Wilhelm Heinrich Riehl
Ein ganzer Mann
Wilhelm Heinrich Riehl

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Zwölftes Kapitel.

Weihnachten und Neujahr.

Ganze acht Tage sah und hörte Alfred Saß nichts von Amalien. Er schmollte nicht wegen ihres Streites: dafür war er zu gutmütig und dachte, Freunde, welche sich niemals gestritten, können nur erst seit kurzem Freunde sein.

Um so tiefer bewegte ihn die Doppelfrage, ob er, seiner Pflicht getreu, gegen Zuckmeyer beim Bürgermeister vorgehen, oder Amalien zulieb von der ganzen Geschichte schweigen solle. Leichtfertige Leute werden nicht begreifen, wie er sich über diese Frage abmartern konnte; allein Saß war eine tiefgründige Natur.

Da leuchtete ihm – es war am Morgen des 24. Dezember – ein rettender Gedanke auf.

Er schrieb einen Brief an Amalien, folgenden lakonischen Wortlautes:

»I. Ihr seliger Bruder, verehrtes Fräulein, verschloß die Prozeßakten gegen Levi Meyer. Sind dieselben etwa ohne seinen Willen in die Sammlung geraten, welche er der Stadt vermachte? –

»II. Können Sie demnach diese Akten als Ihr Privateigentum auch heute noch zurückfordern?

»Beantworten Sie mir, ich bitte inständig, diese Fragen mit Ja oder Nein.

Alfred Saß.«

Er schickte sofort einen Boten mit diesem Fragezettel an das Fräulein, welcher denselben schon nach einer Viertelstunde wieder zurückbrachte mit der gleichfalls ganz kanzleimäßig und noch viel kürzer ad marginem geschriebenen Antwort:

»I und II. Von kurzer Hand, verehrter Herr, beantworte ich Ihre beiden Fragen mit Ja.

Amalie von Rohda.«

Saß war glücklich über diese zwölf Worte. Wenn Zuckmeyer das Eigentum des Fräuleins verbrannt hatte, dann konnte sie dem Sünder vergeben oder ihn verklagen. Was kümmerte ihn – Saß – dieses weiter? Für ihn war, aktenmäßig zu reden, sein innerer Konflikt jetzt »gegenstandslos« geworden.

Und in der hellen Freude darüber fiel ihm zuletzt auch ein, woran er den ganzen Morgen noch nicht gedacht hatte, daß heute der Vorabend des Christtages sei, und er meinte, die befreienden zwölf Worte Amaliens seien das schönste Christgeschenk gewesen, was er im voraus hätte erhalten können, und er war so freudestrahlend darüber wie ein Kind über die schönste Puppe auf seinem Weihnachtstisch.

Der Abend kam heran. Noch vor einem Jahre war, wie allezeit im Hause des reichen Alfred Saß, das glänzendste Christfest gefeiert worden. Im Saale hatte ein lichtstrahlender Tannenbaum gestanden, der vom Boden bis zur Decke ragte. Verwandte und Freunde waren zu einer heiteren Gesellschaft vereinigt, die Tische mit kostbaren Gaben in Fülle bedeckt.

Heuer wollte Saß die hohen Stunden ganz in der Stille mit seinen beiden Neffen feiern. War das Jahr 1869 doch das Todesjahr seines Bruders, ihres Vaters, gewesen. Lange hatte er sich besonnen, ob er diesmal überhaupt einen Baum anzünden solle; allein er dachte dann, durch unser Kreuz und Leiden leuchtet doch immer die frohe Botschaft von der Geburt des Herrn, ja sogar um so heller, je schwerer der Schmerz ist, welcher uns verdüstert. Und so war er am Nachmittag noch ausgegangen, ein kleines Bäumchen zu kaufen, dessen wenige Lichter er selber anzündete und die ihm nun doch weit freundlicher und ergreifender erstrahlten wie vordem das Sternengeflimmer des großen Baumes, der vom Boden bis zur Decke geragt hatte.

