Wilhelm Heinrich Riehl
Ein ganzer Mann
Wilhelm Heinrich Riehl

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Sechstes Kapitel.

Das Mädchen aus der Fremde.

Nach Art so mancher leichtblütiger Naturen sah der Bürgermeister bereits als erreicht an, was er erst erreichen wollte, und sprach von Plänen als bereits gelungen, die er erst gelungen zu sehen wünschte. Wenn man dem Schicksal vorgreift, dann folgt es – allerdings nicht immer.

So erzählte der Bürgermeister allen Bekannten – unter dem Siegel der Verschwiegenheit –, daß Saß das Ehrenamt eines Museumsdirektors ganz bestimmt übernehmen werde, dann daß er's übernommen habe, so daß er's selbst zuletzt glaubte. Halb Frankenfeld begrüßte infolgedessen Herrn Saß bereits als geheimen Direktor des geheimen Museums.

Vergebens widersprach derselbe; sonst der höflichste Mann, wurde er zuletzt zornig und grob, wenn man ihn also begrüßte. Ein Invalide mit Stelzfuß meldete sich bereits bei ihm für die Stelle eines Museumsdieners. Er wurde von dem sonst leutseligen Herrn fast zur Thüre hinausgeworfen. Ein armes altes Weibchen brachte ihm die silberne Miederkette ihrer Großmutter, welche sie bis dahin wie ein Heiligtum aufgehoben hatte und jetzt in der äußersten Not verkaufen wollte. Sie hielt dieselbe für eine große Kostbarkeit und bot sie dem »Herrn Direktor« für sein Museum zum Kaufe an. Herr Saß war eine mitleidige Seele mit offener Hand für die Armut; er würde der Alten den fünffachen Wert der Kette gezahlt und die Kette zurückgegeben haben, wenn sie ihm das Erbstück bloß für seine Person angeboten hätte. Jetzt aber war er wütend darüber, daß die Kunde von seinem angeblichen Amt sogar bereits in die Kreise der Spittelweiber gedrungen sei und gab der Armen nur harte Worte, daß sie ihre Kostbarkeit wieder ins Schnupftuch wickelte und weinend von dannen ging.

Der Apotheker fragte Herrn Saß: »Welche Neuerwerbungen haben Sie bereits für Ihr Museum gemacht?« Gleich so vielen Leuten hielt er es nämlich für die einzige Aufgabe eines Museumsdirektors, einen beständigen Antiquitätenhandel zu treiben. Man kann sich die Antwort des Befragten denken.

Die Fledermäuse machten sich lustig über den neuen Vorstand der städtischen Altertümer, dessen Hauptvorzug sei, daß er von Altertümern gar nichts verstehe und jetzt zur Buße seiner Sünden den Haderturm ausschmücken müsse. Freunde und Gegner stritten sich in wachsender Heftigkeit über den völlig unschuldigen Mann. Kaum gerettet, machte der Haderturm auch schon wieder seinem Namen Ehre.

Alfred Saß ging eines Tages mit großen Schritten im Erkerzimmer seines Hauses auf und ab, höchst aufgebracht über dies tolle Treiben, als ihm der Besuch zweier Damen gemeldet wurde – Fräulein Amalie von Rohda und Fräulein Hermine Aweling – sie kämen in Museumsangelegenheiten.

Das verwünschte Museum! Anfangs wollte Saß sich verleugnen lassen. Er kannte die Schwester des verstorbenen Freiherrn flüchtig, sie war ihm stets sehr gleichgültig, wenn nicht unangenehm gewesen. Aber Fräulein Aweling hätte er gern gesprochen. Er hatte sie schon oft gesehen und von fern beobachtet und noch viel mehr von ihr gehört, doch war es ihm niemals gelungen, der Unnahbaren sich zu nähern oder auch nur ein Wort mit ihr zu tauschen.

Also ließ er die Damen bitten, einzutreten.

Wir wollen Hermine Aweling dem Leser vorstellen, bevor sie sich selber Herrn Saß vorstellt.

Sie war für die ganze Stadt ein rätselhaftes Wesen: man nannte sie nur das »Mädchen aus der Fremde«.

Seit vier Jahren regelmäßiger Kurgast in Frankenfeld, erschien Hermine Aweling zwar nicht genau, »sobald die ersten Lerchen schwirrten«, allein sie war doch in jedem Frühling der früheste Gast gewesen.

