Wilhelm Heinrich Riehl
Ein ganzer Mann
Wilhelm Heinrich Riehl

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Elftes Kapitel.

Kaspar in der Zange.

Am andern Tage kamen Saß und Amalie zusammen in der »Gotik« des Haderturmes, wie sie das untere Geschoß nannten. Amalie aber bat ihren Freund, daß sie hinaufgingen in die »Renaissance«, wo das alte Klavier stehe.

»Ich bedarf dessen,« flüsterte sie leise, daß Zuckmeyer es nicht hören konnte, »zu meiner Untersuchung; sie wird musikalisch beginnen, auch etwas poetisch; jedenfalls wird sie gemütlich werden. Wir wollen plaudern und Zuckmeyer soll zuhören. Ich bin dem Schelm auf seine Schliche gekommen durch die Musik, durch eine Sonate von Georg Benda. Kennen Sie Benda? Seine Sonate ist gerade so alt wie das Klavier: volle hundert Jahre.«

Saß schüttelte den Kopf; er wußte nicht, was diese Worte bedeuten sollten. Kaspar folgte widerstrebend und mit verhageltem Gesicht, als sie die engen Treppen hinaufstiegen.

Oben angelangt, setzten sich Saß und Amalie auf zwei Taburette aus dem 17. Jahrhundert gegenüber dem Klaviere, welches noch immer neben der Folterbank stand.

»Bleiben Sie stehen!« herrschte Saß den Kaspar an, als er ihnen gegenübertrat.

»Nehmen Sie Platz!« sprach Amalie freundlich fast zu gleicher Zeit.

»Meinetwegen!« bestätigte Saß. »Setzen Sie sich auf den Stuhl da vorn.«

Als sich aber Zuckmeyer kaum niedergelassen hatte, rief Amalie: »Nicht doch! Stehen Sie auf! Sie sind ja auf den Prangerstuhl geraten. In Frankenfeld pflegten sonst die gemeinen Leute am Pranger zu stehen; waren aber vornehme Herren gemeine Kerls gewesen, so durften sie auf diesem Stuhl am Pranger sitzen, Alles nach Stand und Rang. Holen Sie sich den Sessel da hinten; es ist ein ehrlicher Sessel: der Zunftmeister der Schneider pflegte vordem auf ihm seine Denkübungen zu halten, bevor er nach Tische einnickte.«

Zuckmeyer sprang auf, wie von einer Natter gestochen, und holte sich den Großvaterstuhl, dessen Sitz so hoch war, daß seine kurzen Beine in der Luft baumelten. Er rückte ihn aber ganz nahe vor das Klavier, als ob er dessen Tasten verbarrikadieren wolle.

»Betrachten wir zuerst dies alte Cembalo; es hat noch Messingstifte statt der Hämmerchen und klingt fast wie eine Zither. Wollen Sie es öffnen, Herr Zuckmeyer.«

»Man kann nicht darauf spielen, es ist ganz verstimmt,« rief dieser, verlegen errötend.

»Verstimmt?« wiederholte Amalie. »Das schickt sich für ein Museumsklavier wie edler Schmutz und Staub und Rost für andere Museumsstücke.« Dann wandte sie sich zu Saß: »Vorige Woche, als ich einmal einsam hier oben war, spielte ich eine Sonate von Georg Benda. Die reizend einfache Komposition paßte so ganz zu dem traumhaft säuselnden Instrument; – aber ich kam nicht weit in meinem Spiel, denn beim Anschlagen der tiefen Töne klang mir ein seltsam gespenstiges Rasseln entgegen – –«

»Es sind Saiten gesprungen,« fiel Kaspar hastig ein. »Sie können auf dem Klavier nicht spielen.«

»Nur eine Saite,« berichtigte Amalie, »das große  A. Ich werde darum in As phantasieren, dann brauche ich diese Saite nicht.«

Saß forderte Zuckmeyer barsch auf, das Klavier zu öffnen. Aber Amalie flüsterte ihm zu: »Nur nicht befehlen und drohen, sonst kriegen wir gar nichts aus dem Burschen heraus.«

Dann wandte sie sich zum Ratsdiener: »Sie haben recht, lassen Sie das Klavier geschlossen,« und hierauf wieder zu Saß ganz leise: »Die verstimmten, rasselnden Töne würden doch nur den gewiegtesten Kenner erfreuen, der die Musik im Geiste richtig hört, während sie seinem Ohre falsch klingt. Darum haben Kenner zugleich die feinsten und die dicksten Ohren.«

Zuckmeyer kochte innerlich vor Zorn über das fortwährende Geflüster, welches ihm verhängnisvoll dünkte.