Es machte Saß eine wehmütige Freude, diesmal für die Bescherung Alles so herzurichten, wie es ihm aus früher Jugend, aus dem Elternhause noch in heller Erinnerung stand.

Punkt sechs Uhr läutete er mit einem kleinen Glöckchen. Die beiden Neffen hatten draußen schon lang dem Silberklange entgegengelauscht, wie es der Oheim vor Jahrzehnten gethan. Sie eilten herein und standen froh bewegt vor dem Bäumchen und den bescheidenen Geschenken, welche der getreue Oheim in sinniger Auswahl danebengelegt hatte. Auch sie waren ja früher an eine weit reichere Christbescherung gewöhnt gewesen, und doch dünkte ihnen die heutige ganz besonders schön.

Der Oheim aber hieß sie sich niedersetzen und sprach das Lied »Vom Himmel hoch da komm' ich her« und las ihnen das Weihnachtsevangelium vor. So war es der Brauch gewesen in seines Vaters Hause; und nun erst konnte Jeder der Beiden sich der Betrachtung der Gaben erfreuen, welche ihnen das Christkind gebracht hatte und dem väterlichen Geber danken und auch ihm ihre kleinen selbstverfertigten Geschenke überreichen.

Als sie hierauf aber ganz vergnüglich miteinander plauderten, nahm sich Georg, der Aeltere, ein Herz und sagte zaghaft und stotternd, der liebe Oheim habe sie so über Erwarten beschenkt, und doch hätten sie Beide sich noch ein ganz besonderes Christkindchen ausgedacht, dessen Besitz sie erst recht glücklich machen werde, und um dieses wollten sie ihn unter dem brennenden Baume jetzt noch bitten. Er möge erlauben, daß sie Beide – umsattelten, so daß er – Georg – aus der technischen Schule in das Gymnasium übergehe und Friedrich aus dem Gymnasium in die technische Schule. Denn nachdem sie durch des Oheims Führung und Beispiel seit etlichen Monaten lernen gelernt, sähen sie nun erst recht, was sie eigentlich lernen sollten, und so mochten sie nun übers Kreuz tauschen, er möchte ums Leben gern ein griechisch gelehrter Philologe werden und Friedrich ein großer Fabrikant.

Alfred war wie aus den Wolken gefallen bei dieser Bitte, welche ihm selbst gerade nicht die angenehmste Christbescherung schien. Und doch hatte auch er schon manchmal im Stillen das Gleiche gedacht. Schweigend sann er lange, welche Antwort er geben solle.

Da rief Friedrich, er habe neuerdings die Biographien vieler berühmter Männer gelesen und dabei entdeckt, daß fast Zweidrittel derselben, mitunter sogar sehr spät, umgesattelt und so erst ihren wahren Beruf gefunden hätten.

Der Oheim aber bemerkte: »Hättest du die Biographien ebenso vieler unrühmlicher Männer lesen können, die es zu gar nichts gebracht haben, außer daß Einer um den Andern ein Lump geworden ist, so hättest du gefunden, daß unter ihnen gleichfalls Zweidrittel nicht bloß einmal, sondern oft drei- und viermal umgesattelt haben. Deine Statistik rührt mich also nicht. Allein ich will mir die Sache bedenken. Und damit ihr doch am Christabend nicht ganz leer ausgeht mit dem erwünschten Geschenk, sage ich euch, daß ich mich des Ernstes freue, mit welchem ihr jetzt an eure Lebensaufgabe zu denken beginnt.«

Nach diesen Worten mußte er über sich selber lächeln; denn er kam sich vor wie ein diplomatischer Minister, der einem Bittsteller sein Wohlwollen ausspricht und ihm allerlei Schönes sagt, nur nicht Ja oder Nein.

