozusagen innerlich. Illo hatte jetzt überhaupt viel mit dem »Pferdefußmann« zu tun, denn er war meist Gift und Galle. Die schwierigsten, kniffligsten Uhren von Eisenach und Umgegend brachte er wieder in Gang, und der Ruf des blonden Jungburschen stieg ins ungemessene; aber seine eigene Erbuhr versagte ihm den Gehorsam.

»Schandewert!« knirschte er.

»Mein Herzensjunge«, zirpte das graue Männlein, »paß auf, das kommt über Nacht. Leg' das Gehäuse nur mal unter dein Kopfkissen. Wirst freilich unbequem liegen, aber schläfst ja ohnehin wenig durch dein ewiges Sinnieren. Aber ich sag' dir als alter Thüringer: ›Sympathie hilft.‹ Kannst auch mal auf den Hörselberg steigen. In dem einen Sandsteinfelsen ist ein Türlein. Grad' so groß, daß ein kleiner dünner Mensch sich durchdrücken kann. Bist ja ein Sonntagskind, wie du mir sagtest, – wohl, – so klopf' an einem Freitag ›zwischen Lichten‹. Dreimal klopfst an. Rufst: ›Tannhäuser im grünen Thüringer Wald, bist viele hundert Jahre alt, kennst alle Land, wo Tannen stehn, läßt dich nur Sonntagskindern sehn.‹ Hast Glück, kommt der Tannhäuser oder gar die Frau Venus. Da kannst fragen, wo der Fehler in deiner Erbuhr steckt, und die beiden antworten, daß nur alles so kracht. Denn solche Sachen sind immer mit Gewitter verbunden.«

Illo hatte verdutzt auf seinen Meister geschaut, der solch ein kluger und in seiner Kunst einzig dastehender Mann war und dabei doch mit tiefem Ernst von diesem Aberglauben sprach. So ließ sich denn Illo Urlaub geben, kletterte an einem Novemberfreitag »zwischen Lichten« auf den Hörselberg, nahm die Mütze ab vor der hehren Wartburg, die im Sonnenuntergang schier leuchtete wie der Mont Salvat, und klopfte an das Felsentürlein. Es erschien auch sofort jemand. Zwar weder Tannhäuser noch Venus, dafür aber eine alte, verhutzelte Kräutersammlerin, die mit roten Triefaugen und zahnlosem Mund glücklich lachte und krächzte: »Ein schöner, junger Mann! Hihi, hab' ich doch noch einen abgekriegt!« Da entfloh Illo freilich so eilig, wie es der steile Berg gestattete, und konnte abends noch mit Herzklopfen seinem Englein melden, daß er unversehrt den Lockungen des Hörselberges entronnen sei. Der Meister ließ sich nicht von ihm berichten. Der Zauber hat keine Wirkung, wenn man darüber ausgefragt wird. –

Vom Englein kamen halb frohe, halb wehmütige Briefe; es litt wohl sehr an Heimweh, das es dem Großvater und auch dem Schatz nicht kundtun wollte, um sie nicht zu betrüben. Da lag aber einmal ein feines Kärtchen in solch einem Engleinbrief, und die feinen Schriftzüge der Mutter Illos fragten an: »Will der liebe Großvater sich nicht einmal auf der Burg vorstellen? Sich alles ansehen, was einmal seinem Enkelkind zur Heimat werden soll?«

Und Meister Distelfink übergab alle Uhren den beiden bewährten Vertretern Kaspar Gärisch und Illo Eulenried, schnürte sein Ränzel, das wirklich nur einem Kinderrucksack glich, und fuhr ins Gebirge hinein. Dort wurde er freilich mit Jubel vom Englein und mit allen Ehren von Schloß und Gut und Bauernhof empfangen. Er ruhte sich recht von allen Rädern aus, mußte viel von Illo erzählen und konnte nicht genug des Lobes sagen von diesem Fleißigen. Hatte er den Vormittag bei den Frauen im Schlosse verbracht, so gehörte der Nachmittag der Landwirtschaft, und Bauer Kreihorst, Dankwart und Dr. Senfkorn führten ihn unermüdlich herum, der sich ja für das Kleinste interessierte. Man war gerade bei Beendigung der Weizenaussaat, und die Pflugarbeit für die Frühjahrsbestellung wurde fortgeführt. Das war freilich alles Neuland für den gewerbetreibenden Uhrenkünstler in der Stadt. Und er wußte nicht, der doch sonst alles verwertete, wie er die Wissenschaft unterbringen sollte, den Mist gleich hinter dem Wagen zu streuen, damit der Wind nicht die wertvollsten Bestandteile davontrüge. Aber er sah doch mit verständnisvollen Augen, wie Dankwart den Dung gleich unterpflügte. Der tüchtige, junge Gutsherr, der wie sein eigener Knecht arbeitete, erklärte ihm auch, daß die Jauche nicht in die Dorfstraße laufen dürfe, wo sie nur schade, sondern auf das Feld geführt werden müsse, wo es nütze. Er sah auch einer Jagd auf Feldmäuse zu, und half dann mit Dr. Senfkorn bei den Rüben und Kartoffeln, die sie trocken an ihren Lagerort brachten. Das war eine rechte »Gaudi« für alle Insten, die beiden kleinen, übereifrigen Männchen bei ungewohnter Arbeit herumschuften zu sehen. Meister Distelfink und Dr. Senfkorn ahnten aber nicht, weshalb so gelacht, gekichert und gescherzt wurde, sondern hielten die ganze Landwirtschaft für eitel Fröhlichkeit.