Da erhob Amalie wieder laut ihre Stimme und sprach zu Saß: »Unser Museum wird täglich allgemeiner beachtet. Als es für Jeden offen stand, mochte es kein Mensch sehen, jetzt wo es Allen verschlossen ist, möchte Jeder seine Nase hereinstrecken. Das ist so menschlich. Ganz Frankenfeld beginnt zu altertümeln. Der Bäcker Ubrich bat unlängst um meine Fürsprache, daß er die alten Zuckerbäckermodel geliehen erhalte, um Weihnachtsbackwerk in ältester Form als neueste Mode aufzustellen. Fräulein Kieser wünscht unsern Delfter Fayencekrug, um ein Schmuckkästchen danach blau auf weiß zu bemalen, und – was das Merkwürdigste – unser Dichter, Herr Assessor Hinterborn, der jedes Quartal eine Novelle ›aus Frankenfelds Vorzeit‹ für den ›Stadt- und Landboten‹ dichtet, wurde so poetisch angeregt bei einem Gange durch das Museum – –«

»Wie kam Hinterborn herein?« donnerte Saß den Ratsdiener an. »Hatte ich nicht strengstens verboten, daß – –«

»Der Herr Assessor hat diese Räume niemals betreten,« rief Zuckmeyer fest dazwischen. »Niemals! Und ich lüge niemals.«

»Und war auch Oberst Sickenwolf nicht hier mit einigen Damen?«

Zuckmeyer schwieg.

Bei stärkerem Andrängen wiederholte er: »Ich lüge nicht. Ich schweige. Meine selige Mutter pflegte zu sagen: ›Durch Schweigen sich verred't Niemand.‹«

»Gewiß!« rief Saß. »Niemand verredet sich durch Schweigen, aber Mancher verrät sich dadurch, wie Ihr es eben thut.«

Amalie trat besänftigend dazwischen und sagte Saß ins Ohr: »Machen Sie mir den Burschen nicht verstockt. Er ist ja nicht schlimm: er lügt nicht und nahm kein Trinkgeld.«

Zuckmeyer wollte aus der Haut fahren über das Geflüster, Amalie aber fuhr dann wieder mit lauter Stimme fort, gegen Saß gewandt:

»Ich wollte Ihnen ja von Assessor Hinterborn erzählen; hören Sie mich geduldig an.«

»Wenn unser Stadtpoet auch niemals diese heiligen Räume betrat, so hat er doch von Andern, die sie betreten haben, so viel davon gehört, daß er mich bat, ich möge ihm hier Stoffe suchen helfen zu einer neuen Novelle ›aus Frankenfelds Vorzeit‹ fürs nächste Quartal. Er meinte, wir besäßen doch alte Chroniken, Urkunden, Akten, aus welchen ein nach Erfindung seufzender Poet schöpfen könne. Vielleicht fände sich da etwas reizend Verbrecherisches; er liebe so sehr die Kriminalpoesie.«

»Und ich hasse sie!« rief Saß heftig.

»Das thue ich auch,« fuhr Amalie ruhig fort. »Und doch ist es gerade ein Kriminalakt unseres Museums, welcher ausnahmsweise einen wirklich poetischen Kern enthält, und den ich Herrn Hinterborn als Stoffquelle für seine nächste vaterstädtische Erzählung unterbreiten möchte.«

(Zuckmeyer rückte seinen Großvaterstuhl ganz unmerklich etwas näher und spitzte die Ohren..