In Frankenfeld galt die sinnreiche Satzung, daß der erste Kurgast jeden Jahres von der Kurtaxe frei war, wie man vordem bei Neugründungen das erste Haus, das erste Ackergut für steuerfrei erklärte. Fräulein Aweling aber schenkte jedesmal statt der erlassenen Taxe von drei Gulden fünfzig Gulden, und zwar zur Hälfte an den »Verschönerungsverein«, zur Hälfte an den »Verein zur Hebung des Fremdenverkehrs«. Beiläufig bemerkt, standen die beiden Vereine, die doch das gleiche Ziel verfolgten, in heftigster Eifersucht feindlich gegeneinander. Das ist so der Lauf der Welt, warum sollte es in Frankenfeld anders sein?

Das Mädchen aus der Fremde! »Man wußte nicht, woher sie kam.« Bei Fräulein Aweling wußte man's auch nicht. Sie verlebte den Winter in Dresden, früher hatte sie ihn wechselnd in Florenz und Rom, Paris und London verbracht. Im Sommer und Herbst reiste sie weit in der Welt herum und im Frühling lebte sie vier bis sechs Wochen still zurückgezogen in Frankenfeld. Das dortige Schwefelbad verschmähte sie; es war die geräuschlose kleine Stadt, welche ihr gefiel, und sie zog dieselbe einem eigentlichen Landaufenthalte vor; gegen Paris und London bot ihr Frankenfeld ja Land genug. Wohnte sie hier doch reizend vor dem Thore und genoß so manche Bequemlichkeit städtischen Lebens, während sie zugleich die schönsten Waldspaziergänge in nächster Nähe fand. Sie erfrischte sich nach dem großstädtischen Winter und sammelte Kraft für die Reisen des Sommers. Der Klatsch der Kleinstädter berührte sie nicht, da sie nichts davon erfuhr. Sie machte keine Besuche, nahm keine Einladungen an und hatte nur einen lässigen Verkehr mit Wenigen, darunter Fräulein von Rohda. Die kleinen Städte unseres Vaterlandes dünkten ihr deutscher wie die großen, und wenn sich Fräulein Aweling im Winter von den Wogen einer Weltstadt hatte umbranden lassen, dann sonnte sie sich während der Frühlingstage im stillen Frieden deutsch gesitteten Kleinlebens. Sie fand Frankenfeld nicht langweilig, und die Frankenfelder, welche die geheimnisvolle und ohne Zweifel unermeßlich reiche Dame scharf beobachteten, fanden, daß nicht alle reichen Leute selbstsüchtige Genußmenschen seien.

Denn wenn das Fräulein auch nicht gleich Schillers Mädchen »Blumen und Früchte« mitbrachte, so hatte sie doch ein allezeit offenes Herz und eine offene Hand für alles Gemeinnützige und wirkte verborgen viel Gutes.

Auch wer sie nur von ferne kannte, ahnte ihr sonniges Gemüt.

»Doch schnell war ihre Spur verloren, sobald das Mädchen Abschied nahm.« Wohin Hermine Aweling ging, das wußte man noch weniger als woher sie kam. Sie folgte niemals dem großen Reisestrom: sie hatte ihre eigensten, mitunter etwas sprunghaften Reisepläne, die meist weit hinaus führten. Man sagte, sie habe vor fünf Jahren sogar eine Reise um die Welt gemacht, bloß um ihren Aerger auszubrausen, weil ihr in Paris zehntausend Franken gestohlen worden waren. Jedenfalls hofften die Frankenfelder seitdem auf ihre regelmäßige Wiederkunft im nächsten Frühjahr und hatten sich bis jetzt noch nicht darin getäuscht.

Es war Alfred Saß gewesen, der ihr den Namen des Mädchens aus der Fremde aufgebracht, und in Frankenfeld kriegte, wie bereits bemerkt, ein Jeder seinen Spitznamen, sogar die Türme. Allein man behauptete mit Recht, Herr Saß müsse ihr diesen Namen ausgesonnen haben, als er noch nicht vom Sehen, sondern nur erst vom Hörensagen die schöne Dame kannte.

Wir denken uns Schillers Mädchen als eine ganz jugendliche, ätherisch zarte Erscheinung, ländlich einfach, halb Kind, halb Jungfrau.