Sie erlebten aber auch einen Ehrentag mit. Der Landrat des Kreises erschien mit mehreren Herren, worunter sich auch einige Bauern aus benachbarten großen Dörfern befanden. Sie wollten den Musterhof des Großbauern Kreihorst besichtigen und zugleich auskundschaften, ob es Wahrheit sei, was ringsum behauptet werde, daß das arg verkommene Gut der Barone Eulenried plötzlich ein zweites Mustergut werden wolle oder bereits geworden sei. Nun konnten sie freilich eine schöne Wahrheit mit heimbringen.

Mit warmen Worten lobte der Landrat alles, was er gesehen hatte. Erst seit kurzer Zeit führte er mit kraftvoller Hand die Zügel in seinem Kreise. Er hatte es nicht glauben wollen, was man ihm berichtete: den raschen Aufstieg eines vernachlässigten Grundbesitzes aus Schulden, Verlotterung und Sünden eines diebischen Verwalters. Aus Gleichgültigkeit des alten Besitzers, der den Oberbefehl schließlich in die Hände seines kraftvollen Sohnes legen mußte. Immer wieder wurden Dankwarts Hände vom Landrat geschüttelt. »Sie und Ihr ermordeter Bruder haben sich auch als Lebensretter erwiesen, ich danke Ihnen im Namen des ganzen Kreises. Habe auch ein Ehrendiplom bei mir. Aber was ist ein Stück Papier gegen das, was Sie leisteten und was Ihnen das Frohgefühl getaner Pflicht sagt.«

Dankwart waren alle diese Worte schon viel zuviel. In seinem schlichten Sinne hatte er über all die angeführten »Taten« noch gar nicht nachgedacht. Es war Pflicht, was er getan, und Pflichten erfüllt man eben, ohne darüber zu reden. Als die Herren gegangen waren, faßte Dankwart seinen Schwiegervater an den Schultern und schüttelte ihn: »Du mußt furchtbar gepetzt haben, Vater, – es ist nicht die Hälfte davon wahr.«

»Nun seh' mir mal einer den Kerl an! Rebelliert gegen seinen Schwiegervater«, lachte der alte Kreihorst. »Wenn das mein zukünftiger Enkel hört, macht er's nach, sobald er geboren wird. Böse Beispiele verderben gute Sitten.«

Draußen am Walde hatte der Landrat den Hütejungen Kaspar aufgegriffen: »Junge, hast du Zeit?«

»Ich habe nie Zeit.«

»So? Ich bin der Landrat.«

»Angenehm. Ich heiße Kaspar.«

Die Herren verbissen sich das Lachen. Man konnte ja nicht wissen, ob es Dummheit oder Frechheit war.

»Du sollst uns den Weg zu den Waldgräbern zeigen.«

Kaspar sprang in Riesensätzen voraus.

»Ein fixer Bengel«, lobte der Landrat. »Es war also doch nur Dummheit, – seine Vorstellung. Er soll ein gutes Trinkgeld bekommen.«

An der mit Waldkränzen und Kreuzen stimmungsvoll geschmückten Ruhestätte stand man eine lange Zeit barhäuptig in stiller Andacht. Dann wandte man sich zum Gehen. »Du wirst uns noch den nächsten Weg zur Burg Eulenried zeigen«, wandte sich der Landrat an Kaspar. Und zu den anderen Herren gewendet: »Es muß ein herrlicher Weg zur Burg sein, ich habe den Wagen dorthin dirigiert, will noch der Frau Baronin meinen Kondolenzbesuch machen. Komm, Kaspar. Geh' voran!«

»Wird sich nicht machen lassen, Herr Landrat. Die Obermagd hat mich zum Melken befohlen.«

Er war schon fortgesprungen.