»Ein verarmter Jude gibt sich – es war vor mehr als hundert Jahren – für den Ewigen Juden aus, um mitleidige Gaben dummer Bauern zu erschwindeln. Indem er sich so aber Tag für Tag auf ein sagenhaftes Stück aus der Leidensgeschichte Christi beruft, lebt er sich allmählich so tief in diese Geschichte ein, daß er zuletzt, aufs innerste ergriffen von derselben, an das Evangelium glaubt, die Taufe begehrt, hierdurch nebenbei dem Zuchthaus oder dem Galgen entrinnt und ein guter Christ wird. Ein prächtiger Novellenstoff! Vielleicht könnte Herr Hinterborn sogar mit zwei Motiven arbeiten, wenn er die englische Sage von Cartaphilus, dem Thürhüter des Pilatus, hineinwöbe, welchem Christus sagte: ›Ich gehe und du sollst warten, bis ich komme,‹ und welcher nun, obgleich sehr bald in sich bekehrt und getauft, doch durch die Jahrhunderte gleichfalls als Ewiger Jude nicht wandern, sondern sitzen bleiben und warten muß. Ist nur erst einmal die Novelle gedruckt, dann bearbeitet ein neudeutscher Musiker den Stoff vielleicht für Orchester unter dem Titel: ›Der Ewige Jude, symphonische Tondichtung frei nach den Frankenfelder Kriminalakten.‹«

»Das klingt sehr schön, wenn ich's nur verstände!« rief Saß lachend.

»Sie werden es verstehen, sobald Sie die Akten gelesen haben. Aber das ist ein trockenes Stück Arbeit. Lassen Sie mich darum vorher ein wenig am Klavier phantasieren, dem künftigen Tondichter vorgreifend.«

Obgleich sich Kaspar wieder breit vors Klavier pflanzte, schob ihn doch Amalie beiseite und schlug einige Akkorde an. Allein die verstimmten Töne rasselten, wie wenn man auf eine Gießkanne schlägt.

»Oeffnen Sie den Deckel!« befahl Amalie dem Ratsdiener. »Dieses Geprassel kann nicht von der zersprungenen Saite kommen.«

»Ich glaube, es haben Mäuse ihr Nest in den Resonanzboden gebaut; – ich will es nachher untersuchen; – das Fräulein würde erschrecken,« stotterte Zuckmeyer.

»Das Erschrecken ist nicht an mir!« rief Amalie, sah dem armen Sünder mit einem stechenden Blick in das erbleichende Gesicht und hob den Deckel auf.

»Ei, da liegt ja, was ich eben holen lassen wollte, da liegen die Kriminalakten: sie waren es also, welche mir neulich die Bendasche Sonate verdarben! Wie kamen sie hierher? Sie lagen doch früher auf der Folterbank.«

Kaspar stotterte, daß er sie schon lange zu mehrer Sicherheit ins Klavier gelegt, er habe es inzwischen vergessen.

Amalie nahm das Faszikel zur Hand, rief aber alsbald: »Da fehlt ja das Hauptstück – ›Untersuchung gegen Levi Meyer, alias Zuckmeyer, den Ewigen Juden‹!«

»Wieder ein Zuckmeyer?« rief Saß erstaunt.

»Allerdings,« bestätigte Amalie, »und obendrein der Ururgroßvater unsres Ratsdieners,« und fuhr dann fort zu diesem gewandt: »Ich begreife, daß der fehlende Akt Sie fesselte; Sie haben ihn wohl herausgenommen zur Abendlektüre – vor dem Einschlafen. Doch jetzt bitte ich, bringen Sie ihn hierher.«

Zuckmeyer entgegnete, daß er ihn nicht bringen könne. Saß befahl und donnerte und wetterte. Aber Amalie beschwichtigte ihn und bat ihn leise, daß er ihr doch die Frucht ihrer Entdeckung durch seine Heftigkeit nicht rauben möge. Dann wandte sie sich wieder zu Kaspar.