Die Neffen aber sprangen jubelnd auf und riefen: »Der Onkel hat nicht Nein gesagt! Der Onkel hat nicht Nein gesagt!« und sie nahmen das nicht gesagte Nein für ein ebenso schönes Christgeschenk, wie der Oheim vorher das zweimal gesagte Ja Amaliens dafür genommen hatte.

Am nächsten Vormittag faßte Saß einen raschen Entschluß. Er ging zu Amalien. Von der leidigen Sache Kaspars und ihrem Zwist wollte er nicht mit ihr reden, er wollte ihr nur einen freundlichen Festbesuch machen zum Zeichen, daß zwischen ihnen Alles wieder beim Alten sei. Vielleicht hatte auch sie einen überraschenden Wunsch, dessen Erfüllung ihr die schönste Weihnachtsgabe sein würde.

Er traf Amalien zu Hause und fragte, wie sie den heiligen Abend verbracht.

»Ich war ganz allein,« antwortete sie, »und habe mir nicht einmal einen Christbaum angezündet. Der ist nicht für den Einsamen, er setzt einen Familienkreis voraus, sei dieser auch noch so klein, oder einen Freundeskreis. Und doch hatte ich einen weihevollen Abend. Als es dunkel geworden, hüllte ich mich in meinen Pelz und ging hinaus in den Park zu der jungen Tannengruppe, in deren Mitte der große uralte Tannenbaum ragt, der letzte Rest des Waldes, welcher einst hier gestanden. Dort schritt ich lange sinnend auf und ab: die Gedanken an all das Schwere und doch auch wieder Erhebende, was ich seit der vorigen Weihnacht erlebte, waren meine Begleiter. Ein einzelner heller Stern blitzte durch die Gipfelzweige der Tanne gleich dem Sterne, der über Bethlehem stand, und ich summte vor mir ein Kinder-Weihnachtslied, welches mich meine Mutter gelehrt hat, als ich fünf Jahre alt war. Da begannen alle Glocken der Stadt zusammenzuläuten, ihr wogender Schall klang wundersam herauf in meine Einsamkeit, und mir war, als sängen sie im vollen Chor: ›Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!‹ War das nicht auch ein schöner Christabend?

»Und als ich wieder in mein Zimmer zurückkehrte, überraschte mich noch ein Christgeschenk, welches inzwischen eingetroffen war: eine kleine Kiste aus Athen, die mir das Porträt meiner Freundin Hermine brachte und einen langen, lieben Brief dazu. Sehen Sie selber. Welche Freude bereitet mir das Gemälde!«

Bei diesen Worten führte sie Saß in das Nebenzimmer, wo ein meisterhaft in Oel gemaltes Brustbild der fernen Freundin aufgestellt war, nur etwa in Drittels-Lebensgröße, aber aufs geistvollste durchgeführt und sprechend ähnlich, von einem feingeschnitzten schmalen Goldrahmen umfaßt.

Saß betrachtete das Bildnis tiefbewegt. Ihm war, als trete ihm die so oft geträumte Erscheinung leibhaftig entgegen mit den leuchtenden dunklen Augen, dem reichen schneeweißen Haar, den edelfeinen Zügen. Nur ein leiser Zug des Schmerzes war ihm fremd, der um ihre Lippen spielte.

Nachdem Beide das Bild eine Weile betrachtet hatten, sprach Amalie: »Dieses zur Neige gehende Jahr brachte mir das in meinem Alter so seltene Glück eines neuen Freundschaftsbundes voll jugendlicher Begeisterung, voll gegenseitiger Hingabe und Innigkeit. Mir selbst ist es ein Rätsel, wie Hermine sich so plötzlich zu mir fand und ich mich zu ihr, daß es uns heute dünkt, wir seien unser ganzes Leben lang aufs engste verbunden gewesen. Aber das Jahr brachte mir noch ein anderes Glück. Ich lernte Sie, mein Freund, kennen, schätzen und lieben. Unser jüngster kleiner Zwist machte mir vollends klar, wie wert Sie mir geworden sind, und ich fühle mich heute gedrungen, Ihnen dieses auszusprechen. Die Welt hat unsere Freundschaft bereits gelästert, als wir selbst uns ihrer noch kaum bewußt waren. Liebende machen sich Geständnisse und Bekenntnisse, aber auch dem Freunde können wir gestehen und bekennen, wie teuer er uns ist. – Darf ich das?«