»Halt, halt!« rief der Landrat lachend. »Hier ist dein verdientes Trinkgeld, du Original.«

»Schimpfen lasse ich mich nicht!« rief der Hütejunge zurück. »Auch nicht für Geld. Außerdem bin ich selbständig.«

Die Herren schritten rasch aus.

»Also, das wären die Eulenrieds und ihre Insten«, bemerkte einer der Begleiter. »Es sind sture, unruhige Köpfe. ›Und wie der Herre, so's Gescherre‹.«

»Das mag wohl sein«, meinte der Landrat, seinen Schritt etwas verhaltend, »aber wie sich die drei Brüder gezeigt haben, – – ich wollte, wir hätten mehr solche Köpfe in unserem Kreis.«

»Wie mag's dem Uhrmacher gehen?« fragte ein dritter. »Es war ein befähigter Jurist, nur ging er nicht im Geleise. Ob seine Uhren richtiger gehen?«

In diesem Augenblick traten sie aus dem dichten Wald heraus, und der Eulenried lag vor ihnen. »Herrlich!« riefen sie alle wie aus einem Munde.

»Wer das da oben einst gebaut hat und das Nunquam retrorsum als Unterschrift setzte, muß ein ganzer Mann und ein prächtiger Ahnherr gewesen sein!«

»Thassilo I. von Ilmenbach-Eulenried 1540«, sagte der Landrat ernst. »Der junge Uhrmacher heißt nach ihm.«

Die Baronin von Eulenried nahm den Besuch des Landrats an. Die alte Dame hatte sich weigern wollen, aber Angela redete eifrig zu. »Du mußt mehr Leute sehen, liebe Mutter, nicht immer nur Tante Hermine und das langweilige Englein.«

»Langweilig ist besser als wüst!« rief Tante Hermine etwas scharf.

»Aber Illo sagt das Gegenteil«, meinte Angela kriegerisch.

»Ist Illo denn immer ausschlaggebend?«

»Aber gewiß! Er ist doch so klug! Und mein Oberhaupt!« Wunderschön sah das Mädchen aus in seiner Begeisterung.

Der Landrat begrüßte die drei Damen. Tante Hermine streckte ihm die Hand entgegen. »Wir sprachen eben von Oberhäuptern. Sie, Herr Landrat, sind ja das unserige.«

»Wenn Sie es so meinen«, lachte er herzlich.

»Mein Töchterchen!« stellte die alte Dame Angela vor.

»Ich wußte nicht, daß eine Prinzessin auf der Burg thront«, meinte der Landrat galant.

»Ach nein«, wehrte das Englein. »Ich bin Illos Braut. Er ist Uhrmacher. Und arbeitet beim Großvater. Ich bin ein ›Distelfink‹ ...«

»Ahhh! Dieser Name hat einen stolzen Klang in Thüringen, ja wohl weit darüber hinaus ...« Der Landrat verneigte sich. »Ich grüße den Namen und die liebliche Braut!« sagte er.

»Englein, sorge uns für Wein!« gebot Tante Hermine.

Und der Landrat erinnerte sich nicht, jemals von Engeln bedient worden zu sein. Deshalb nahm er aus Angelas Hand ein Glas voll des köstlichen Weins entgegen und vergaß beinahe, daß »drunten vor dem Tore« ungeduldig vier Herren auf ihn warteten. Er hätte am liebsten den Spruch des Hauses Eulenried auf sein eigenes Panier geschrieben. Als er sich von den Damen verabschiedet hatte, traf er unten am Wagen den Dr. Senfkorn und Meister Distelfink, dem er noch eine Menge Komplimente über das »zauberschöne Englein« sagte, das dem Meister aus der Seele gesprochen war. Dafür bekam der Landrat eine Schilderung von Illos Fähigkeiten zu hören, die dem Uhrmacherlehrling gezeigt hätten, wie hoch er in seines Meisters Gunst stand.

Noch an demselben Abend fuhr der Meister wieder nach Eisenach, und den Präzeptor Senfkorn nahm er mit sich als schöne Überraschung für Illo, da er wußte, wie herzlich auch dieser an dem Lehrer hing. Vorher aber bat Meister Distelfink seine Enkelin, brav und treu bei der kranken Baronin auszuharren, damit sie eine rechte nutzbringende Beschäftigung habe, da ja Base Konkordia zu Hause voll ihren Platz ausfülle.

