Wilhelm Heinrich Riehl
Ein ganzer Mann
Wilhelm Heinrich Riehl

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Siebentes Kapitel.

Der Ewige Jude.

Sie fanden sich aber nicht.

Der Ratsdiener Kaspar Zuckmeyer war sehr neugierig. Er war gestern abend nach dem Weggang des Bürgermeisters unbemerkt zurückgekehrt und hatte das ganze Gespräch zwischen Saß und Amalien belauscht. Die Mitteilungen über Hermine Aweling interessierten ihn lebhaft, aber weit mehr noch hätte er zu erfahren gewünscht, welche geheimnisvolle Notizen denn eigentlich in Amaliens Tagebuch des Museums stünden.

Als sich die Beiden entfernt hatten, schlich er aus seinem Verstecke hervor und nahm das Schriftstück von der Folterbank, die mit einigen andern Marterwerkzeugen in der hintersten Ecke stand. Saß hatte es in Gedanken dorthin gelegt neben einen Bündel merkwürdiger Kriminalakten.

Zuckmeyer durchblätterte Amaliens Aufzeichnungen, fand aber nichts Besonderes und wollte die Papiere eben wieder liegen lassen, da entdeckte er beim letzten Blick seinen eigenen Namen in denselben.

Erstaunt trat er ans Fenster und las mühselig im Dämmerscheine:

»Faszikel II, Kriminalakten, enthält:

1. Geschäftstagebuch des Nürnberger Scharfrichters Wenzel Wolf, 1727, mit Angabe der wegen übermäßiger Konkurrenz herabgesetzten Preise für Köpfen, Hängen, Foltern, Handabhauen und Ohrenabschneiden. 2. Protokoll eines Hexenprozesses von 1650. 3. Untersuchung gegen Levi Meyer, alias Zuckmeyer, den Ewigen Juden, später genannt Christian Gottlieb Zuckmeyer aus Oppenheim 1734.«

Zu vorstehender Inhaltsangabe hatte Amalie noch geschrieben: »Dieser Christian Gottlieb Zuckmeyer, welcher in seinen letzten Lebensjahren nach Frankenfeld übersiedelte, ist laut Ausweis unserer Kirchenbücher der Ururgroßvater des heute noch lebenden Ratsdieners Kaspar Zuckmeyer.«

Unser Kaspar ließ entsetzt die Blätter fallen, als er diese historische Glosse las. Es hatte sich in seiner Familie die dunkle Kunde erhalten, daß auf der Abkunft der Zuckmeyer ein Geheimnis ruhe, daß einer ihrer Urahnen etwas ganz Besonderes gewesen sei – Frankenfeld war ja überhaupt ein Sammelplatz geheimnisvoller und sonderbarer Existenzen. Der Ratsdiener hatte sich zuletzt eingebildet, von einem sehr hohen Vorfahren abzustammen, etwa von dem Ritter und Edeln von Zuckmeyer, – und nun verwandelte sich der adelige Herr in den »Ewigen Juden«!

Kaspar, der noch vor wenigen Minuten drei Gulden darum gegeben hätte, von dem geheimnisvollen Ahnherrn etwas Näheres zu erfahren, würde jetzt sechs Gulden darum gegeben haben, wenn er dieses Nähere niemals erfahren hätte.

Er mußte der Sache auf den Grund sehen. Darum steckte er die Aufzeichnungen Amaliens in seine große Rocktasche, nahm den Untersuchungsakt gegen Levi Meyer aus dem Faszikel, dessen Rest er sorgfältig wieder verschnürte, und eilte mit den beiden verräterischen Papieren nach Hause.

Es war also kein Wunder, daß Saß am andern Morgen das Schriftstück Amaliens nirgends finden konnte.

Während er bis Mitternacht darüber gebrütet hatte, ob er seine beiden Briefe an Hermine abschicken solle oder nicht, brütete der Ratsdiener in seiner Turmstube noch viel länger über der Untersuchung gegen seinen geheimnisvollen Ahnherrn.

Die Protokolle waren sehr umfangreich, flüchtig in veralteter Handschrift und mit verblaßter Tinte geschrieben. Allein das brennende Interesse an der Sache verlieh Kaspar Scharfblick und Geduld und ersetzte die ihm mangelnde Archivschule im Urkundenlesen. Brachte er auch Vieles verkehrt heraus und Anderes gar nicht, so gelang es ihm doch zuletzt, ein ziemlich getreues Bild von der Person seines Ahnherrn zu gewinnen und einen leidlichen Einblick in den Handel, welchen derselbe mit dem peinlichen Gericht gehabt hatte.

