Wilhelm Heinrich Riehl
Ein ganzer Mann
Wilhelm Heinrich Riehl

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Zweites Kapitel.

Widerspruch überall.

Wir finden Hermine Aweling im Hause ihrer Freundin.

Sie reiste am nächsten Tage nicht wieder ab und auch nicht am übernächsten. – Das kam so: –

Nachdem die erste Freude des Wiedersehens, der erste Sturm der Begrüßung und des Austausches zwischen den beiden Freundinnen verrauscht war, erklärte Hermine hocherregt, daß sie mit dem Willkomm zugleich den Abschied verbinde; denn sie müsse alsbald wieder fort, hinaus ins Feld, wohin sie das begeisternde Gebot der Pflicht rufe. Höchst phantasiereich schilderte sie dann, wie sie sich in freier That und auf eigene Faust zur Armee begeben wolle, um vergessene Verwundete vom Schlachtfeld aufzulesen, Verschmachtende zu erquicken, Sterbende zu trösten, noch ehe der Pulverdampf sich verzogen habe. Als gute Reiterin werde sie den Märschen folgen: – wie viele Samariterdienste gebe es da für eine weibliche Hand! Sie habe persönliche Verbindungen mit Prinzen und Generalen, man werde sie nicht zurückweisen.

Amalie hörte gelassen zu, durchschnitt dann aber aufs grausamste den romantischen Plan ihrer Freundin, indem sie ihr ebenso ruhig als klar darlegte, daß man einzelne Damen nicht so ohne weiteres auf den Schlachtfeldern herumschweifen lasse als berittene Samariterinnen, und daß ihr ganzes großherziges Vorhaben unausführbar sei. Wolle sie draußen den Verwundeten helfen, dann müsse sie sich etwa den Diakonissinnen oder ähnlichen Vereinen angliedern, welche unter militärischer Oberaufsicht zum Kriegsschauplatz zögen. Da müsse sie sich unterordnen und von unten herauf alle die entsagungsvollsten Dienste leisten, bevor sie noch irgend einen Pulverdampf gesehen habe. Aber auch hier würde man sie nicht aufnehmen, außer sie habe vorher die notdürftige Vorkenntnis zur Behandlung der Verwundeten gewonnen. Es sei ein Schnellkurs für Verbandlehre in hiesiger Stadt im Gange auf Betreiben des Herrn Saß. Unter vierzehn Tagen könne sie den Kurs nicht durchmachen. Dies Alles passe nicht für ihre Art. Barmherzig wie Wenige sei sie doch nicht zur »barmherzigen Schwester« geboren. Sie könne dagegen ihrem patriotischen Eifer das volle Genüge thun und der guten Sache die besten Dienste leisten mit ihrem Verstand, ihrer Thatkraft, ihren Mitteln, wenn sie hier am Orte bleibe.

Hierauf schilderte Amalie, was Alles in Frankenfeld zur Zeit schon im Gange sei, damit auch die Männer und Frauen zu Hause segensreich wirken könnten für den großen Kampf.

Es hatte sich ein Hilfsverein gebildet, angeregt und eingerichtet durch Herrn Saß. Der Verein teilte sich in zwei Ausschüsse, einen männlichen und weiblichen.

Fünfzig Damen des letzteren Ausschusses kamen täglich im Ballsaale der Concordia zusammen, wo Massen von Leinwand und andern Stoffen aufgehäuft lagen. Mit Bienenfleiß wurde dort vom Morgen bis zum Abend zugeschnitten und genäht; Verbandzeug, Charpie, Leibwäsche und andere Kleidungsstücke wurden verfertigt, von denen ganze Ballen zur Armee gingen. An jedem Tag, der eine Siegesnachricht gebracht, spendeten ungenannte Wohlthäter den fünfzig Damen zum Feierabend eine große Schokolade mit Backwerk. Amalie von Rohda leitete das Ganze.

Als Hermine dies hörte, erklärte sie, daß auch sie beitreten und mitschneidern wolle, – besann sich aber dann wieder, schlug sich mit der Hand vor die Stirn und rief: »doch nein! – wie thöricht! – ich werde ja morgen abreisen.«

Der männliche Ausschuß hatte seinen ständigen Sitz auf dem Bahnhofe, wo die einlaufenden Militärzüge, später die Züge der Verwundeten und Gefangenen mit Speis' und Trank und andern nützlichen Gaben reichlich bedacht wurden. Auch Frauen wirkten hier mit, wenngleich in kleinerer Zahl.