Saß ergriff entzückt ihre Hand; er sprach nur wenige Worte, aber sie machten seiner tiefen, längst erwachten Zuneigung zu dem trefflichen Wesen Luft, welches ihm jetzt in der mit herzbewegender Liebenswürdigkeit geflüsterten kurzen Frage auch ihre Zuneigung erschlossen hatte.

Amalie deutete auf das Bild: »Hermine lächelt uns freundlich zu. Die Liebe duldet keine zweite Liebe, aber die Freundschaft kann sich vervielfachen, wenn uns nur der zweite Freund in ganz anderer Weise lieb und wert ist wie der erste. Durch den Verkehr mit Herminen erfuhr ich erst recht – und fast zu meinem Schrecken –, wie jung ich eigentlich noch bin, und durch den Verkehr mit Ihnen, teuerer Freund, habe ich mit stillem Vergnügen erfahren, wie alt ich bereits geworden.«

»Wollen Sie das Wort ›alt‹ streichen und statt dessen setzen, wie ›weise‹ Sie geworden sind, dann mögen Sie recht haben,« berichtigte Saß. »Aber kehren Sie jetzt auch einmal gegen mich nicht Ihre Weisheit, sondern Ihre Jugend heraus. Ich möchte Ihnen mein Herz ausschütten in dieser geweihten Stunde und zur Besiegelung unsers Freundschaftsbundes. Ich möchte Ihnen anvertrauen, was ich noch keiner Seele vertraut habe, und ich weiß, daß Sie es als ein Geheimnis bewahren werden, als ein Geheimnis namentlich vor Ihrer Freundin.«

Amalie entgegnete, sie gebe nie ein Versprechen, bevor sie wisse, worum es sich handle; dennoch könne er auf ihre Verschwiegenheit zählen.

Saß schilderte nun, zuerst etwas befangen, dann immer wärmer, zuletzt im großen Zug der Rede, wie er plötzlich von wunderbarer Zuneigung für Hermine ergriffen worden sei, wie diese Neigung um so mehr sich gesteigert habe, als die holde Gestalt ihm entflohen sei, ihm immer unerreichbarer geworden. Man sage sonst: aus den Augen, aus dem Sinn, allein als Hermine ihm aus den Augen gewesen, da sei sie ihm erst recht in den Sinn gekommen. Niemals habe er der still Verehrten seine Liebe aussprechen können, niemals von ihr ein Zeichen wärmerer Teilnahme erhalten. So einseitige Schwärmerei in bloßen Gedanken und ohne Gegenliebe könne ungesund, könne närrisch erscheinen. Allein habe nicht Hermine als junges Mädchen ähnlich geliebt? Freilich sei dann diese verschlossene, sich in sich verzehrende Liebe zur Tragik ihres Lebens geworden! Als er dies aus Amaliens Erzählung erfuhr, habe er zuerst aufgejauchzt und sei doch fast zugleich wieder tief traurig gewesen. Sein und ihr Lebensgang, äußerlich so verschieden, enthalte doch so viel des Gemeinsamen. Auch er habe lang im Glücke gelebt und sei doch nicht glücklich gewesen, weil er keine wahre Lebensarbeit, keinen vollen Mannsberuf besessen. Jetzt sitze er nicht mehr im Glück, aber es erquicke ihn der Segen strenger Arbeit, er wisse seit seines Bruders Tode, wofür er da sei. Wisse dies auch Hermine? Was würde sie sagen, wenn sie jetzt in seiner Seele lesen könne, sie, die er verehre wie ein höheres Wesen, und die nun doch noch gar ein klein wenig von ihm lernen könne? Wäre es möglich, daß sie ihn jemals wiederliebe? wäre es möglich, daß sie jemals die Seine würde? So vermessen habe er sich früher oft gefragt. Jetzt frage er nicht mehr so; er könne nur noch entsagen, er ein unbedeutender, ein armer Mann, dem nichts mehr übrig geblieben, als abhängig in fremdem Geschäfte zu arbeiten und seine Neffen zu erziehen. Darum bekenne er jetzt Amalien, und ihr allein, was er bis dahin kaum sich selbst bekannt: – der Roman sei zu Ende.

