Wilhelm Heinrich Riehl
Ein ganzer Mann
Wilhelm Heinrich Riehl

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Zweites Kapitel.

Herrenturm und Haderturm.

In den Urkunden, Akten und Büchern hieß der Haderturm eigentlich der »Herrenturm«, allein im Sprachgebrauch der ganzen Stadt Frankenfeld wurde er seit unvordenklichen Zeiten nur der Haderturm genannt.

Und nicht mit Unrecht. Denn seit seiner Erbauung bis auf den heutigen Tag hatten sich zahllose Geschichten von Streit und Hader an diesen Turm geknüpft.

Ein mächtiger, hoher Bau, verdankte er seinen Ursprung jenen blutigen Kämpfen zwischen Patriziern und Zünftlern, welche im 14. Jahrhundert so viele Städte Deutschlands durchtobten. Ungleich andern Städten jedoch hatten sie hier mit dem vollen Siege der patrizischen Geschlechter geendet. Um bei etwa erneutem Aufruhr von vornherein den besten Stützpunkt zu haben, erbauten die Patrizier dann den festen Turm, der mitten in die breite Hauptstraße und in die nächste Nähe des Rathauses gestellt, die ganze innere Stadt beherrschte und nach seinen siegreichen Erbauern der Herrenturm genannt wurde.

Das kleine Frankenfeld war damals noch Reichsstadt. Im folgenden Jahrhundert kam es unter landesherrliche Gewalt. Die trutzigen Bürger wollten sich anfangs den Verlust ihrer Freiheiten nicht so gutwillig gefallen lassen und lehnten sich, wo sie konnten, gegen den neuen Herren auf. Da erweiterte und verstärkte dieser den Herrenturm, legte eine ständige Besatzung hinein und machte ihn zum Zwing-Uri seiner nicht allzugetreuen Bürger.

Als dann später die Fürstengewalt immer stärker wurde und die Städter sich nicht mehr zu mucksen wagten, verlor zwar der Turm diese Bedeutung, allein ein Gegenstand des Streites blieb er doch immer, selbst als er in unserm Jahrhundert Eigentum der Stadt wurde. Die Bürger stritten sich jetzt über den Haderturm, wie sie früher vom Haderturme aus bestritten worden waren.

Der mächtige Bau, alle andern Gebäude der Stadt überragend, geräumig im Innern, an Lage und Gestalt fast dem »Altpörtel« in Speyer vergleichbar, hatte oberhalb des festen, gewölbten Erdgeschosses noch drei Stockwerke mit ansehnlichen Stuben und Kammern, über welchen dann ein gedeckter Umgang mit der Wächterstube den massiven Ausbau abschloß, der ganz oben von einem Zeltdache bekrönt war.

Zur Zeit unserer Geschichte war der Turm nur noch im Erdgeschosse von dem Ratsdiener bewohnt, und in der luftigen Höhe von dem Wächter. Die stattlichen Innenräume der drei Stockwerke dienten lediglich Mäusen, Ratten und Fledermäusen zum fröhlichen Tummelplatz, und unter dem Zeltdache nisteten die Dohlen..

Man schrieb 1869. Der deutsche Bund war versunken und das deutsche Reich noch nicht erstanden, Deutschland harrte großer Dinge, die sich erfüllen sollten, aber Niemand ahnte, daß sie so bald sich erfüllen würden. Einstweilen stritt man sich, wie zu aller Zeit, auch über kleine Dinge.

Seit mehreren Jahren ging eine heftige Bewegung durch die Frankenfelder Bürgerschaft: der Haderturm sollte abgebrochen werden. Die ganze Stadt war darüber in zwei Parteien gespalten, die sich recht gehässig befehdeten, und die »Turmfrage« hatte zuletzt den Frieden des geselligen Lebens völlig zerstört.

Jede der beiden Parteien trug einen Spitznamen, den ihr die Gegenpartei gegeben hatte. Doch das war nichts merkwürdiges; denn in der Stadt bekam überhaupt jeder Einzelne seinen Spitznamen, und die Stadt selbst erhielt einen solchen von den Nachbarorten. Wie man Darmstadt in Armstadt verwandelte und Schwalbach in Schmalbach, so hatte man Frankenfeld in Zankenfeld umgestaltet, wofür ja dann das hochragende Wahrzeichen des Haderturms ganz gut paßte. Kenner des deutschen Volkstums werden aus dieser Blüte der Spitznamen mit Recht schließen, daß Frankenfeld im rheinischen Mitteldeutschland liegt.

Die Freunde der Erhaltung des Turmes hießen die »Fledermäuse«, weil sie mit gleicher Liebe und Treue wie diese artigen Tierchen an dem alten Gemäuer hingen. Sie gaben aber ihren Gegnern den Spott zurück und nannten die Eiferer für den Abbruch, welche vorlängst auch schon die letzten malerischen Reste der alten Stadtmauer zerstört hatten, die »Mauerbrecher«. Dies war ein prophetisches Wort. Denn wenige Jahre später, als der Abbruch monumentaler Türme und Thore von Nürnberg einen Sturm der Entrüstung im ganzen gebildeten Deutschland hervorrief, hat Hermann Allmers den »Meistersängern von Nürnberg« die »Mauerbrecher von Nürnberg« in poetischer Satyre gegenübergestellt.