Als Hermine dies hörte, erklärte sie, auch hier helfen zu wollen, hielt aber inne und rief: »Doch nein! – ich vergaß wieder, daß ich morgen abreisen werde,« und fragte, wer denn den Männerausschuß leite? Die Antwort lautete: »Alfred Saß.«

Man war eben damit beschäftigt, ein Spital für die zu erwartenden Verwundeten einzurichten und hatte die große Halle des Kornhauses hierzu bestimmt, eines mittelalterlichen Gebäudes in enger Gasse. Saß war gegen diesen lichtarmen, weiten aber niederen Raum; allein er wurde überstimmt.

»Und doch hatte er recht!« rief Hermine, als sie dies vernahm. »Ich kenne das Kornhaus: es wäre eine Schande, wenn die armen Verwundeten dort hineingepfercht würden. Ich werde Alles aufbieten, zweckmäßigere Räume zu gewinnen, – sofern ich nicht morgen abreise.«

Für die zurückgebliebenen Frauen und Kinder der ausgerückten ärmeren Soldaten wurde Geld gesammelt und lohnende Arbeit gesucht.

»Wer hat denn diesen humanen Gedanken angeregt?« fragte Hermine.

»Alfred Saß,« antwortete Amalie.

»Ich werde mit meinem Beitrag nicht kargen, selbst wenn ich abreisen sollte,« bemerkte die Freundin.

Die Stadt Frankenfeld hatte sich mit dem benachbarten Groß-Runenstein in Verbindung gesetzt, der dortige Hilfsverein dem Frankenfelder sich angeschlossen. Dies zu erreichen, war die schwerste Arbeit gewesen; dennoch gelang sie dem Eifer und der Klugheit von Alfred Saß.

So brachte der Krieg Frieden, hier wie anderswo.

Hermine erstaunte, als sie immer und immer wieder Herrn Saß nennen hörte. »Dieser Mann thut ja Alles! Er scheint Haupt und Führer der ganzen Stadt zu sein. Wo bleibt denn der Bürgermeister?«

»Er repräsentiert!« antwortete Amalie. »Saß wußte ihn und andere Spitzen der Gesellschaft klug zur Repräsentation vorzuschieben, damit er selbst die leitenden Fäden neidlos um so fester in der Hand halten kann.«

Der Bürgermeister war eine Schlafhaube. Er gehörte zu den guten Leuten, die am besten und fleißigsten arbeiten, wenn es eigentlich nichts zu thun gibt. Galt es aber, aus eigener Kraft sich zu rühren und wollte er die Schlafhaube abziehen, dann war es, als ob er auch den Kopf mit abgezogen habe.

Moriz von Schwind pflegte zu sagen: In Wien gibt es die allergescheitesten und die allerdümmsten Menschen. So gab es auch in Frankenfeld gescheite Leute genug, wie auch an dümmsten Menschen kein Mangel war; nur stand nicht immer der rechte Mann am rechten Fleck und die dümmsten wollten oft die gescheitesten sein. Das geht so in Wien und Berlin wie in Buxtehude, in Frankfurt wie in Frankenfeld.

Alfred Saß aber hatte sich gleich anfangs auf den rechten Fleck gestellt. Als beim Beginn des Krieges die ersten Truppenzüge durch Frankenfeld kamen, wetteiferte Jeglicher in glühender Teilnahme und unklarem Drängen, unsern Soldaten das Beste aus den Feldzug mitzugeben. Der Wirt zur Schwedischen Krone brachte acht Flaschen Cognac, die zollfrei nach Frankreich zurückgehen sollten, soweit sie nicht vorher ausgetrunken wurden; der Stadtpfarrer verteilte einen ganzen Stoß von Traktätlein; der Apotheker kam mit einem Kasten voll Dingen, welche der Mensch auf der Reise brauchen kann: Hirschtalg und Lakritze, Rhabarberpillen und Hoffmannsche Tropfen, englisches Pflaster und Opodeldok, Krebsaugen und Rheumatismusketten; Herr Chlodwig Stiefel, der Maler, spendete einen dicken Pack seines Reklamebildes, damit die Soldaten im schönen Frankreich doch auch ihr schönes Deutschland immer vor Augen hätten; der Stadtpoet, Assessor Hinterborn, ließ die halbe Auflage seiner soeben im Selbstverlag erschienenen »Geschichten aus Frankenfelds Vorzeit« herbeitragen, zur Feld- und Zeltlektüre in Mußestunden; Oberst Sickenwolf lachte über all das »Zeug«, wie er's nannte, und schickte zehn Kistchen Cigarren, denn diese, sprach er, sind dem Soldaten immer die liebste Liebesgabe, und selbst Kaspar Zuckmeyer brachte vier Paar wollene Socken, die er sich buchstäblich vom Leibe abgespart und abgezogen hatte.

