Wilhelm Heinrich Riehl
Ein ganzer Mann
Wilhelm Heinrich Riehl

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Fünftes Kapitel.

Die Uebernahme.

Am 10. Oktober punkt acht Uhr vormittags hatte sich Alfred Saß mit dem Bürgermeister, dem Ratschreiber und dem Ratsdiener im Rohdaschen Hause eingefunden, um von Fräulein Amalie die Sammlungen ihres verstorbenen Bruders zu übernehmen. Trotz raschester Arbeit brauchte man dazu doch zwei Tage.

Die Uebernahme und Auszeichnung von tausend Gegenständen verschiedenster Art ist gewiß ein trockenes und auf die Dauer langweiliges Geschäft. Aber Alfred Saß war ein Gefühlsmensch, welchen die Phantasie fortwährend über die nüchterne Gegenwart hinwegtrug. Solchen Menschen bietet die Außenwelt nichts Langweiliges, solange sie sich selber haben.

Gehobenen Sinnen hatte er in der Morgenfrühe den kurzen Weg von seinem Hause zu dem Rohdaschen Besitztume zurückgelegt, glücklich in dem Gedanken, daß er jetzt für volle zwei Tage nur eine einzige Aufgabe habe. Er kam sich heute vor wie ein Schuljunge am ersten Ferientage, freilich ungleich jenem, nicht weil er heute und morgen nichts, sondern weil er wohl viel, aber nur einerlei zu thun hatte und mit gutem Gewissen alles übrige vergessen durfte.

Dazu entzückte ihn der Friede des Weges. Nachdem er die nächste kurze Straße durchschritten hatte, kam er ins Freie, in eine stattliche Allee alter Linden, deren herbstliche Belaubung so wonnig wehmütig zum Gemüte sprach. Es ist ein unschätzbarer Vorzug kleiner Städte, daß man nach allen Seiten so geschwind wieder hinauskommt. Während wir in der Großstadt ein Häusermeer durchschreiten müssen, um zuletzt, scheinbar in die freie Natur gelangt, doch immer wieder ungezählten Menschen zu begegnen und also doch nicht finden, wonach sich unser Herz sehnt – Stille und Einsamkeit –, fand Saß beides schon nach wenigen Schritten, und er verglich diese tiefe Ruhe ringsum mit dem sinnverwirrenden Getümmel vor den Thoren der Großstadt und war glücklich über die beneidenswerten Vorzüge seines Frankenfeld.

In dem dicht verwachsenen Parke angelangt, welcher das Rohdasche Hans umgab, fand Saß dort bereits die drei Männer vom Rate auf der Steinbank unter der großen Eiche, nahe dem Portal mit dem historischen Thürklopfer, aus welchem das Haus erwachsen war.

Sie traten ein, wurden von Amalie freundlich begrüßt und machten sich sofort an die Arbeit, die nicht leicht war. Denn der verstorbene Besitzer hatte ja seine Altertümer zugleich als Hausrat benützt; systematisch geordnet waren sie also durchaus nicht; noch weniger war ein Katalog vorhanden.

Wenn Freunde dem Freiherrn geraten hatten, doch einen solchen anfertigen zu lassen, so antwortete er allemal: »Ich kenne jedes Stück so genau, daß ich's im Dunkeln finden kann; wozu bedarf ich da noch eines Katalogs?«

Man mußte jetzt also einen solchen in aller Geschwindigkeit verfassen und verfuhr dabei folgendergestalt: der Ratsdiener trug die Gegenstände zusammen, der Bürgermeister und Herr Saß »bestimmten« sie und diktierten ihre Angaben dem Ratschreiber, und der Ratsdiener klebte schließlich die Nummern auf. Amalie aber stand beiseite, die Niederschrift bestätigend, öfters kritisch berichtigend.

Denn es kam vor, daß der Bürgermeister einen schön geschnitzten Tabaksreiber aus dem siebzehnten Jahrhundert für ein gotisches Kirchengeräte hielt oder den elfenbeinernen Buckelkratzer einer vornehmen Dame aus dem achtzehnten für ein antikes Zepter.

Schade, daß Oberst Sickenwolf nicht zugegen war!