»Und liebes Englein«, setzte er ernst hinzu, »hab' du immer im Sinn, daß der Illo zu etwas Besonderem ausersehen ist. ›Europa braucht Ruhe‹ heißt ein schönes Lied, und dein Illo braucht sie auch. Hörst, Englein? Schreib' ihm immer mal einen kurzen Brief, gut und froh, – mehr braucht's nicht. Nur keine Ablenkung von seiner Erbuhr, – die soll seinen Namen in die Welt tragen, hörst? Und sein Name wird ja auch der deine sein, so Gott will.«

Das war gewiß eine schöne und auch wahrhafte Rede gewesen, aber das Englein fand viele Gegenreden, hätte gar zu gern ein paar schöne Fahrten nach Eisenach unternommen und nebenbei den Illo aus seiner Tiftelei hervorgestöbert aus abertausend Rädern, Mühe und Arbeit. Aber der Meister blieb fest und das Englein weinte sehr und behauptete kühn, er habe den Illo lieber als sein Enkelkind. Da fuhr er die Enkelin tüchtig an und dämpfte gar nicht seine Stimme, denn ihre törichten Worte hatten ihn hart getroffen. »Tumme Daute!« rief er so thüringisch wie nur möglich. Und Fräulein Hermine von Eulenried freute sich gar ein wenig, daß das arg verwöhnte Englein endlich einmal von berufener Seite geduckt wurde.

Dann ward es nun ganz still auf der Burg. Aber Englein spürte in einem der Säle einen alten, kostbaren Flügel aus einer Weimarer Firma auf, der gut erhalten, nicht durchschossen und nur fürchterlich verstimmt war. Das musikalische Englein weinte fast, als sie den ersten Akkord anschlug. Aber dafür gab es ja Hilfe, und die Firma erbot sich, einen Mann zu schicken, und Meister Distelfink war glücklich, dem Englein etwas »Gleichwertiges«, wie er töricht meinte, für den Bräutigam zu schenken. Der Flügel wurde in einem gutheizbaren Zimmer aufgestellt, das neben dem von Illos Mutter lag, und nun konnte das Englein nach Herzenslust musizieren und ganz regelmäßig üben, was, da es mit gutem künstlerischen Verständnis geschah, alle auf der Burg und auf dem Gut sehr beglückte. Und dann spann die Einsamkeit immer mehr das große Gewese ein, und der Winter sandte seine ersten weißen Flocken. Die vergingen auch wieder, es ward mild draußen, und Dankwart ließ für die Frühjahrsbestellung fleißig weiter pflügen. Mit Leib und Seele war er Bauer, und da er wußte, daß ihm der Frühling seinen Erben schenken würde, ging er mit federndem Schritt durch sein jetzt so schmuckes Gewese, wurde mit hellen Augen von seinen Insten gegrüßt, und er wußte, das waren alle seine treuen Mitarbeiter durch Not und Gefahr, Feuer, Hagelschlag und Mißernten. Das Wort »Der Eulenried schafft's« war nun schon zum Sprichwort geworden. Bauer Kreihorst, der manches Gute aus der alten Schule übernommen hatte, ließ sich auch das Neue vortragen, und Dankwart konnte sich's nun schon leisten, verschiedenes auszuprobieren und das beste zu behalten.

Elisabeth hörte an diesen Abenden, da schon Holz und Torf in dem gut gefütterten Ofen prasselten, mit großer Freude zu, wie die beiden Freunde, ihre besten, miteinander ratschlagten, beredeten, verwarfen. Ja, auch wenn die Geister aufeinanderplatzten, konnte sie herzlich dazu lachen, denn es ging ja doch alles immer friedlich aus, und jeder nahm immer Werte aus des anderen Worten und Handlungen. Und wenn es wirklich wieder einmal vorkam, wie schon geschehen, daß Bauer Kreihorst ärgerlich über die vielen Neuerungen war, die der Schwiegersohn einführte, und Elisabeth ein wenig bange wurde, weil der Vater mit gerunzelter Stirn ohne Gutenachtgruß die Stube verlassen wollte, dann brauchte Dankwart nur eine Frage zu tun, die eine Bitte in sich schloß, weil er sich allein nicht zu helfen wußte; dann setzte sich sofort der Bauer wieder friedlich hin in dem Gedanken, die Jungen brauchen dich, sie werden nicht ohne dich fertig.