So aber war Hermine Aweling durchaus nicht geartet. Sie war eine junonische Gestalt von hohem Wuchse, mehr erhaben als anmutig und dennoch leicht bewegt, im glücklichen Alter von fünfunddreißig Jahren noch in voller Jugendfrische strahlend und doch schon alt genug, um entschieden und selbständig aufzutreten. Ihre Stimme war sanft, ihr Gesichtsausdruck herzgewinnend freundlich, in seiner Zartheit gesteigert durch das üppige aber – schneeweiße Haar, welches sich seit dem zwanzigsten Jahre infolge einer Krankheit gebleicht hatte, so daß es wie gepudert aussah, – pour adoucir les traits. In diesem milden Antlitz aber glühten zwei feurige schwarze Augen. Hermine Aweling war Maria Theresia in der glänzend imposanten Schönheit ihrer Jugend.

Fräulein von Rohda stellte ihre Freundin vor und fragte darauf Herrn Saß, ob er nicht bald die Sammlung ihres Bruders übernehmen werde? Fräulein Aweling wolle nach ihrer bekannten freigebigen Weise zwei wertvolle Geschenke für das Museum zum guten Beginn seiner Vorstandschaft in seine Hände legen.

Also doch schon die erste Neuerwerbung!

Saß lachte laut auf und konnte lange das Wort nicht finden. »Bisher habe ich mich geärgert,« rief er endlich, »wenn man mich trotz allen Widersprechens mit Gewalt zum Museumsvorstande gemacht hat, aber wenn zwei so liebenswürdige Damen in heiligem Ernste behaupten, daß ich sei, was ich nicht bin, dann finde ich dies doch zuletzt sehr erheiternd!«

»Wir kennen Ihr Geheimnis und ehren es,« lispelte Amalie von Rohda mit ihrer süßen, dünnen Stimme; »dennoch bittet Sie meine Freundin, die Schenkung anzunehmen als der einzig Berechtigte, in dessen Hände wir sie legen können.«

Bei diesen Worten zog sie ein sorgsam verhülltes kleines romanisches Weihrauchgefäß aus ihrem Arbeitsbeutel und gab es Herminen, die es ihrerseits dem Staunenden überreichte mit den erläuternden Worten: »Die reizende Bronze hat, wie Sie sehen, die Gestalt einer Burg mit vier Türmen. Aus den Fenstern quoll einst der Weihrauch. Das Werk stammt aus einem süddeutschen Kloster und man sagt, es stelle die Burg dar, welche vor siebenhundert Jahren von einem frommen Ritter, dem letzten seines Geschlechts, in das Kloster verwandelt wurde. Als das Kloster 1806 aufgehoben ward, verschwand das Gefäß und wanderte durch die Hände von Sammlern und Händlern, bis ich es zuletzt in Paris fand und kaufte, um es seiner Heimat, unserm Vaterlande, wiederzugeben. Es wird im ehrwürdigen Haderturm unter Ihrer Obhut dauernd die rechte Stelle finden.«

Saß weigerte die Annahme, zu welcher er kein Recht habe.

»Also soll ich mein unbedeutendes Geschenk wohl dem Professor Capelius übergeben?« fragte Hermine schelmisch.

»Nein!«

»Wem denn sonst?«

»Niemand! Behalten Sie es, bewahren Sie es unter Ihren Nippsachen, wo noch ähnliche Dinge sich finden werden,« rief Saß und blickte die Schenkerin mit großen Augen an und fügte dann mit bewegter Stimme hinzu: »Eine so lebensfrische junge Dame – und auch schon von. Altertumsfieber ergriffen, welches doch nur bei Matronen und Greisen natürlich erscheint!«

»Ich sammle ja gar keine Altertümer,« entgegnete Hermine, schalkhaft lächelnd.

»Und warum kauften Sie denn dieses wunderliche Stück?«

»Weil es so artig, so schön, so allerliebst, vielleicht auch, weil es dazu so wunderlich ist. Kaufen wir doch schöne Blumen, schöne Bilder, seltenen und seltsamen Schmuck aus keinem andern Grunde, – warum nicht auch dieses Rauchgefäß? Es kam mir etwas teuer, ich hatte Mitbewerber, sie trieben mich bis auf fünfhundertvierzig Franken. Allein ich hatte höher und höher geboten aus Patriotismus, weil ich dies Andenken an unsere Vorfahren Deutschland wiedergewinnen wollte, und, ich kann es nicht leugnen, weil ich im Bieten in das Fieber eines Sports hineingerissen wurde, – des Antiquitäten-Sports.«

Herr Saß war ganz verblüfft zu hören, daß auch die Jagd auf Altertümer Sport sein könne, am Ende so gut wie die Fuchsjagd. War er doch selber ein leidenschaftlicher Freund von allerlei Sport, den er für das Modernste hielt, und der ihm freilich bis jetzt nur auf moderne Dinge zu zielen geschienen, nicht auf altes Kirchengeräte und alte Schüsseln und Töpfe, Kleider und Waffen.