Amalie versicherte ihn, daß er seine Bekenntnisse keiner Unwürdigen abgelegt habe, sie suchte nach teilnehmenden, beruhigenden, tröstenden Worten, ohne die rechten finden zu können.

Saß hörte kaum zu; er schaute unverwandt auf Herminens Porträt. Dann sprach er plötzlich in ganz verändertem, gleichgültigem Tone: »Das Bild ist meisterhaft. Wie heißt der Maler?«

Amalie sah ihm scharf ins Gesicht und erwiderte: »Es ist gemalt von jenem Düsseldorfer Künstler, den wir Heribert nannten.«

Saß fuhr auf: – »und in jüngster Zeit?«

»In allerjüngster Zeit und zwar in Athen. Die Sache machte sich höchst einfach; Hermine hat mir genau darüber berichtet. In Athen sammeln sich im Winter nicht interessante Reisende aus allen Ländern wie in Rom. Nur wenige Fremde weilen dort, aber die Landsleute schließen sich um so enger zusammen. So begegnete denn Hermine während dieses Winters dort in einem kleinen Kreise deutscher Gelehrter und Künstler auch – Heribert! Er entsann sich der früheren flüchtig Bekannten – und was war sie ihm denn anders gewesen? – und näherte sich ihr, wie sich Landsleute in der Fremde zu nähern pflegen. Sie beobachtete ganz dieselbe Haltung. Ob es ihr schwer fiel? Sie hatte von dem Tage an, da sie ihrem aufgedrungenen Bräutigam das Jawort gab, jedes Wiederaufleben ihrer Schwärmerei für Heribert mit aller Kraft aus ihrer Seele gerissen. So konnte sie ihm denn nun auch ganz unbefangen gegenübertreten, als er sie gelegentlich bat, daß sie ihm zu einer Oelskizze sitzen möge. Sie willigte ein. In Romanen verlieben sich schöne Damen nicht selten in den Künstler während der ›Sitzungen‹, in Wirklichkeit sollen sie sich weit öfter langweilen. Hermine that weder das Eine noch das Andre. Die Kraft ihrer Selbstbeherrschung bestand die Feuerprobe; die Sitzungen währten lang, die Skizze ward zum ausgeführten Bild. Und indem Hermine mir den ganzen Vorgang treulich berichtete, schenkte sie mir das Bild, welches nun auch Ihnen ein Zeugnis ist, daß die Freundin entsagen, vergessen und sich bezwingen gelernt hat.«

»Und doch erzählt vielleicht der leise schmerzliche Zug dieses Antlitzes, welches sonst nur Lebensmut und Freude strahlte, daß das Entsagen immer noch einen Kampf heischte,« fügte Saß hinzu.

»Sie täuschen sich,« entgegnete Amalie. »Ein Leid ganz anderer Art verdüstert das Gemüt meiner Freundin, und die scheinbar Glückliche ist oft recht unglücklich. Allein ich darf nichts Näheres darüber sagen.«

Saß glaubte plötzlich wieder einen Lichtstrahl aufblitzen zu sehen. Sie war unglücklich – warum? Das wußte er nicht. Aber nur als die Glückliche war sie ihm zuletzt so ganz unnahbar erschienen. Konnte er nicht irgend einmal ihr Herzensleid teilen und heilen?