Verschnaufte Kaspar auf Augenblicke von dem mühseligen Lesen, dann nahm er die düster brennende Oellampe, trat vor den Spiegel und betrachtete sich in demselben, was er sonst sehr selten zu thun pflegte. Er wollte nämlich wissen, ob er dem Steckbrief seines geheimnisvollen Vorfahren ähnlich sehe und ob seine Züge am Ende gar ebenso verräterisch seien wie die verdammten Akten. Die Nase war allerdings stark gekrümmt, die schwarzen Augenbrauen auf der Nasenwurzel zusammengewachsen (was man ein »Räzel« zu nennen pflegt), und die Ohren standen bedenklich weit ab. Im Uebrigen jedoch war Gesicht und Gestalt entschieden verchristlicht, wie es ja infolge der christlichen Vorfahren mütterlicherseits seit mehr als hundert Jahren nicht anders hatte geschehen können.

Als Kaspar um zwei Uhr seine Lampe löschte und sich endlich schlafen legte, hatte er über den entsetzlichen Levi oder Christian im wesentlichen folgendes entziffert.

Levi Meyer aus Oppenheim war seit seinen jungen Tagen ein wandernder Trödeljude gewesen. Als er aber zu Jahren kam, ging das Geschäft so schlecht, daß er hätte verhungern müssen, wenn er sich nicht statt des Handels auf den Bettel gelegt hätte, und dies gelang ihm um so leichter, weil sein Handel auch früher schon nur allzu oft ein Bettel gewesen war. Der neue Beruf aber lohnte sich so schlecht wie der alte.

Da hörte Levi, daß man da und dort in deutschen Landen neuerdings den Ewigen Juden Ahasver gesehen habe, jenen Schuster aus Jerusalem, an dessen Haus der Heiland auf dem Weg nach Golgatha sich angelehnt hatte, um auszuruhen. Aber Ahasver stieß den Heiland hinweg, worauf dieser sprach: »Ich will stehen und ruhen, du aber sollst gehen.« Und so muß der Ewige Jude wandern bis zum jüngsten Tag.

Die deutschen Bauern sprachen aber mit Entsetzen und doch oft auch mit Mitleid von dem elenden Menschen, der nicht sterben könne und immer wandern müsse. Viele wollten ihn vor kurzem in Thüringen gesehen haben, und doch hatte ihn Keiner genau gesehen, ganz wie bei einem richtigen Gespenst.

Levi Meyer war ein pfiffiger Kopf. Er beschloß dem Gespenste Fleisch und Bein zu geben und als der wahrhaftige Ewige Jude den dummen Bauern zu erscheinen. Mit Gewißheit hoffte er die reichen Früchte ihres Mitleids in seinen Schnappsack zu schieben und doch gesichert zu sein durch ihr Entsetzen.

Also zog er aus den heimischen Rheingegenden, wo er bisher sein fahrendes Leben geführt hatte und nur allzubekannt war, nach Schwaben und Bayern, wo er noch nie gewesen, und spielte meisterlich Ahasver, den Ewigen Juden. Er hüllte sich in den alten Kaftan eines polnischen Glaubensgenossen und wand sich eine Art Turban um den Kopf. Ein bereits ergrauender großer Bart und seine langen Haare, die bis zu den Schultern niederfielen, kamen ihm dabei trefflich zu statten und mehr noch ein angeborenes Nervenzucken, welches von Zeit zu Zeit seine Gesichtsmuskeln erschreckend verzerrte, so daß man ihn schon in seiner Kindheit den »Zuckmeyer« genannt hatte.

Es erging ihm anfangs schlecht. In Geislingen wollten ihn die Bauern totprügeln, um zu probieren, ob er wirklich nicht sterben könne. In Bopfingen brachte ihm ein Krämer seine zerrissenen Schuhe zum flicken. Ahasver erklärte, daß er seit 1700 Jahren das Schusterhandwerk nicht mehr getrieben und also verlernt habe. Der gescheite Schwabe aber fragte ihn dann, woher es komme, daß er, obgleich schon über 1700 Jahre alt, doch noch immer aussehe wie ein Fünfziger, worauf der Zuckmeyer unter grauenhaften Gesichtsverzerrungen stöhnend ausrief, dies sei ja gerade sein Fluch, daß er unverändert immer derselbe bleibe, wie an dem unseligen Tage, wo er den Heiland hinweggestoßen habe. Der Bopfinger aber rief: »Jetzt habe ich dich gefangen! Bist du ganz derselbe wie damals, so mußt du auch noch Schuhe flicken können wie damals, und wenn du das nicht mehr kannst, so bist du gar nicht der richtige Ewige Jude!« und erregte einen solchen Lärm im Städtchen, daß man den armen Teufel beinahe gesteinigt hätte.

