Wilhelm Heinrich Riehl
Ein ganzer Mann
Wilhelm Heinrich Riehl

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Erstes Buch.

Das Museum im Haderturm.

Erstes Kapitel.

Im Wächterstübchen.

Die Stadtuhr auf dem Haderturm hatte heute früh um zehn Uhr zwölfmal geschlagen, um elf Uhr einmal, – um zwölf Uhr schlug sie gar nicht mehr.

Da sie auch weiterhin verstummte, so stieg der Ratsdiener Kaspar Zuckmeyer, welcher im Erdgeschoß des Turmes wohnte, am Nachmittag hinauf in das Stübchen des Turmwächters, um zu sehen, warum der Mann so lässig seines Dienstes walte. Denn die Uhr hatte kein Schlagwerk; der Wächter mußte vielmehr die Schläge jeder vollen Stunde mit eigener Hand an der Glocke angeben, zugleich zum Erweise seiner Wachsamkeit.

Mühselig hatte der Ratsdiener die oberste dunkle und steile Treppe erklommen und stand vor der Thür der Wächterstube, hoch oben, nahe der Turmspitze.

Heller Vogelgesang tönte ihm von innen entgegen; denn der Wächter hatte schon seit Jahren seine Einsamkeit durch eine ganze Hecke von Harzer Kanarienvögeln belebt.

Zuckmeyer klopfte kräftig an die Thüre: Niemand rief »herein!« nur die Vögel begannen zur Antwort lebhafter zu singen.

Als er die Thüre öffnete, fiel ihm der Abendsonnenschein durch das offene Fenster blendend entgegen, die roten und blauen Blumen durchleuchtend, welche dort standen, und warf einen hellen Schimmer in die Ecke, wo der Wächter – der alte Hans – im Lehnstuhle eingeschlummert lag – – entschlummert!

Denn als der Ratsdiener näher trat und den Schlafenden anrief und befühlte, fand er, daß sein alter Hausgenosse tot sei. Die Stadtuhr hatte aufgehört zu schlagen, als das Herz des Türmers zu schlagen aufgehört hatte. Und die Sonne strahlte so festlich, die Abendluft zog so belebend herein, die Blumen glühten und leuchteten, die Vögel sangen so vergnügt! Doch auch über dem Gesicht des Schläfers lag seliger Abendfriede: er war in Frieden heimgegangen.

Der Ratsdiener betrachtete den Toten eine Weile mildbewegt; dann durchrieselte ihn plötzlich ein Schauer, als er sah, wie eng sich hier Tod und Leben umschlang. Der Verstorbene hatte sich noch seinen Tisch gedeckt und auf dem Kochofen stand die erkaltete Suppe. Denn das Wächterstübchen war Küche, Wohn- und Schlafzimmer zugleich. Neben dem Sessel lehnte das große Sprachrohr, mit welchem Hans »Feuer« auszurufen pflegte. Hatte er noch um Hilfe für sich rufen wollen, als ihn der Tod überraschte?

Wie einsam hatte er gelebt, wie einsam war er gestorben! Und doch nicht einsam. Er sah ja von seiner Stube hinab in die wimmelnde Stadt, hinaus in die weite Landschaft, und er hatte sich die Welt in seine Stube gezogen, indem er alle Wände mit kleinen Holzschnitten über und über beklebt hatte, die, aus Zeitungen und alten Kalendern ausgeschnitten, ihm Dutzende von Ereignissen, Oertlichkeiten und Personen stündlich vor Augen führten. Er war den Leuten so dankbar, wenn sie ihm solche Bildchen schenkten. Das wußte man drunten in der Stadt, und gute Menschen sammelten dergleichen für ihn und gaben die Bilder beim Ratsdiener ab, daß er dem Hans auf dem Turm wieder neue Gesellschaft bringe. Und Hans lebte so traulich und zufrieden mit seinen Vögeln und Blumen und Bildern, und wann er selber die Stunden schlug, dann wußte er, wie die Zeit zur Ewigkeit geht.

Dies alles flog dem Ratsdiener jetzt durch den Kopf: er sah den Lebendigen tot, und den Toten lebendig; – ein Grausen ergriff ihn. Der Gesang der Vögel gellte ihm wie ein Geisterchor in die Ohren. Er rief ihnen zu: »Seid stille; euer Herr ist tot!« Aber die Vögel antworteten auf diesen Zuruf, indem sie doppelt laut zwitscherten und schmetterten, und er erschrak vor seiner eigenen Stimme.

Den so friedlichen und doch so schauerlichen Ort in jäher Flucht verlassend, stürzte er die Treppen hinab und kam erst wieder zur Besinnung, als er in seiner Stube angelangt war.

Dann eilte er hinüber ins Rathaus, um dem Bürgermeister den plötzlichen Tod des Wächters zu melden.

»Der alte Hans war eine gute, treue Seele,« so schloß der Ratsdiener seine Meldung. »Gott gebe ihm die ewige Ruhe. Sein Tod thut mir wirklich leid. Allein« – hier wischte er sich eine Thräne aus dem Auge – »dieser Tod wird der Stadt noch nützlicher sein als es des Wächters Leben war. Jetzt muß der alte Haderturm doch endlich fallen. Ist der gute alte Hans nicht mehr, dann schlägt auch die Uhr nicht weiter, und wir können sie an einen andern Platz versetzen und mit einem eigenen Schlagwerk versehen. Ohne Uhr ist aber auch der Haderturm zu gar nichts mehr nütze und kann abgebrochen werden. Ich bin nicht abergläubisch. Allein zeigen nicht alte Häuser oft genug den baldigen Tod eines Inwohners an durch Krachen der Balken und Herabrieseln des Bewurfs? So hat auch der unerhört geschwinde Sterbfall des armen Hans das baldige Ende des Turmes angezeigt.«

»Ratsdiener, Ihr habt recht,« sagte der Bürgermeister. »Es kommt in der Politik überall nur darauf an, wie man die Sachen deutet, und gute Vorzeichen und ihre geschickte Deutung haben in den Römerzeiten manchmal eine halbe Armee aufgewogen. Der Haderturm muß fallen. Und der jähe Tod des Wächters soll unsre Partei stärken, er soll sie als ein neues Zeichen ermuntern, zur rasch entschlossenen That, daß endlich auch der Turm den jähen Todesstoß erhält.«


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