Hermine Aweling belehrte ihn jedoch höchst anmutig, daß es gerade allermodernster Sport sei, im reichgeschmückten Salon ein altchristliches Weihwasserbecken aufzustellen als Schale für Visitenkarten, geschnitzte und vergoldete Spiegelrahmen anzubringen, die aus den Einfassungen von Rokokoaltären zusammengeleimt seien, und gotische Meßgewänder zum Ueberzug für Sessel im Empirestil zurecht zu schneiden.

»Ein flüchtiger Blick in Ihre Gemächer, Herr Saß, überzeugte mich jedoch bereits, daß Ihnen solche Geschmacklosigkeiten ganz fern liegen. Eben darum schenke ich Ihnen das romanische Rauchgefäß auch nicht als Aschenbecher für Ihre Cigarren, sondern als ein ganz ernsthaftes Kabinettsstück für Ihr Museum. Und nun füge ich noch eine zweite kleine Gabe hinzu, deren historischen Wert Sie vielleicht höher schätzen werden.«

Bei diesen Worten zog das Fräulein eine goldne Schnupftabaksdose aus der Tasche und überreichte sie Herrn Saß. In dem Deckel der länglich viereckigen Dose war das Miniaturbildnis »Prinz Eugens des edlen Ritters« unter einem Oval von Bergkrystall eingelassen. Die Innenseite des Deckels aber zeigte eine in das Gold gravierte französische Widmungsschrift, welche besagte, daß Prinz Eugen von Savoyen diese Dose seinem Lebensretter, Herrn Jakob von Werdenstein, dankend verehre. Darunter stand das Datum: 11. August 1704.

Hermine bemerkte: »Mein Ururgroßvater mütterlicherseits, Jakob von Werdenstein, diente unter den Fahnen Prinz Eugens. Er hatte das Glück, in der Nacht des 11. August 1704 den großen Feldherrn mit eigener Lebensgefahr aus einem brennenden Hause zu retten – zwei Tage vor der Schlacht von Höchstädt. Dieses Geschenk des Geretteten vererbte sich als ein Familienheiligtum von Geschlecht zu Geschlecht. Ich stifte es jetzt in Ihr Museum. Nach der Eigenart seiner Form, der Feinheit der Arbeit und dem historischen Interesse wird es dort immerhin ein bemerkenswertes Stück sein.«

Alfred Saß erwiderte: »Ich kann Ihre hochherzige Schenkung nicht annehmen, weil ich mit dem Museum nichts zu schaffen habe. Allein wäre ich auch Direktor, so würde ich die Dose doch nicht annehmen: solch ein ehrwürdiges Familienerbe muß der Familie verbleiben.«

In gedämpftem Tone sprach das Fräulein: »Ich habe keine Familie mehr; die Werdensteiner sind ausgestorben; meine Eltern sind tot, meine Geschwister tot; ich besitze keine näheren Verwandten; ich stehe einsam in der Welt, ich werde einsam sterben; und damit dieses Familienheiligtum nicht in unwürdige Hände falle, schenke ich es Ihrer Stadt, die mir so oft eine freundliche Zuflucht gewährte.«

»Bestes Fräulein! Wie können Sie jetzt schon sagen, daß Sie einsam bleiben, daß Sie einsam sterben werden!« rief Saß. »In der Fülle Ihrer Lebenskraft –«