Es war reizend zu beobachten, wie bescheiden und anmutig Amalie, die Alles wußte und der einzige Kenner in der Gesellschaft war, ihre Berichtigungen einfließen ließ ohne den mindesten Schein eines lehrhaften und überlegenen Wesens. Und wenn dabei mitunter ein leises Lächeln ihren Mund umzog, so erschien sie nur um so liebenswürdiger.

Saß, der doch die Altertümer recht genau ins Auge fassen wollte, hatte bald nur noch ein Auge für Amalien.

Sie stand im Schatten, und das Zimmer war ohnedies etwas dunkel, so daß Gestalt und Züge nur dämmerig hervortraten. Zu ihrem Trauergewand gesellte sich tief schwarzes Haar, welches trotz ihrer fünfzig Jahre noch immer reiche Fülle zeigte. Das bleiche, magere Gesicht hob sich wunderbar anziehend von dieser Umrahmung.

Aber Saß sah nicht bloß dies geisterhafte Wesen, sondern ihr zur Seite zugleich die junonische Gestalt ihrer Freundin Hermine, hell beleuchtet wie von einem Rembrandtschen Lichtstrahl, der von oben in das dunkle Zimmer fiel, in farbenglänzendem und doch geschmackvoll feinem Kleide, das blühende, jugendfrische Antlitz von schneeweißen Locken umflossen.

Die Vision Herminens hatte volles Leben, und Amalie, die lebendig gegenwärtige, erschien wie eine Vision. Man konnte sich kein reizender verwirrendes Gegenspiel denken.

Da wurde Saß aus seinem wachen Traume durch das schallende Lachen der inventarisierenden Genossen aufgeweckt.

Der Ratsdiener hatte fünf altmodische Kopfbedeckungen herbeigebracht, deren seltsame Formen die Heiterkeit der Uebrigen erregten. An jedem Stück war ein Zettel mit Aufschrift befestigt. Kaspar Zuckmeyer las mit Stentorstimme: »Nordamerikanischer Freiheitshut, 1776; – Jakobinermütze, 1792; – Burschenschaftsbarett, 1817; – Hambacherhut, 1832; – Heckerhut, 1848!«

»Welche demagogische Narrenschädel mögen unter diesen Hüten und Mützen gesteckt haben!« rief der Bürgermeister.

Da trat Amalie einen Schritt vor und sagte sanft, doch entschieden: »Ich bitte wenigstens das schwarze Samtbarett, geschmückt mit dem Nachbild des Eisernen Kreuzes auszunehmen von Ihrer Bemerkung, Herr Bürgermeister. Mein seliger Bruder trug dieses Barett am 18. Oktober 1817 beim Wartburgsfeste. Damals als neunzehnjähriger Jüngling glühte er schon ebenso leidenschaftlich für deutschen Geist, deutsche Sitte, Deutschlands Macht und Ehre, wie später als Mann und Greis. Er mußte es eine Zeitlang bitter büßen, daß er an jenem Tage dem schwarzrotgoldenen Banner beim Zuge auf die Wartburg gefolgt war. Später übte er – still und verschlossen – eine werkthätige Vaterlandsliebe und sprach selten mehr ein politisches Wort. Aber wenn er ein solches sprach, dann sprühte Feuer aus seinen Augen, und der Macht seiner Rede konnten Wenige widerstehn.«

Alfred Saß sprang auf und ergriff Amaliens Hand und rief, das Barett mit der Linken emporhebend: »Fürwahr, dies ist eine heilige Reliquie! Ich stand ja Ihrem Bruder fern. Dennoch hat er mir einmal eine zornglühende politische Strafrede gehalten, nach welcher ich mich anfangs furchtbar ärgerte; hintendrein aber ärgerte ich mich über mich selbst und gab ihm recht und hätte ihn gern um seine Freundschaft gebeten. Allein der alte Herr ist immer unnahbar gewesen.

»Es war im Jahre 1857. Wir begegneten uns zufällig, das Gespräch kam auf vergangene Tage, auf die vormärzliche Zeit, und ich ergoß mich in einen Strom landläufiger Phrasen über die elenden deutschen Zustände von dazumal, und wie wir Deutsche so übermäßig demütig gewesen und uns vor dem Auslande gebeugt und gar nicht gewußt hätten, was für prächtige Kerle wir seien. Mit Einem Schlage sei das anders geworden in den achtundvierziger Märztagen.