»Vater, was mach' ich mit der moorigen Wiese?«

»Sofort Sand drauf fahren, Junge, aber sofort. Hast du Kompost gesetzt? Nicht? Tu's gleich! Allen Unrat aus Hof und Garten kannst sammeln, misch' Staubkalk drein, – Vorsicht bei der Verteilung. Junge, so frag' doch! Hast du die Mieten zum Winter recht geschützt? Ist gut, ist gut. Kann mich ja auf dich verlassen.«

»Das kannst du, Vater. Setz' dich man wieder her. Du, ich hab' heute früh den Kühen das Futter angewärmt, hab' auch Eiweiß, Stärkemehl und Fett dazugegeben, die Bleß ist heikel mit ihrer Verdauung.«

»So ist's recht, Dankwart. Auf's Vieh achthaben ist ein erstes Gebot. Die Dreschmaschine steht wieder zu deiner Verfügung, ich bin bald mit allem durch.«

»Morgen will ich meine Futterberechnung nachprüfen lassen.«

»Freilich, freilich. Hast immer fleißig Buch geführt? Bin selbst etwas im Rückstand noch vom Brand her.«

»Ich helf' dir, Vater.«

»Gut' Nacht, allzusammen!«

So schön und friedlich war auch dieser Tag verlaufen. Eng aneinandergeschmiegt stieg langsam das junge Ehepaar zur Burg hinauf. Ehe sie sich zur Ruhe legten, wollte Elisabeth noch der Mutter erzählen, wie der Dankwart geehrt worden war. Sie sah strahlend auf den Gatten. Dann wurde sie nachdenklich. »Ich verdiene dich nicht«, sagte sie leise in sein Ohr.

»Du!« Er drückte sie zärtlich an sich. »Was du mir geben willst – – alle Erdenschätze wiegt es auf.«

An einem trüben Dezembertage klingelte ein Schlitten vor das Haus des Meisters Distelfink. Heraus flog das Englein, und Vater Kreihorst kletterte etwas schwerfällig hinterher. Das Mädchen mußte sich schon eine Weile vorher aus all den Pelzen und Decken erlöst haben. Kaspar Gärisch stand am Fenster zu ebener Erde und fand vor Schreck keine andere Anmeldung bei Base Konkordia, als diese: »Wenn mich nicht der Affe laust, so hat der Deubel das Englein hergekarrt.«

»Schämen Sie sich, Geselle! Selbst im Fieber darf man nicht so gottlose Reden führen!«

»Ich reiße aus. Das fehlt mir noch. Den Doktor nehme ich mit, der ist auch verliebt in das Kind.«

Inzwischen läutete Angela Sturm! Zitternd öffnete die Base die Tür, an der melodisch ein Dreiklang ertönt: as – c – es. Das Englein stürmte an ihr vorbei. »Grüß Gott, Base!« grüßte es eilig. »Wo ist Illo?«

Da hatte es auch schon die Tür zur Werkstatt aufgerissen. »Ich will dich auch gar nicht stören. Illo, aber sehen mußte ich dich. Wir sind nur auf ein paar Stunden hier, Vater Kreihorst und ich, Illo ...«

Sie hielten sich umfaßt. Sagten nichts als »du – du!« Erst nach einer geraumen Weile löste sie sich aus seinen Armen.

»Illo, bist du krank? Du siehst erbärmlich aus.«

»Nein, – nicht mehr. Du bist bei mir. Herrgott, Englein!!!«

Meister Distelfink lief mit Kreihorst herzu. Er streichelte hilflos mit seinen feinen, zierlichen Händen seine beiden liebsten Menschenkinder. – »Englein, – ich hab' ihn gepflegt, und die gute Base hat wie eine Mutter für ihn gesorgt: Er aß und trank fast nichts, er saß auch nicht an seiner Uhr, die schon die Uhr der ganzen Stadt geworden ist. Hundertmal hab' ich mich schon verzweifelt gefragt, was fehlt der Uhr und was fehlt dem Illo?

»Der Uhr fehlte der rechte Illo und dem Illo fehlte ich!« rief Englein stürmisch. »Und Vater Kreihorst fühlte alles, jawohl, wenn er auch ein Bauer ist.«

»Du Racker!« rief Kreihorst. »Warum soll ein Bauer nicht genau so fein fühlen wie die Stadtleute?«

Englein hing schon an seinem Halse. »Verzeih, – ich hab' dich so lieb. Du hast mich hergebracht. Du hast es durchgesetzt, daß man mich losließ.«

»Ja, das hab' ich. Der ›Bauer‹ ist auch mal jung gewesen.«

Illo hielt schon wieder sein Englein umfangen. »Und die Mutter? Geht es ihr gut?«

»Ja. Und sie grüßt dich. Hat Heimweh nach dir, so sehr. Aber sie will tapfer sein, sie will warten. – Tapferer als ich!« setzte Englein demütig hinzu.

