Wilhelm Heinrich Riehl
Ein ganzer Mann
Wilhelm Heinrich Riehl

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Zweites Buch.

Freundschaft in des Lebens Not.

Erstes Kapitel.

Im Wächterstübchen.

Am 1. September erklärte sich Alfred Saß dem Bürgermeister in aller Form bereit, die Rohdasche Sammlung zu übernehmen. Er hatte sich also noch lange genug besonnen.

Am 7. September erhielt er eine Urkunde des Magistrats, welche ihn zum Vorstande des Museums ernannte, zugleich unter Aussprache des Dankes, daß er sich diesen Pflichten ohne jegliches Entgelt unterziehe in selbstlosem altväterlichem Bürgersinn.

Am 8. September vormittags begab sich Saß in den Haderturm, um die Räume doch einmal zu sehen, welche er so schön einrichten wollte. Er war seit seiner Knabenzeit nicht mehr in dem verhaßten alten Gemäuer gewesen.

Der Ratsdiener Kaspar Zuckmeyer wollte ihn begleiten. Allein Saß lehnte es ab. Bloß von seinen Gedanken begleitet, wollte er durch die verödeten Räume schreiten, um sie mit seiner Einbildung zu beleben und sofort das wundersame Neue, was er zu schaffen gedachte, hineinzuzaubern.

Der Ratsdiener rief ihm nach: »Wenn Sie sich eilen, Herr Saß, und sofort zur Spitze ins Wächterstübchen steigen, dann können Sie dort oben zum erstenmal wieder – punkt Zehn – die Turmuhr schlagen hören. Der neue Wächter tritt heute den Dienst an.«

So war es in der That.

Seit des alten Wächters Tode hatte die Uhr nicht mehr geschlagen. Die Stelle war nicht wieder besetzt worden, weil ja der Abbruch des Turmes für nächste Zeit in Aussicht stand, bis nunmehr Alles zum alten Stande wieder zurückkehrte.

Eine ganze Schar Kinder und großer Leute trieb sich bereits auf dem Platz vor dem Turm umher, um zu hören, ob der neue Wächter die Schläge der Stunde ebenso genau und kräftig geben werde wie es der alte gethan.

Wir sind allzumal Kinder, und so sprang auch Alfred Saß in kindischer Lust die Treppen hinauf, je zwei Stufen auf einmal nehmend, damit er oben noch viel näher die Glockenschläge zu hören bekomme, welche die Wiederauferstehung des schon tot gesagten Haderturmes verkündeten, als das Volk da unten. Er konnte dann ja das Innere des Turmes auch von oben nach unten gründlich betrachten.

Als er atemlos das menschenleere Wächterstübchen betrat, schlug die Glocke unmittelbar unter ihm, gemessen und weithallend zehn Uhr.

Ein unerklärlicher Schauer ergriff ihn bei dem tiefen, wuchtigen Schall, der ihm erschütternd ins Ohr dröhnte und den Boden unter seinen Füßen zittern machte. Und lange noch summte der letzte Ton nach, leise verhallend.

Des Menschen Leben zerrinnt wie das Wasser und sein Andenken verklingt wie der Glocke Ton.

Die Septembersonne leuchtete so festlich hell in das traute Stübchen wie damals die Maisonne, als der alte Wächter mit dem letzten Stundenschlag seine eigene letzte Stunde angeschlagen hatte. Der Nachfolger hatte das Stübchen übernommen wie es gewesen; Blumen schmückten die Fenster, die aufgeklebten Holzschnitte die Wände, und neue Vögel sangen so fröhlich wie vordem die alten.

Saß stand lange traumverloren; der lichte Sonnenschein, der freundliche Raum mutete ihn melancholisch an: der Glockenklang hatte ihn so ernst gestimmt; er gedachte des alten Wächters und seiner Todesstunde.

Plötzlich öffnete sich die Thür; der Träumer schrak zusammen. Allein es war kein Grund zum Erschrecken. Der neue Wächter trat ein, erstaunt, einen Besuch zu finden. Als er jedoch Herrn Saß erkannte, begrüßte er ihn sehr ergeben und sagte dem Herren, dessen Gunst ihm ja wertvoll sein mußte, wie dankbar und glücklich er sei, daß er dieses stille, hohe Pöstchen erhalten habe, und daß der Turm nun für ewige Zeiten stehen bleibe.

»Wie wenig gehört doch dazu, arme Leute glücklich zu machen,« so dachte Saß und ward froh mit dem Frohen, und sie plauderten geraume Zeit gemütlich miteinander.

Da riß der Ratsdiener die Thüre auf und stürzte herein und rief: »Es ist ein großes Unglück geschehen! – Man schickt nach Ihnen, Herr Saß, kommen Sie schnell hinunter! – Ihr Bruder ist jählings gestorben, – vom Schlag gerührt, – vor einer halben Stunde – es war mit dem Glockenschlag zehn Uhr!«

Saß war versteinert. Er wußte kaum, was er gehört, und doch war es ihm, als hätte er so etwas zu hören erwartet, als hätte er so etwas hören müssen.

Er eilte hinab zum Hause des Bruders, der so still und bleich auf seinem Sterbebette lag.

Die beiden Brüder hatten sich herzlich geliebt, sie waren in ihrem ganzen Lebensgange immer und innig verbunden gewesen; dennoch konnte Saß jetzt nicht weinen. Der tiefste Schmerz ist im ersten Ansturme stumm und thränenlos.