»Da maß mich der alte Rohda mit großen Augen von oben herunter und fragte: ›Wie alt waren Sie, junger Herr, in der vormärzlichen Zeit?‹

»Ich erwiderte: ›Beim Beginn derselben war ich noch gar nicht auf der Welt und beim Schlusse derselben zählte ich vierzehn Jahre.‹

»›Nun gut!‹ rief der Alte. ›Wir glauben immer, unser Volk sei erst dann gescheit geworden, als wir selber gescheit zu werden anfingen. Und je mehr wir das Gute der jüngsten Vergangenheit herabdrücken und das Schlimme herausstreichen, für desto gescheiter halten wir uns. Hätten Sie die Julirevolution mit zweiundzwanzig Jahren erlebt und die Februarrevolution mit vierzig, dann würden Sie anders reden als vorhin. Dankbaren Sinnes würden Sie sich erinnern, wie stolz in jener, jetzt vielgeschmähten vormärzlichen Zeit die reifere deutsche Jugend auf den mählich aufkeimenden Freiheitsgeist unsres Volkes war, mochte sich derselbe in einem noch sehr jugendlichen parlamentarischen Leben aussprechen oder in einem schöngeistigen Schrifttum, welches verblümt und doch recht deutlich zu reden begann, als die politische Presse noch schweigen mußte. Wir seufzten unter dem Drucke einer schnüffelnden Polizei, die jedes freie Wort verfemte und hoben doch den Nacken stolz empor, weil wir wußten, daß die wahre Freiheit reiner von dem tiefgründigen deutschen Geiste erfaßt und zuletzt auch voller verwirklicht werde als von dem Flackergeiste der Franzosen trotz ihrer Revolution und ihres Bürgerkönigs. Wir hatten wohl auch unsern Spaß mit der Zensur: mit ihr ist eine große Quelle von Plackereien, aber auch ein reicher Born der Satire und des Witzes verloren gegangen. Das zeigt uns die Lektüre Heines und Börnes. Allein wir schwärmten nicht mit Beiden für die Franzosen, sondern mit Arndt und Jahn für das Deutschtum. Dafür nannte man uns Romantiker und wir ließen uns diesen Namen gern gefallen: die Jugend, welcher die Gegenwart gehört, ist immer romantisch. Ueber unsere Staatenlenker mußten wir klagen, als das Deutsche Reich, welches wir mit so viel teuerem Blute erkämpft zu haben glaubten, in die Bundesnacht des Bundestages versank; aber wir verzweifelten nicht an der Nation, die so dichterisch erhaben in unsern Jünglingstagen wieder erstanden war, daß wir sie auch in der Gegenwart nicht arm und klein denken konnten. Wir hatten den Krieg erlebt und freuten uns des Friedens. Das Alles war vormärzlich. So gar demütig, gedrückt und kleinlaut waren wir nicht, wie Sie meinen, junger Mann! Im Gegenteil: wir sind oft recht übermütig gewesen; wir unterschätzten die Franzosen und Engländer, weil wir sie viel zu wenig kannten und verstanden. Wir dachten, so sinnig und poesievoll in seinen Sitten sei doch kein anderes Volk gleich dem deutschen, wir priesen unsern altväterlich gediegenen Bauernstand und unser ehrsames Kleinbürgertum und lachten über den aufglimmenden Pariser Kommunismus und Sozialismus als eine wälsche Narrheit. Daß die Deutschen auf dem Weltmarkte des Handels und der Industrie zurückstanden gegen andere Völker, dünkte uns kein großes Unglück: standen sie dafür doch um so viel höher im Wettkampfe des Geistesschaffens! Wir hatten einen Kant und Fichte und Hegel, – wo waren in der Neuzeit auswärts solche Philosophen? einen Schiller und Goethe – konnten sich unsere Nachbarn seit hundert Jahren ebenbürtiger Dichter rühmen?, – besaßen sie Tonkünstler, die sich mit Haydn, Mozart und Beethoven messen durften? – oder einen Maler wie unsern Cornelius? So dachten wir damals. Studieren Sie die vormärzliche Zeit, junger Herr! bevor Sie abschätzig über dieselbe zu reden wagen. Wir sollen uns dankbar der Gegenwart freuen und hochhalten, was sie uns Herrliches bietet. Ist es aber dazu nötig, daß wir undankbar und ungerecht gegen unsere jüngste Vergangenheit sind, wie es jetzt Mode ist und vermutlich immer Mode war?‹«

Saß hielt inne.