Da trat Alfred Saß auf, bot diesem gutgemeinten planlosen Treiben Einhalt und veranlaßte jene Organisation der freiwilligen Hilfe, welche wir geschildert haben. Alles gedieh unter seinen Händen. Binnen vierzehn Tagen war er, vorher noch über die Achsel angesehen, der populärste Mann der Stadt geworden. Und dabei fand er, der früher Zeitlose, jetzt doch wieder Zeit zu all den neuen Nebengeschäften. Die großen Ereignisse gaben ihm Schwung und Kraft, sich zu vervielfältigen, wie sie die übrigen Bürger über sich selbst erhoben.

Dies Alles berichtete Amalie getreulich ihrer Freundin.

Nach langem Sinnen sprang diese plötzlich auf und rief wie verklärt: »Ich bleibe hier! – Du hattest recht, liebe Amalie: es ziemt mir nicht, daß ich im Felde auf Werke der Barmherzigkeit abenteuern gehe. Hier kann ich weit nützlicher sein. Zwei Gedanken erfüllen, zwei große Vorsätze bewegen mich. Die Verwundeten dürfen nicht in die dumpfe Halle des garstigen Kornhauses, ich will ihnen das gesundeste, reizendste Asyl schaffen. Und dann: – nicht bloß für die zurückgebliebenen Angehörigen unserer Krieger ist löbliche Fürsorge zu treffen; Tausende anderer fleißiger Leute beginnen bereits arbeitslos und brotlos zu werden in diesen Tagen, wo so viele Geschäfte stocken; ihre Not wird wachsen, je länger der Krieg dauert, und er wird lange dauern. Auch ihnen muß geholfen werden. Wie wenig kann ich Einzelne da thun! so will ich denn thun, so viel ich kann; ich werde all mein Sinnen, alle meine Kraft und meine Mittel darauf richten. Sind das nicht zwei herrliche Aufgaben? – Ich bleibe hier! Morgen ziehe ich in die ›Schwedische Krone‹ zu dauerndem Aufenthalt. Dort bin ich mitten in der Stadt, im Mittelpunkte meiner Thätigkeit.«

Amalie unterbrach sie und bestand darauf, daß Hermine bei ihr wohnen bleibe, so lange sie wolle; die Zimmer seien schon hergerichtet, sie möge ihr die Kränkung nicht anthun, ihr gastliches Dach zu verschmähen.

Hermine sprach lachend: »Was ist das für eine neue Welt in diesem Frankenfeld! Erst vor wenigen Stunden angekommen, habe ich schon ganz meinen freien Willen verloren. Es scheint, ich bin nur hier, damit Andere über mich verfügen, und doch habe ich bisher stets mit freiestem Willen souverän und oft nur allzu souverän über mich selbst verfügt. Jener Herr Saß schleppt mich gleich auf den Haderturm, den ich gar nicht zu besteigen vorhatte, er nötigt mich, die Fahne aufziehen zu helfen und dabei meine Handschuhe und mein Kleid zu verderben, du verbietest mir, ins Feldlager zu eilen, du lockst mich, in allerlei Vereine zu treten, während ich doch stets das Vereinswesen floh, du wehrst mir, in der ›Schwedischen Krone‹ abzusteigen, unvermerkt setzest du mir die Pläne neuer großer Ausgaben in den Kopf, an welche ich vor einer Stunde noch gar nicht dachte –«

Amalie ließ sie nicht ausreden; sie faßte die Freundin am Arme und führte die murrend aber wie willenlos Folgende in die stattlichen Gemächer, welche sie für ihren Aufenthalt bestimmt hatte. Es war ein Empfangs- und Arbeitszimmer, ein Schlafzimmer und eine große Stube für die Kammerjungfer.

Hermine sah sich staunend um und sprach kein Wort; sie schritt rasch durch das Empfangszimmer und blieb erst im Schlafzimmer vor dem Bette stehen, welches in der That der Betrachtung würdig erschien. Es war ein Himmelbett von riesiger Breite; drei Schläfer hätten darin nebeneinander Platz gehabt.