»Ich begreife, daß Ihnen der Akt unangenehm ist, obgleich Sie bei richtigem Verständnis stolz auf die Geschichte Ihres Vorfahren sein sollten.«

»Ich sehe nichts besonders Angenehmes darin,« brummte Zuckmeyer, »wenn mein ehrlicher Name im Stadt- und Landboten dem Gespötte von ganz Frankenfeld preisgegeben werden soll.«

»Sie kennen mich nicht,« entgegnete Amalie. »Ich werde Herrn Hinterborn den Akt nicht geben, ich werde ihm einen erdichteten Namen statt des Ihrigen nennen. Nur den Gang der Handlung mit ihrem psychologischen und ethischen Problem soll er erfahren. Kein Mensch außer uns Dreien kennt die Geschichte: wir werden verschwiegen sein. Mein Bruder war es auch. Er verschloß den Akt, der Sie bloßstellen konnte; denn auch er haßte jeden persönlichen Skandal, gleichviel ob man ihn historisch, poetisch oder sonstwie zur litterarischen Würze verwertete. Und nach dieser Versicherung bringen Sie uns den Akt.«

Kaspar verschwur sich hoch und teuer, daß er ihn nicht bringen könne.

»Aber Sie haben ihn doch gelesen?«

Der Befragte schwieg.

Da setzte ihm Amalie sehr beredt aneinander, daß man ja gar nicht anzunehmen brauche, der alte Zuckmeyer habe in pfiffiger Heuchelei seine Bekehrung nur vorgegeben, um dem Zuchthause zu entrinnen. Im Zweifelsfalle müsse man immer das Beste von den Menschen denken. Sie glaube darum vielmehr, es habe hier eine wunderbare Fügung Gottes gewaltet, die den alten Sünder gerade durch seine Sünden auf den Weg des Heils gebracht, und wenn Levi Meyer zur Zeit des gotischen Stiles gelebt hätte, statt zur Zeit des Barockstils, so würde man ihn nach seinem Tode vielleicht für einen Heiligen gehalten haben, an welchem Gott ein Wunder gewirkt und zu seinem Grabe gewallfahrtet sein wie zu dem Grabe des Herrn Chapelet in der Novelle des Boccacio.

Dem armen Kaspar ging es wie ein Mühlrad im Kopf herum bei all den unverstandenen Worten von psychologisch und ethisch, historisch und poetisch und Chapelet und Boccacio. Nur die Gotik und das Barock hatte er als geschulter Museumsmann richtig verstanden.

Ganz gerührt sagte er: »Das gnädige Fräulein sind so mild und gut und sprechen so schön, daß man stundenlang zuhören könnte. Aber es kann mir trotzdem doch nicht gleichgültig sein, wenn die ganze Stadt erfährt, daß ich von einem Landstreicher und obendrein von einem Trödeljuden abstamme.«

»Lieber Zuckmeyer,« entgegnete Amalie, »von unsern Vorfahren wissen wir Alle miteinander nicht viel, und wenn wir die Stammbäume des Adels auf die Moral sämtlicher Ahnen zu prüfen vermöchten, dann käme bei den stolzesten Geschlechtern mitunter nicht viel besseres heraus, als bei der Familie Zuckmeyer. Uebrigens brauchen Sie sich Ihres Namens gar nicht zu schämen. Es gibt bekanntlich viele Meyer in Deutschland, die sich in eine christliche und eine jüdische Halbscheid spalten, und auch den Namen Zuckmeyer besitzen Sie keineswegs allein. Ich kenne eine hochachtbare Familie dieses Namens, bei welcher kein Mensch an das Alte Testament denkt. Möglich, daß deren Urahn ein altsächsischer Meier war, den schon der heilige Bonifazius getauft hat. Sie führen die unterscheidende Vorsilbe auch nicht auf ein Nervenzucken zurück, sondern auf das altdeutsche Zucko, welches vor anderthalbtausend Jahren ein sehr vornehmer Personenname gewesen sein soll, und es bleibt Ihnen unbenommen, die gleiche Vermutung für sich anzustellen, zumal kein Mensch den wahren Namen des falschen Ewigen Juden erfahren soll.«

Amalie trug das Alles so schalkhaft und doch so einschmeichelnd vor, daß man hätte meinen können, sie selber wolle fast lieber eine geborene Zuckmeyer als eine geborene von Rohda sein.

Kaspars Rührung wuchs so sehr, daß ihm die Thränen in die Augen traten.