»Sie haben die Gedanken meines Bruders wunderbar treu bewahrt und zwischendurch sogar den Wortlaut seiner Schlagsätze,« nahm Amalie das Wort nach langer Pause. »Die selbst erlebte Vergangenheit blieb dem Verklärten unmittelbare Gegenwart; darum war die Zeit, in welcher er weiterlebte, doch immer seine Zeit, die er liebte wie er der Vergangenheit gerecht wurde und auf die Zukunst hoffte. Niemals verzweifelte er an seinem Volke. Ihm war die ganze neuere Geschichte Deutschlands eine Geschichte der inneren Erhebung unseres Volkes trotz wiederholt hereingebrochenen äußeren Verfalls. Und die aus dem Innersten erkämpfte äußere Macht wird noch ungeahnt siegreich wachsen und dauern.

»Wissen Sie wohl, Herr Saß, daß auch solche Gedanken es waren, die meinen Bruder für sein Museum begeisterten? Man hielt ihn für einen jener Sammler, die sich mit kindlicher Freude in den Genuß ihrer kleinen Schätze einspinnen und nach dem Erwerb des Seltenen und Seltsamen rastlos weiterjagen und ihre Funde beliebäugelu und über dieser ihrer kleinen Welt die ganze große Welt vergessen. Man kannte meinen Bruder schlecht, wenn man seinen Sammeleifer bloß für solch eine Spielerei gehalten hat. Er lebte allerdings im trauten, beglückenden Verkehr mit der kleinen Welt seiner Altertümer: aber nur, weil ihm dieselben beredte Urkunden des Kämpfens und Strebens, des Arbeitens und Genießens dahingegangener Geschlechter waren. So verkehrte er, scheinbar ein weltentfremdeter Einsiedler, unablässig mit seinem Volke in dessen Geschichte und Gegenwart, wobei ihm das Neue aus dem Alten erwuchs; denn das Leben der Völker wie des Einzelmenschen stellt niemals einen ruhenden Zustand dar, sondern ein stetes Werden und Vergehen, und das jüngste Geschlecht soll den vorangegangenen neidlos und dankbar die Hand reichen. Wenn mein Bruder so recht liebevoll hegte und rettete, was unsern längst heimgegangenen Vorfahren teuer gewesen, dann sprach er gar manchmal das Wort: › Ein Kind, das seinen Vater nicht ehrt, darf auch nicht hoffen, von seinen Kindern geehrt zu werden.‹«

»Das ist ein tief wahres Wort!« rief Saß. »Mir blitzt ein Gedanke auf: Ich will diesen Spruch über die Eingangsthüre des Museums im Haderturme setzen lassen.«

Amalie nickte ihm freundlich zu.

Der Bürgermeister aber bemerkte, es sei jetzt Zeit, die Sitzung aufzuheben und zum Essen zu gehen.

Saß blieb noch eine Weile in dem stillen Raum zurück, als sich die Andern entfernten.

Die schweigsame Amalie hatte ihm plötzlich wie ein Mann gesprochen, indes er von den Andern während des ganzen Tages nur Weibergeschwätz gehört, und er fühlte sich selber als ein Mann.

Das Museum erschien ihm in einem ganz neuen Lichte. War es dem Herrn von Rohda wirklich nur aus dem Thürklopfer erwachsen? und wollte er – Alfred Saß – es denn wirklich nur aus der Schnupftabaksdose des Prinzen Eugen neu erblühen lassen? Nein! Es erwuchs dem alten Herrn aus einem großen Gedanken, und aus demselben großen Gedanken wollte er es nun weiterbilden.

Es ist doch schön, wenn ein Museumsdirektor auch einmal einen Gedanken für sein Museum findet, und es dünkte Saß, als sei er seit dieser Stunde erst ein wirklicher Museumsdirektor geworden.


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