Hermine unterbrach ihn: »Ich kann es sagen! Ich habe an den teuern Meinigen mit allen Fasern meines Herzens gehangen, ich habe sie so heiß geliebt, wie man Eltern und Geschwister lieben soll und wurde doch nicht immer von ihnen verstanden; einem Fremden trat ich im Geiste nahe, den ich noch heißer zu lieben träumte: – – es ist alles versunken, mein Träumen und Hoffen längst verweht, alles tot und dahin. Unter unsäglichen Schmerzen gelobte ich mir, mein Herz fürderhin an keine Seele mehr zu hängen. Ich bin nicht leutscheu; ich verkehre mit lieben Menschen, die ich schätze, wie hier mit meiner Freundin« – und sie legte ihre Hand in Amaliens Hand – »aber das ist ganz anders wie früher. Ich schweife in der Welt umher, ich erfreue und erhebe mich an den Wundern der Natur, ich belehre mich, indem ich die Geheimschrift des Menschen- und Völkerlebens zu enträtseln suche, und stehe doch einsam in alle dem Getümmel. Ist meine unbändige Wanderlust Selbstsucht? Ich weiß es nicht; doch sicher ist sie noch etwas mehr. – Ich hatte einen edlen Hund, der mir mit der vollen Treue der Hundeseele anhing, und ich erwiderte sie mit der Treue der Menschenseele. Ich mußte ihn töten lassen, als er alt wurde: ich werde mir niemals wieder einen Hund halten. Begreifen Sie jetzt, warum ich die Dose des Prinzen Eugen Ihrem Museum gebe?«

»Nicht ganz,« entgegnete Saß und besann sich einen Augenblick, was er alles sagen wolle. Allein Hermine ließ ihn nicht zum Worte kommen.

»Ich reise übermorgen ab, zunächst nach dem Nordkap. Dann werde ich meinen Rückweg durch Norwegen und Schweden nehmen; ich werde die Insel Gotland besuchen und die Trümmerstadt Wisby, das Pompeji der Hansa. Es ist so dichterisch schön, über der Vergangenheit die Gegenwart zu vergessen. Ich reise dann zu den russischen Inselschweden nach Dagö, Worms, Runö, Oesel. Wie glücklich werde ich mich unter diesen einsamen Menschen fühlen, die, weltvergessen, das Leben ihrer skandinavischen Urväter weiterleben! Dann bereise ich Finnland, um in dem melancholischen Zauber seiner Wälder und Felsen, seiner Seen und Wasserfälle selber die Welt zu vergessen. Den Winter verbringe ich in Petersburg, und im Glanz und Getümmel seines großstädtischen Lebens werde ich mich dann am einsamsten fühlen. Aber im Frühling nächsten Jahres kehre ich, so Gott will, wieder hierher zurück.«

Bei diesen Worten sah sie Herrn Saß lächelnd an und drohte mit dem Finger: »Sie nennen mich – so sagte man mir – das Mädchen aus der Fremde. Das bin ich so wenig, als ich mich in Frankenfeld in einem Thal bei armen Hirten befinde. Aber wenn ich Ihnen so freundlich willkommen bin, wie es jenes duftige Dichtergebilde den armen Hirten war, dann will ich mir den Namen gerne gefallen lassen. Leben Sie wohl! Auf frohes Wiedersehn im künftigen Jahr!«

Sie drückte ihm die Hand und wandte sich zur Thüre und hörte nicht mehr, was der verblüffte Alfred Saß in höflichen Worten zu stammeln begann.

Erst als die beiden Frauen längst verschwunden waren, fiel ihm ein, was er alles noch hätte sagen wollen und sollen.

Die zwei Gaben für das Museum waren auf dem Tische liegen geblieben. Er mußte sie zurückgeben; er mußte die rätselhafte Dame besuchen. Das konnte er nur noch morgen. Er faßte sofort diesen Entschluß, und eine Welt von Gedanken drängte sich ihm auf, die er dann aussprechen, von Fragen, die er stellen wollte.

Seit Jahren hatte er Hermine Aweling kaum bemerkt an sich vorbeistreifen sehen: warum berührte ihn ihr flüchtiger Besuch mit einemmal so tief? – war sie am Ende doch nur eine bizarre Abenteuerin? Doch nein! bei solchem Adel der Gesinnung, bei solcher Feinheit des ganzen Wesens abenteuert man nicht. Stand sie doch so hoch über ihm, war es doch, als hätte sich mit ihrem bezaubernden Erscheinen ein helles mildwarmes Sonnenlicht über ihn ergossen!

Wer das Rätsel ergründen könnte, warum ungeahnt, ungewollt urplötzlich sich Herz zum Herzen gezogen fühlt!

Alfred Saß hoffte, daß er Herminen – so nannte er sie im stillen schon – morgen allein treffen werde ohne Beisein ihrer Freundin, die als »stumme Person« heute so höchst überflüssig miterschienen war. Und er ärgerte sich, daß er vorhin angesichts Herminens selber eine so stumme Person gewesen.


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