Amalie deutete auf die Vorderseite der Bettlade, wo man ein reich in Holz geschnitztes Wappen erblickte mit der Schrift: Hans Jörg von Espenau, 1512, und sprach: »Das Geschlecht Derer von Espenau ist dreißig Jahre später ausgestorben. Dieses Bett ist das bequemste, welches ich besitze; es gewährt seinem Bewohner den freiesten Spielraum, – die größte Willensfreiheit« – fügte sie etwas spöttisch hinzu. »Man kann sich nach Belieben längs oder quer hineinlegen.«

»Und in diesem ungeheuern Bette soll ich schlafen?« rief Hermine. »Das ist ja entsetzlich! Das Geschlecht Derer von Espenau, dessen letzter Restbestand vermutlich in diesem Bette ausgestorben ist, würde mir im Wachen und im Traume erscheinen. Altertümer betrachte ich gern, bewundere sie wohl auch, aber ich verabscheue sie zum täglichen Gebrauche. Die Erinnerung des Todes klebt an allen. Wenn ich deinen ganzen Hausrat betrachte, so frage ich bei jedem Stück: Wer lebt noch von denen, für welche diese Tische, Stühle, Spiegel, Kannen, Gläser einst gemacht wurden, und die sich an ihnen erfreuten? – Keiner! – Ich will nicht stündlich ans Sterben erinnert sein, wenn ich mich in einem Spiegel sehe oder auf einen Stuhl setze. Und wäre dieses Erinnern noch erhebend! Nein! es ist kläglich niederdrückend. Gute, schöne, reichbegabte Menschen, welche diese Gegenstände besaßen, gingen dahin – wir wissen zumeist nicht einmal, wie sie hießen –, sie sind versunken, verschollen, und dieser eitle Trödelkram, der sie umgab, blieb erhalten durch Jahrhunderte. Welche Demütigung für uns! Ich ärgere mich über die Jahrhunderte und fürchte mich vor ihnen, ich will von dem Gespenst der Jahrhunderte nicht verfolgt sein in den traulichsten Stunden meines Heims, meiner Einsamkeit. Teuere Freundin! Beherberge mich in dem bescheidensten Stübchen deines Hauses, wenn es nur nicht derart ausgestattet ist, daß mich jeder Blick an die jammervolle Vergänglichkeit eines Menschendaseins gemahnt.«

Amalie gestand, halb beschämt, halb ärgerlich, daß nur ein einziger solcher Raum vorhanden sei, denn es sei der Stolz ihres Bruders gewesen, jedes bessere Zimmer nur mit echten alten Geräten auszustatten. Jener einzige Raum sei eben ein Dienstbotenzimmer gleich hier nebenan, und sie habe die Stube Herminens Jungfer zugedacht, obgleich die Möblierung etwas zu gering für dieselbe sei, allein es liege so bequem neben den Gemächern der Herrin.

Hermine drang sofort hinein und entdeckte mit Entzücken, daß der helle Raum zwar etwas altmodisch ausgestattet sei, aber doch durchaus mit Hausrat des neunzehnten Jahrhunderts: – ein viereckiger, vierbeiniger Tisch von Tannenholz, mit Oelfarbe angestrichen, Schränke gleicher Art, Strohstühle, ein Sofa, welches einer langen, schmalen Bank bedenklich ähnlich sah, mit Sitz von Rohrgeflecht und eine eiserne Bettstatt.

»Die Bettstelle ist das neueste Möbel im ganzen Hause; mein Bruder ließ sie erst vor fünfunddreißig Jahren anfertigen,« bemerkte Amalie.

»Und die Aussicht ist entzückend!« fügte Hermine hinzu, das Fenster öffnend. »Welch herrlicher Blick auf die Büsche und Bäume und Wiesen des Parks! – göttlich frische Luft! – Vogelgesang! – blauer Himmel! Alles Leben, Freiheit, Gegenwart! – hier will ich wohnen, liebe Amalie, wenn es deine Güte gestattet.«

Amalie wollte dies aber durchaus nicht zugeben. Doch Hermine wurde ernstlich erzürnt. »Man widerspricht mir fortwährend in diesem völlig verwandelten, verhexten Frankenfeld! man verfügt über mich, als ob ich ein Kind sei! Jetzt beharre ich aber auch einmal auf meinem Willen: entweder ich wohne hier in dieser Stube, oder ich gehe in die Schwedische Krone.«

Die Freundin mußte sich fügen und fragte nur etwas schüchtern, wo denn die Kammerjungfer wohnen solle?

»Sie mag das mir zugedachte Schlafzimmer beziehen und im Bette Derer von Espenau schlafen. Käthchen ist ganz Verstandeskind und frei von jeglicher Romantik. Du kannst sie in das Bett legen, in welchem Karl der Große gestorben ist, und sie wird darin schlafen wie ein Sack und die ganze Nacht schnarchen, was sie leider stets zu thun pflegt. Das Empfangszimmer aber mit all seiner altertümlichen Pracht will ich behalten. Es gehört, glaube ich, ins 17. Jahrhundert, und wann mich die Leute besuchen, dann dürfen sie immerhin daran erinnert werden, wie vergänglich das heilige Römische Reich deutscher Nation gewesen ist, da wir mit Macht einem besseren Deutschen Reiche entgegenstreben.«


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