In Illo ging etwas Seltsames vor. Es war, als sähe er ein helles Licht vor sich leuchten. Sein ganzes Gesicht war überstrahlt. »Weihnachten!« sagte er leise. »Weihnachten komme ich.«

Wer hatte je den Illo Eulenried träumerisch gesehen. Die Brüder hatten das immer dem Wildrich überlassen. Sacht ging Illo aus dem Zimmer. Man hörte ihn nebenan in der Werkstatt hantieren.

»Geh' ihm nach, Englein, ehe er anfängt zu arbeiten!« Meister Distelfink drängte. »Gib ihm Wegzehrung bis Weihnachten! – Guter Gott, der Illo will wieder arbeiten!!! – Geh', Englein, rasch, – der Kaspar Gärisch ist bei der Kundschaft, sag' dem Illo ein gut's Wörtlein und noch so was Extraes!« Es war schon draußen und klopfte zaghaft. Nichts rührte sich drinnen. Da klinkte sie die Tür auf. Illo stand vor seinem Arbeitstisch, die Hände gefaltet, die Augen in Fernen gerichtet. Die Erbuhr stand auf dem Tisch. Angela sah, daß ihr Werk herausgenommen war, – zum wievielten Male? Räder, winzige Schräubchen, Plattinen, eine kleine Holzwalze, – Angela übersah alles mit einem Blick.

Illo atmete tief auf. Er schien jetzt erst das Mädchen zu sehen.

»Ich wollte dir ›Ade‹ sagen, du. – Großvater hat mich hergeschickt. – Aber ganz von selbst will ich dir sagen, daß ich jetzt erst weiß, was du bist. – Illo, wir fahren gleich wieder heim. Heim, – das ist Eulenried und Ilmenbach, gelt Illo, – unsere Heimat! ... Still, still, Illo, ich will alles rasch sagen. – Sieh, du sollst ganz ruhig arbeiten. – Und doch weiß ich, daß mein Kommen dir genügt hat. Weiß überhaupt alles. Und werde spüren, wenn ich dir einen Brief schreiben muß oder nicht. Und wenn du Weihnachten nicht kommst, – und nicht Ostern, so kommst Pfingsten – Illo, dann jährt sich unser Kennenlernen. – Und den Fehler in der Uhr, den findest du und machst dein Meisterstück! Sieh, darauf brauche ich gar nicht zu warten, das weiß ich. Du kannst alles, was du willst.« Illo schaute ihr tief in die Augen. Darin leuchtete das Herz, das er brauchte. Da war keine Unruhe, keine Hemmung, wie in seiner Erbuhr und rings in allen Uhren der Werkstatt. – In Engleins Augen war nur Vertrauen und eine Sicherheit, die ihn tief beglückte. »Woher kommt dir diese Stärke, mein Kleines?« fragte er ernst-froh.

» Ich hab' dich lieb! Ade, Illo«

Mit diesem Wort im Ohr ging der Uhrmacher an seine Arbeit. Das Traumselige war vorbei, das bewußte Denken trat an seine Stelle. –

Angela lief zur Base Konkordia. »Muß dich um Verzeihung bitten, Muhme. Bin vorhin an dir vorbeigelaufen ohne Sinn und Verstand, nichts für ungut.«

»Hast nie viel von diesen beiden Sachen bei dir gehabt«, sagte die Base trocken. »Wo soll bei verliebten Leuten Sinn und Verstand herkommen? Aber du bist ein gutes Kind, daß du abbitten kommst.« Sie strich ungeschickt über Angelas Wange. »Hab' dir noch nicht zum Brautstand gratuliert, – es war ja solche Hast dabei; in meiner Jugend war das alles feierlicher, – und hielt auch länger.«

»Bei uns hält es für die Ewigkeit!« sagte Englein fest.