Saß aber, der gar nicht gerührt war, rief: »Schaffen Sie den Akt herbei! Augenblicklich! Ich befehle es Ihm. Und wenn Er ihn nicht flugs zur Stelle bringt, dann mag Er sich zum Teufel scheren!«

Amalie bat und beschwor ihn, daß er's endlich thue.

Da sprang Kaspar von seinem Sessel auf, warf sich Amalien zu Füßen und rief: »Ja, ich will bekennen, Ihnen will ich bekennen, gnädiges Fräulein, weil Sie so gut sind: ich habe den Akt verbrannt und Ihr ganzes Museumsregister dazu.«

Saß und Amalie sahen sich erstaunt an. »Wir haben Ihr Geständnis;« sprach dann Jener streng und ernst. »Haben Sie noch weitere Entschuldigungen beizufügen?« Da Kaspar schwieg, hieß er ihn abtreten.

Amalie aber bat, daß er noch einen Augenblick bleiben dürfe, sie sei noch nicht fertig mit dem Verhör.

Und nun hielt sie dem Schuldigen die üble Nachrede vor, welche er über sie Beide in der Stadt verbreitet habe. Das sei Verleumdung gewesen und ein schlechter Dank für die freundliche Förderung, welche er von seinem Vorgesetzten stets erfahren habe. In der Verleumdung aber stecke immer auch die Lüge.

Saß meinte, Kaspar, welcher niemals lüge, werde jetzt wahrscheinlich behaupten, er habe nur die überstarke und darum etwas verzerrte Wahrheit gesagt.

Dieser aber rief: »Nein! ich habe schlecht gehandelt; ich habe die Leute gegen Sie Beide verhetzt. Ach, ich konnte nicht anders, allein der Grund war nicht Schmähsucht. Ich wollte den Ruf meiner Familie retten, indem ich Sie, gnädiges Fräulein, als die Einzige, welche von dem entsetzlichen Ewigen Juden wußte, von Herrn Saß und vom Museum hinweg lästerte.«

Amalie redete ihm scharf ins Gewissen und zeigte ihm, wie aus einer Sünde gleich ein Dutzend anderer hervorgewachsen sei, nicht so strafwürdig und doch verdammlicher wie die erste. Und hätte er nicht bekannt und dadurch der ersten Sünde die Wurzel abgeschnitten, so würde er bald ein ganz schlechter Kerl geworden sein. Sie aber verzeihe ihm und Herr Saß werde das Gleiche thun, und nun möge er gehen und bereuen und sich bessern.

Ganz zerknirscht, dankend und Besserung gelobend trat Kaspar ab.

Als Saß und Amalie allein waren, meinte der Erstere, nun wollten sie das Urteil fällen. Die Verbrennung des anvertrauten Aktes müsse dem Bürgermeister gemeldet und Zuckmeyer seines Dienstes entlassen werden. Sein offenes Geständnis sei ein mildernder Umstand, so daß ein weiterer Antrag auf gerichtliche Bestrafung wegen Untreue im Dienst unterbleiben könne.

Amalie war anderer Ansicht. Zuckmeyer sei durch seine beschämende Ueberführung genug bestraft. Man solle nur scharf auf ihn acht geben; sie sei überzeugt, die bisherige ungetreue »Ehrendame« werde fortan der treueste Diener sein. Uebrigens habe sie ihm versprochen, das Geheimnis der im verbrannten Akt berichteten Geschichte zu wahren und das könne man nicht, wenn man die Sache dem Bürgermeister anzeige.

Saß meinte lachend, sie habe da doch eine ganz besondere Art von Untersuchung geführt, indem sie den Beklagten dadurch zum Geständnis gebracht, daß sie ihm von vornherein zusicherte, die erstrebte Frucht seines Verbrechens solle ihm nicht verloren gehen! Er hätte den Kaspar ganz anders in die Zange genommen.