Anderswo flohen die Leute aus der grauseligen Nähe des Mannes, der sich so schwer an unserm Herrn Christus vergangen hatte, und er mußte hungernd weiterziehen.

Doch das waren nur unangenehme Ausnahmen. In der Regel erreichte Levi seinen Zweck, besonders, nachdem er durch Mißgeschick gewitzigt, die rechten Leute aufzusuchen und die unrechten zu fliehen gelernt hatte.

Er mied die Städte und großen Dörfer und sprach mit Vorliebe in vereinzelten Gehöften und Weilern ein. Am erwünschtesten war es ihm, wenn die Männer im Feld und die alten Weiber allein zu Hause waren.

Da schilderte er ihnen dann höchst ausführlich, wie es auf dem Wege nach Golgatha zugegangen; den Simon von Kyrene, der Christi Kreuz trug, malte er so getreu, daß er greifbar vor den Hörern stand. Christi Namen sprach er niemals aus; er nannte ihn nur den großen Wundermann, dessen Gesicht so leuchtend gewesen, daß er's gar nicht beschreiben könne und dessen an den klagenden Haufen Volks und die weinenden Weiber gerichteten Worte auch ihm selber so tief ins Herz geschnitten hätten, daß er schon andern Tags sich inwendig getauft gefühlt habe, – obgleich er doch äußerlich ewig ein Jude bleiben müsse. Und gerade dies sei sein rastlos nagender größter Schmerz, entsetzlicher noch als daß er ewig wandern müsse und nicht sterben könne: – er dürfe den großen Wundermann nicht nennen noch bekennen, obgleich er doch im Geiste zu ihm bekehrt sei.

Diese Rede weckte bei Vielen das tiefste Mitleid, zumal sie stets von grimmigem Gesichterschneiden begleitet war, und trug dem Reumütigen manche Wurst und manchen baren Weißpfennig ein.

In Pfersee bei Augsburg aber trat ein neidischer Geschäftsfeind, der früher häufig seine Handels- und Bettelfahrten gekreuzt hatte, als er eben seine Hörerschaft zur werkthätigsten Rührung bewegte, vor ihn und rief: »Das ist ja der Levi Zuckmeyer von Oppenheim! Unter Tausenden wollt' ich ihn erkennen. Ihr guten Leute! laßt euch doch keine Massematten vormachen von dem alten Landstreicher!«

Da wandte sich der volle Zorn der Getäuschten gegen ihn, daß sie ihn fast zerrissen hätten. Der Büttel aber trat dazwischen und befreite den Ewigen Juden aus den Händen der Bauern, um ihn ins Gefängnis nach Augsburg abzuliefern.

Dort wurde dem Zuckmeyer ein langer Prozeß gemacht; denn weil aus dem Hennebergischen die Nachricht zu Gerichtshanden gekommen war, daß auch da ein anderer Ewiger Jude sein Wesen getrieben habe und erwischt worden sei, so wollte man die Sache gründlich behandeln, damit der neue Nahrungszweig nicht allzusehr Wurzel fasse im römischen Reiche.

Unserm Ewigen Juden wäre es schlimm ergangen und man hätte ihn wohl gar gehängt, da er öfters nützliche Dinge auf eigene Faust mitgenommen hatte, welche ihm böse Menschen nicht geben wollten. Allein jener gescheiteste Einfall, womit er so manchmal die Herzen der Bauern gerührt hatte, rührte – neu gewendet – auch die Herzen der Richter.

Er behauptete, längst im Geiste ein Christ geworden zu sein, dem nur noch das öffentliche Bekenntnis fehle. Denn indem er so oft die Geschichte vom Ewigen Juden erzählt habe, ohne sie anfangs selber zu verstehn, sei er allmählich durch die Fragen, Einwürfe und Zusätze bibelfester Leute zu immer klarerer Erkenntnis des Kreuzwegs des Heilands und seiner Erlösungsleiden gekommen, und die leuchtende Gestalt des Herren sei ihm zuletzt gleichsam persönlich erschienen. Hiermit sei auch seiner ganzen Seele ein neues Licht aufgegangen, und wenn er zuerst nur geheuchelt habe, daß er innerlich ein Christ sei und zur schwersten Buße äußerlich ein Jude bleiben müsse, so sei die Heuchelei zuletzt wahrhaftiger Glaube geworden; er sei bekehrt durch Christi Gnade und begehre nur noch, daß man ihn taufen möge. Nachher solle man ihn dann in Gottes Namen hängen: seine Seele werde doch gerettet sein.