»Geb's Gott! – Drüben auf meiner Truhe liegt ein Nastüchlein von meiner Mutter selig. Feinste Thüringer Spitzen sind drumrum genäht. Benutzt hat es noch keiner jemalen. Du sollst es an deinem Hochzeitstag auf dein Gesangbuch legen.«

»Schon gut, Muhme Konkordia. Aber ich denk' noch nicht an Hochzeit.«

»Wahrhaft warst immer, Angela, aber dies ist die erste Lug, die du aussprichst. – Laß gut sein. Der Baron Illo, – ich mag schon gar nicht mehr ›Lehrling‹ sagen, denn sie meinen in Eisenach, er wäre schon beinahe Meister, – ja, der Baron denkt stark an Hochzeit. Würde er sonst nur arbeiten? Und hungern? Und vom Fleisch fallen, daß er wie ein Zaunstecken ausschaut? Englein, – auf den mußt achthaben! Mein Vetter Distelfink ist schier verzweifelt gewesen. Ist bei allem Geist doch nur so ein Haulemännerchen und verzweifelt leicht. Ich aber sagte ihm: ein Mittel kenn' ich als alte Thüringer Bas': rohe Kartoffelklöße mit Schweinsrippchen und viel Titsche. – Hab's dem Herrn Baron Uhrmacher vorgesetzt – – hat er's nicht angerührt. – Angela, gib acht! Wenn ein geborener Thüringer nicht mehr rohe Kartoffelklöße mit viel Titsche anrührt, muß man zum Arzt schicken, und der läßt ihn meistens begraben.«

»Hör' auf, Base Konkordia! Ich will meinen lebendigen Illo haben.«

»Jugend, Jugend! Man kann den Tod davon haben!«

Der Base war nicht zu helfen. Angela verabschiedete sich herzlich von ihr und bekam auch noch einen guten Blick und das Nastüchlein.

»Wo bleibst so ewig?« fragte Meister Distelfink ziemlich unlogisch. »Soll ich gar nichts von dir haben? Gleich wird der Bauer wiederkommen und dich mitnehmen.«

Da trat er auch schon in die Tür. Draußen scharrten die ungeduldigen Pferde und klingelten mit ihren Schellen.

»Hast dem Schatz eine gute Wegzehrung gegeben?« fragte er herzlich.

Das Englein war ganz fröhlich. »Hab' ihm gesagt: Ich hab' dich lieb! Er war's zufrieden.«

Wie das schöne Kind so dastand, jung und glücklich, schön und gesund, – ging vielleicht durch Kopf und Herz der beiden Alten der ähnliche Gedanke: »Wenn sich doch alle Menschen zu diesem einen Wort erziehen könnten: Ich hab' dich lieb!«

Schlittengeklingel, – das Englein flog davon. Aber es ließ eine feierlich-frohe Stimmung zurück. – Kurz darauf traten Dr. Senfkorn und Kaspar Gärisch wieder ein. Sie brachten schöne Winterluft mit. Dr. Senfkorn war müde und sah ziemlich »mitgenommen« aus. Kaspar Gärisch hatte so viel philosophiert, daß der gelehrte Bakkalaureus schachmatt davon geworden war. Er hatte nicht folgen können.

»War Kundschaft da?« fragte Kaspar unschuldig, während Dr. Senfkorn sich gleich erschöpft niederließ.

»Die beste, die ich habe«, zirpte Meister Distelfink in einem Anflug von Humor, den man eigentlich nicht an ihm kannte.

»Und wer wäre das?« forschte Kaspar in überlegenem Ton.

»Das Englein und Vater Kreihorst!« Triumphierend wurde es verkündigt.

Kaspar erschrak nicht so, wie es der Meister erwartet. »Wo sind sie? Ich werde meine Arbeit vernachlässigen und in die Weite gehen, bis – bis –«

»Bis du vernünftig geworden bist? Das würde mir zu lange dauern.« Meister Distelfink war sehr aufgebracht. »Man hat wirklich seine liebe Not, bis man Urgroßvater wird.«

»So werde ich bleiben, weil ich sehe, der Meister grämt sich. Ich werde also die Jungfrau geziemend empfangen.«

»Geht nicht. Ist schon fort. Konntest ja längst wieder da sein. Aber es läßt dich grüßen, – das Englein.« Die Stimme des Meisters versagte. –

Und dieser Gruß des spröden Mädchens war zuviel für Kaspar Gärisch. Er zerbrach seine Philosophie, sein Selbstbewußtsein, seinen eingebildeten Zorn. Und so zerbrach er zum erstenmal in seinem langen Uhrmacherleben eine Taschenuhr, ein wertvolles Stück. Sie schmetterte zur Erde, und Glas und Feder zersprangen. Es war seine eigene Uhr. Stumm winkte er dem Meister mit der Hand. Dann ging er tiefsinnig in seine Kammer und machte sich an die Reparatur. Dort fand er alles Nötige. An der Werkstatt, wo Illo saß, schlich er auf den Zehenspitzen vorbei.