Und es gibt so viel zu thun für die nächsten Angehörigen, wann unerwartet der Tod in ein Haus hereinbricht, so viel Aeußerliches, Geschäftliches, welches uns sonst unerträglich dünken würde, und welches wir doch jetzt ohne Murren auf uns nehmen, welches im schneidendsten Widerspruche mit unserer Seelenstimmung steht, und welches wir dennoch thun müssen.

Dieses Lästigste wird uns zur Wohlthat, – zum Selbstvergessen, Schmerzvergessen.

Und zuletzt finden wir einen Segen in dem äußeren Zwang, einen Trost, der uns über die schwersten Stunden unmerklich hinwegträgt. Wir erheben uns, – nicht indem wir uns einsam und thatenlos sinnend und brütend in unsern Schmerz versenken, – denn dies wäre das Schlimmste – sondern indem wir dem Rufe der Pflicht folgen, wir erheben uns durch die That, in gezwungener rauher Berührung mit der Außenwelt, und sei diese That auch nur eine Kette von kleinen, notwendigen Liebesdiensten, die wir dem Verstorbenen widmen.

Alfred Saß war der einzige nächstverpflichtete Verwandte seines geschiedenen Bruders Otto, der jetzt für Alles sorgen mußte. Otto war Witwer gewesen und hinterließ zwei unmündige Söhne. Ungeahnt hatte ihn der Tod überrascht; er hatte sein Haus nicht bestellt. Wie es mit des Bruders weitverzweigten Geschäften stand, das wußte Alfred selbst nicht genau, obgleich er als »stiller Teilhaber« den größten Teil seines eigenen Vermögens bei dem »Hephästos« hatte mitarbeiten lassen. Ein Berg von Aufgaben türmte sich vor ihm. Aber vorerst galt es, das Nächste zu besorgen, was jeder Todesfall schon in den ersten Stunden mit sich bringt.

Alfred Saß war während des ganzen Tages nicht zu sich selbst gekommen. Am Abend versagte ihm die Kraft; er mußte ausruhen, er bedurfte der Stille, der Einsamkeit, um nicht zusammenzubrechen.

Er suchte Ruhe und Sammlung zuerst in seinem Hause. Allein die behagliche, schöne, ja prächtige Einrichtung, die er sich seit Jahren geschaffen, die er so oft mit Stolz und Wohlgefallen betrachtet hatte, die von so vielen Stunden heiterer Geselligkeit erzählte, sah ihn kalt und abstoßend an. Ihn fröstelte im eigenen Heim.

Ohne klar zu erwägen, was er eigentlich wolle, ging er zum Haderturm. In das Wächterstübchen stieg er freilich nicht wieder hinauf: er blieb unten auf dem schmalen Flur neben der Wohnung des Ratsdieners und setzte sich auf die steinerne Bank, welche in eine Fensternische eingelassen war. Hier in dem öden, engen Raume atmete er mit einemmale frei.

Er machte sich die neue Lage klar, in die er so plötzlich hineingeschleudert worden. Vielfache, große und drängende Aufgaben stürmten auf ihn ein. Sein vergangenes, so heiter befriedetes Leben versank vor seinen Augen wie ein schillernder Traum beim mählichen Erwachen.

Er mußte der Vater seiner verwaisten Bruderskinder werden, er mußte das verwaiste Haus neu aufbauen, das verwaiste Geschäft fortführen, er mußte überall ordnen, festigen, retten. Nur an das Museum, welches er ja gleichfalls ordnen sollte, dachte er anfangs nicht. Allein zuletzt gemahnte ihn der Ort, wo er saß, auch an diese Aufgabe. Er lächelte wehmütig darüber als eine Spielerei.

Dann versank er wieder in tiefen Trübsinn. Seine ganze jüngste Vergangenheit mit all ihren seltsamen Erregungen erschien wie ein müßiges Kinderspiel, von welchem wir beschämt aufspringen, wenn uns der Ernst des Lebens packt. Und doch nicht ganz kindisch. Spielen nicht auch alte Kinder sehr ernsthaft, und ist nicht auch der herbste Ernst des Lebens nur ein Spiel?

Sein Thun und Treiben war bisher wohl zielbewußt im Kleinen gewesen, aber ziellos im Großen. Jetzt lagen größere Ziele allerorten vor ihm, schwer erreichbare, denen er mit gesammelter Thatkraft und zugleich aufopfernd und entsagend zusteuern mußte. Er raffte sich auf; er wollte ein neuer Mann werden.

Den alten Haderturm hatte man so oft das Verhängnis der Stadt genannt: seit jüngster Zeit schien sich auch sein Verhängnis an diesen Turm zu knüpfen. Aber es sollte ein segensreiches Verhängnis sein, so dachte er, und es überkam ihn, als stehe er heute auf dieser Stätte an dem entscheidendsten Wendepunkte seines Lebens.

Die Abendglocken begannen vom nahen Kirchturm zu läuten; sie hatten ihm sonst immer so friedlich, so besänftigend geklungen. Jetzt erschütterten sie ihn, und ihm deuchte, als sängen sie: Memento mori! Gedenke, daß du sterben mußt! Unwillkürlich faltete er die Hände. Da klang ihm allmählich der fromme Glockenton ganz anders und die Glocken riefen: Memento vivere! – Gedenke, daß du leben sollst!

Im Geistesschauen des Todes, der uns umringt, erwächst dem gesunden Menschen neue Lebenskraft und neuer Lebensmut.

Es war dunkel geworden; die ganze Außenwelt hatte sich schwarz verhüllt vor dem Auge des wachen Träumers; doch in seiner Seele glühte und funkelte es.

Da weckten ihn die hallenden Tritte des Ratsdieners. Er raffte sich auf und verließ den Turm festeren Schrittes als er vor einer Stunde gekommen war.


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