Die Richter glaubten zuletzt, es sei ein wirkliches Wunder an dem Zuckmeyer geschehen – eine Bekehrung ohne allen geistlichen Zuspruch! Und so war es denn andererseits kein Wunder, daß sie Gnade für Recht ergehen ließen. Levi Meyer wurde getauft, zwei der angesehensten Patrizier standen Gevatter und die lange Untersuchungshaft wurde ihm als überstandene Strafe angerechnet.

Der neue Christian Gottlieb wollte zu diesen frommen Taufnamen den Familiennamen Rosenduft annehmen; allein durch den Prozeß, der ungeheures Aufsehn erregte, stand der Name Zuckmeyer so fest in Aller Munde, daß er sich für den Getauften wie für seine Nachkommen behauptete.

Die beiden Paten und andere gute Leute aber beschenkten ihn so reichlich, daß er nach Frankenfeld übersiedeln konnte, wo man von seiner Vergangenheit nichts wußte, und dort einen kleinen Kramladen anlegte und ein ordentliches Leben führte bis an sein seliges Ende.

Nachdem sich der Ratsdiener diese Geschichte seines Ahnherrn aus dem Aktenwuste mühsam genug zusammenbuchstabiert hatte, legte er sich, wie wir bereits hörten, zu Bette. Schlafen konnte er freilich nicht. Unablässig quälte ihn die Frage, was er thun solle, damit das Geheimnis, welches über der Person seines Ururgroßvaters ruhte, auch weiterhin geheim bleibe und Niemand erfahre, welch »ganz besonderer Mensch« derselbe gewesen sei.

Kaspar war stolz auf das Amt eines Ratsdieners, zu welchem er sich mühsam emporgearbeitet, er wußte die Autorität desselben gegen geringe Leute, insbesondere gegen Bettler und Vagabunden sehr kräftig zu handhaben, und nun stammte er selbst von einem bettelnden Vagabunden ab. Er sah das künftige Ansehen seiner Familie noch zehnfach gesteigert durch seinen heranwachsenden einzigen Sohn, welcher Pfarrer werden sollte und den er mit schweren Opfern bereits bis zur obersten Klasse des Gymnasiums gebracht hatte; er sah den begabten Sohn im Geiste bereits als Stadtpfarrer von Frankenfeld, und der Stadtpfarrer sollte vom Ewigen Juden abstammen! Das war unmöglich.

Also mußte der Ewige Jude aus der Welt geschafft werden.

Höchst wahrscheinlich wußte bis jetzt nur Fräulein von Rohda von demselben, und ihr Verzeichnis mit den bösen Randnoten war der Hauptverräter. So manches Papier wird verlegt und nicht wiedergefunden. Amaliens Aufzeichnungen durften nicht wiedergefunden werden. Deß war man am sichersten, wenn man sie verbrannte.

Doch dies nützte nur wenig, solange die Untersuchungsakten blieben. Und im neuen Museum wurden sie am Ende gar öffentlich aufgelegt zur Ergötzung von ganz Frankenfeld. Auch sie mußten verschwinden. Dies geschah wiederum am sichersten, wenn man sie verbrannte. Der Faszikel mit den Kriminalakten war nur als Ganzes inventarisiert worden; der Akt gegen Levi Meyer war die letzte Nummer: kein Mensch merkte, wenn sie fehlte.

Doch Fräulein von Rohda würde es merken. Da Kaspar das Fräulein nicht gleichfalls verbrennen konnte, so mußte sie fortan wenigstens von den Altertümern ferngehalten, sie mußte Herrn Saß völlig entfremdet werden, mit dem sie ohnedies bisher ja gar nicht verkehrt hatte. Kaspar Zuckmeyer sann einen sehr feinen Plan aus, wie er dies durchführen könne.

Und als er in der ersten Morgenfrühe nach qualvoll schlafloser Nacht sich wieder vom Bette erhob, warf er, statt des Morgensegens, den er ganz vergaß, die beiden Schriftstücke in den Ofen und zündete sie an.

Die dicken Akten erfüllten die ganze Stube mit Rauch, und Kaspar ließ sich geduldig räuchern. Sein böses Gewissen verbot ihm eine halbe Stunde lang das Fenster zu öffnen; denn er fürchtete, der Rauch möchte draußen zum Verräter werden.


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