Amalie entgegnete: »In der gangbaren Rede sagt man nicht, Jemand in die Zange nehmen, sondern ins Gebet nehmen, und ich nahm den Kaspar ins Gebet, was immer besser ist als eine Zange und ebenso scharf zugreifen kann. Jetzt aber bitte ich um Gnade für den vielgeängstigten Mann, der vielleicht seit dem Tage, da er den Akt verbrannte, keine ruhige Nacht mehr gehabt hat.«

»Das ist die rechte Art der Frauen,« spottete Saß, »die mit dem Herzen richten: sie begnadigen bevor noch das Urteil gesprochen ist. Der Mann spricht die gerechte Strafe aus.«

Amalie aber sprach: »Unser Herrgott ist auch ein Mann, und doch wären wir Alle verloren, wenn er nicht der Gott der Gnade wäre und uns seiner Gnade versichert hätte vor dem Gericht. Er sieht aufs Herz und wir sollten es auch. Ginge es nach meinem weiblichen Sinne, so dürfte es gar kein Strafgesetzbuch geben, sondern jeder Fall sollte für sich und aus sich heraus beurteilt werden, je nach den Beweggründen, die der Richter im Herzen des Angeklagten liest. Und Zuckmeyer hat kein schlechtes Herz bewiesen, wenn er übers Maß auf seine Familienehre hielt. Und übrigens lügt er nicht und nimmt kein Trinkgeld.«

»Gelogen hat er, wie mir scheint, über uns Beide genug,« entgegnete Saß. »Aber was schlimmer, er hat Sie selbst, mein Fräulein, zur Unwahrheit verlockt. Denn Assessor Hinterborn hat Sie in Wirklichkeit gar nicht um Novellenstoffe aus den Schriftstücken des Museums angesprochen und Ihre reizende Verarbeitung des Prozesses gegen den Ewigen Juden war doch hinten und vorn recht fabelhaft.«

Amalie lächelte. »Das war keine Lüge, das war dichterische Einkleidung, und ohne die Beihilfe der Poesie würde ich den Schelm kaum so rasch gefangen haben.«

Saß drohte mit dem Finger. »Nehmen Sie sich in acht. Der selige Professor Knobel in Gießen pflegte in seiner ›Moral‹ die Poesie im Kapitel von der Lüge abzuhandeln und zwar im Paragraphen von der ›Scherzlüge‹, die eben doch auch eine Lüge ist. Schlimmer jedoch dünkt mir, daß Sie, verehrtes Fräulein, durch Ihre phantasiereiche Untersuchung mich in einen schweren Gewissenskampf verwickelt haben. Meine Amtspflicht gebietet mir, Zuckmeyers Untreue dem Bürgermeister anzuzeigen, und meine Freundespflicht gegen Sie gebietet mir, davon zu schweigen.«

So stritten die Beiden noch eine gute Stunde fort, immer heftiger und erbitterter, doch immer höflich in der Form. Zuletzt sagte Saß, er widerrufe jetzt seine gestern geäußerte Ansicht, daß die emanzipierten Frauen bei zukünftiger Mitarbeit an der Rechtspflege sich wenigstens zum Untersuchen trefflich eignen würden. Denn wenn eine so gescheite, hochgebildete und edle Dame wie Fräulein von Rohda eine einfache Untersuchung in echt weiblicher Weise derart führe, daß der Schelm frei ausgehe, und die Untersuchenden vielmehr in Verstöße gegen Pflicht und Wahrheit sich verstrickten, – wie werde es dann bei anderen, minder begabten weiblichen Wesen gehen?

Amalie machte in aller Artigkeit die Gegenbemerkung, daß sie durch ihre weibliche Art den Angeklagten wenigstens zum vollen Geständnis gebracht habe, was Herrn Saß mit seiner männlichen Art schwerlich würde gelungen sein.

Die Streitenden schieden zuletzt als insgeheim tief grollende Gegner, – wohl gar als »geschiedene Leute«?

Was Kaspar durch seine Hetzereien nicht erreichen konnte, das hatte er ganz ungewollt durch Geständnis, Reue und Bekehrung fertig gebracht: er hatte Saß und Amalien gründlich entzweit. Und der unglückliche Mann verabschiedete sich zuletzt mit dem schmerzlichen Bewußtsein, daß er zu all den Verlusten der jüngsten Zeit nun auch noch die einzige Freundin verloren habe.


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