Von nun an brachte Muhme Konkordia dem Lehrling Illo das Essen, ob Kaffee, Frühstück, Mittagessen, Vesper oder Abendessen, in die Werkstatt. Sie tat es aus freien Stücken, und der Meister sagte nichts dagegen. Ja, er würde es selbst angeordnet haben, aber er wollte der guten Seele nicht die Freude verderben. Gewöhnlich trug die Muhme das Essen unberührt wieder heraus, aber als sie ihre kriegerische Haltung aufgab und mit wahrhaft mütterlicher Güte den Lehrling ermahnte, für Erhaltung seiner Kräfte zu sorgen, überwand sich Illo der Alten zuliebe. Ihm selbst war sein Tifteln und Suchen, sein unentwegtes Auseinandernehmen und Wiederzusammensetzen seines Werkes wichtiger als alle die guten Sachen, die ihm die treue Seele bereitete.

»Nicht so viel, liebste Muhme«, bat er. »Das sind ja Einquartierungsportionen. Ich bin für ›wenig, aber mit Liebe‹.«

So bildete sich die Muhme aus Liebe zum Lehrling-Baron zur Kochkünstlerin aus und schuf Eintopfgerichte, die den höchsten Ansprüchen genügten und in denen alles enthalten war, was einem angestrengten geistigen Arbeiter zum Aufbau dienen konnte.

Von der Außenwelt merkte Illo nicht viel. Die aufgegangene Sonne sah ihn schon am Werktisch sitzen, der dicht ans Fenster gerückt war. Und ehe er abends die grünbeschirmte Lampe entzündete, wanderte er in der Dämmerung zur Wartburg. Sie war ihm symbolisch. Vorwärts und hinauf! war seine Losung. Es hatte einige Tage hindurch geschneit, und der Mond beleuchtete seinen einsamen Weg. Er wußte nicht zu sagen, was schöner sei, die stark duftenden Tannen in der Sommersonne, der herbe Erdgeruch des Thüringer Waldes im Herbst oder diese winterlichen Gänge im mondbeschienenen Schnee. Er turnte, er machte Atemgymnastik, atmete sich »den Feind aus der Brust«, der von dem anhaltenden Sitzen sich eingeschlichen hatte. Er rieb sich Gesicht, Brust, Arme, Füße und Hände mit Schnee und lief dann im Dauerlauf wieder den Berg hinunter, bis er »buddelwarm«, wie der Thüringer sagt, im schönen, festgefügten Uhrmacherhause landete. Beinahe immer schweißbedeckt. Nach rascher Abreibung und Wechseln der Wäsche und Kleidung saß er dann wieder am Arbeitstisch, das Eintopfgericht schmeckte köstlich zu dem Glase Buttermilch, und eine Scheibe des duftenden, echten Thüringer Schwarzbrotes machte den Beschluß der leckeren Mahlzeit. Dann wurde rasch das Geschirr vom Nebentisch herausgeschafft, wobei er ritterlich der Base half. Der Arbeitstisch war unberührt geblieben, er konnte sich sofort wieder heransetzen. Niemals aber vergaß er den Kopf zu neigen: »Mit Gott!«

Es war drei Tage vor Weihnachten. Illo hatte mit halb freudigem, halb bangem Herzen eine Kiste für die Lieben daheim gepackt und besonders die Mutter reich bedacht. Sein Englein bekam eine Armbanduhr, zu der der Großvater alle teuren Zutaten, er selbst seiner Hände Arbeit schenkte. Von dem Fürsten als Besteller einer Kuckucksuhr hatte er auch eine wahrhaft fürstliche Entschädigung erhalten, wie auch Kaspar Gärisch von »seinen Kunden« reich belohnt worden war. So konnte Illo nach seinen einfachen Begriffen »schwelgen« im Wohltun und auch außer Bruder und Schwägerin wie der sorgenden Tante Hermine die treuen Hausangestellten und Insten der Burg und des Gutes mit Geldgeschenken erfreuen. Wenn er heimkam! Das war noch sein banger Zweifel, und deshalb stand die Kiste gepackt, um erst einmal durch die Post und den Landbriefträger befördert zu werden. – Weihnachten auf der Burg! Weihnachten mit dem Englein zusammen! Es war nicht auszudenken und wollte doch ausgedacht werden in besinnlichen Stunden, die voll Heimweh waren.


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