Die »Fledermäuse« in Frankenfeld wurden damals, wie auch anderswo, von den »Mauerbrechern« bedeutend überflügelt. Letztere hatten die Mehrheit im Rathause, bei den Bürgern, in der Presse, und die Regierung wollte ihnen nicht vor den Kopf stoßen, weil der Landtagsabgeordnete für Frankenfeld der hartköpfigste Mauerbrecher war. Ist doch damals auch anderswo gar manches Geschichtsdenkmal unsers Volkes politisch verschachert worden!

Die Mauerbrecher brachten in der That viele und vortreffliche Gründe für den Abbruch des Turmes vor, – wenigstens ganz dieselben, welche man auch an andern Orten hörte.

Der Turm, so sagten sie, stört den Verkehr, obgleich sehr wenig Verkehr zu sehen war und man auf der rechten und linken Seite mit zwei Heuwagen bequem um den Turm herumfahren konnte, während ein dritter Heuwagen durchs Thor mittendurch fuhr. Allein wir leben im Zeitalter des Verkehrs, und kein Mensch kann sagen, daß der Verkehr durch Türme gefördert werde.

Der Amtmann Schnaufer, ein eifriger Sonntagsreiter, war zwanzig Häuser vor dem Turme vom Pferd gefallen und behauptete, daß nur der Haderturm schuld daran gewesen sei, weil das Pferd vor seiner gespenstigen Erscheinung gescheut habe.

Der Turm warf abends seinen Schatten auf die Ratsapotheke, und der Apotheker, Herr Fink, erklärte, mehr Luft, mehr Licht seien die ersten Vorbedingungen zur »Assanierung« unserer Städte: der Turm müsse fallen aus Gründen der Hygiene. Statt seiner sollte – nach dem Vorschlag des Kattunfabrikanten Müller – ein kleiner Springbrunnen auf den Platz kommen, der seinen Schatten auf kein Haus, sondern nur aufs Straßenpflaster werfe. Man war bereits einig über einen Plan für denselben, der sich durch Neuheit auszeichnete: ein Meergott, auf einem Delphine reitend, bläst Wasser aus einem Muschelhorn. Dieser Gedanke hatte wenigstens durchaus nichts mittelalterliches, und gerade das Mittelalter war es, was den Stadtverordneten und Seifensieder Schröder – er sott Seife im großen – bei dem Haderturm am meisten ärgerte. »Weg mit dem Turme!« rief er. »Wir wollen keine Romantik, wir wollen Freiheit, Aufklärung, Neuzeit, Jetztzeit!« Beim Aussprechen des letzten Schlagwortes befiel ihn ein heftiges Niesen, und physiologische Sprachforscher behaupten, dieses schöne neue Wort lasse sich überhaupt besser ausniesen als aussprechen.

Weil alle übrigen reichsstädtischen Reste von Mauern, Türmen und Thoren Frankenfelds im letzten Jahrzehnt gefallen waren, so behaupteten die Mauerbrecher, der Haderturm könne doch jetzt unmöglich mehr allein stehen bleiben, er müsse verschwinden, damit man folgerecht sei und reinen Tisch mache. Die Fledermäuse aber sagten: umgekehrt, weil man so barbarisch gewesen, alle übrigen Denkmale der Väter zu zerstören, so müsse der einzige und schönste zur Zeit noch gerettete Rest, der stolze Herrenturm um so pietätvoller erhalten werden. So führte man die gleichen Thatsachen an, um völlig entgegengesetzte Folgerungen daraus zu ziehen, wie es auch sonst in Parteikämpfen nicht selten geschehen soll.

Am meisten schadete dem gotischen Bauwerk unsers Turmes jedoch der kleine Altan mit reizend durchbrochenem Steingeländer über dem Portal, der von Kennern für einen hochfeinen künstlerischen Schmuck erklärt wurde. Er hatte vordem sowohl zur Verteidigung des Portals gedient wie auch, um von dort herab das vor dem Rathaus versammelte Volk anzureden.

Der jetzt regierende Bürgermeister war anfangs schwankend gewesen, ob er zu den Fledermäusen oder zu den Mauerbrechern halten solle. Im Grunde gefiel ihm der alte Turm: hatte er ihn doch seit seiner früheren Jugend immer vor Augen gehabt, und was wir mit Kindesaugen oft und gern betrachtet haben, das bleibt uns auch später ins Herz gewachsen, als wäre es ein Stück von uns selber. So hatte der Bürgermeister unlängst den Entschluß gefaßt, dem Haderturm nach alter Sitte eine neue Weihe als Herrenturm zu geben, indem er am Geburtstage des Landesherrn den Altan über dem Portale bestieg, um von dort herab den zum Rathaus wallenden Festzug der Bürger mit feierlichen Worten zu begrüßen.

In dieser Rede war er aber zweimal stecken geblieben und hatte zuletzt aufgehört, nicht weil er fertig war, sondern weil er nicht weiter konnte.

Von Stund an verwandelte sich seine stille Neigung für den Turm in glühenden Haß. Es war ihm nun offenbar, daß der Haderturm zu gar nichts tauge, nicht einmal zu einer Volksrede. In der nächsten Ratssitzung warf er sein entscheidendes Wort für den Abbruch mit Leidenschaft in die Wagschale, wobei er jedoch keine Silbe von der Nichtsnutzigkeit des Altans sprach, wohl aber desto mehr von dem schweren Geld, welches die Erhaltung des alten Gemäuers zwecklos der Gemeinde koste.

Wenige Tage nachher erfolgte der jähe Tod des Turmwächters. Und nicht bloß der Ratsdiener, sondern auch andere Leute erkannten darin ein Vorzeichen, daß mit der letzten Stunde des Wächters auch des Turmes letzte Stunde geschlagen habe.


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