Dabei vergaß er ganz, daß er kaum erst gesagt hatte, der Roman sei zu Ende. So rätselhaft ist des Menschen Herz.

Das unbekannte Unglück Herminens wurde Alfred Saß zu einem Trostgedanken, den er als das seltsamste letzte Christgeschenk mitnahm, da er sich von Amalien verabschiedete.

Der Sylvesterabend war gekommen.

Saß hatte bis tief in die Dunkelheit gearbeitet; dann trieb es ihn hinaus. Ziellos wandelte er durch die Gassen, die Häuser und Menschen betrachtend. Hier kamen fromme Beter vom Abendgottesdienst an der Jahreswende, dort eilten fröhliche Leute zum Sylvesterpunsch. Durch manches Fenster sah man den Christbaum wieder flimmern, der heute den Kindern zum letztenmal angezündet wurde, anderswo schimmerte das Lämpchen einer armen Familie durch die Scheiben, die sich in traulicher Beschauung den letzten Feierabend gönnte.

So war Saß zur äußersten Straße und vor die Stadt gekommen, und ungewollt fand er sich vor der Thüre seines ehemaligen schönen Gartens. Sie stand offen; der Garten, bereits alles wertvollen Schmuckes beraubt, erschien schon als Bauplatz.

Wie von unwiderstehlicher Gewalt fühlte sich Saß hineingezogen und stieg langsam die wohlbekannten Pfade zwischen den laublosen Bäumen hinan, die ihm so gespenstig ihre Zweige entgegenstreckten.

Es war ihm nicht wehmütig ums Herz, er fühlte sich vielmehr fest und mutig; denn er gedachte nicht dessen, was er im abgelaufenen Jahre verloren, sondern was er gewonnen hatte, und segnete Gottes unbegreiflich wunderbare Führung.

So kam er zuletzt auf die Höhe und stand vor dem verschlossenen Gartenhause, dessen Innenräume schon seit Wochen ausgeleert und verödet waren. Der Himmel, mit Sternen besät, spannte sich so weit und frei über die tiefdunkle Landschaft, die Stadt mit den vereinzelten Lichtern lag wie eingeschlafen zu seinen Füßen, so still, so friedlich, kein Straßengeräusch drang herauf. Man konnte einzelne Gebäude kaum unterscheiden; nur der Haderturm, alle überragend, stieg hünenhaft in die Höhe.

Bei seinem Anblicke trat Saß das Bild jenes sonnigen Maienabends hell leuchtend vor die Augen, wo er hier oben, mit Freunden fröhlich, den Becher erhoben hatte. Wie anders war es seitdem geworden! Sie feierten damals den Fall des alten Turmes, aber der Turm stand jetzt fester als vorher und sein eigenes Haus war gefallen.

Da sah der Sinnende eine große dunkle Gestalt langsam den Berg heraufsteigen; – sie kam näher, – ganz nahe, – jetzt erkannte er sie: – es war Oberst Sickenwolf.

Mit seinem Gruße verband der alte Soldat einen derben Fluch über den beschwerlichen Weg. Er habe Freund Saß in den Garten eintreten sehen und sei ihm nachgegangen, mühsam genug. Vor vier Jahren noch würde er selbst bei dunkler Nacht im Galopp den steilen Schlangenpfad heraufgesprengt sein: jetzt könne er nicht mehr reiten, seit ihm die verdammte Kugel von Königgrätz im Oberschenkel stecke, er sei nur noch ein halber Mann, denn zu einem ganzen Manne gehöre ein Pferd, mit welchem er zusammengewachsen sei wie ein Centaur. Närrische Leute behaupteten, zu einem ganzen Manne gehöre eine Frau. Diese Ansicht habe er nie geteilt, und sein ehescheuer Freund sei wohl gleichen Sinnes.

»Nicht so ganz,« entgegnete dieser. »Ich kann mir einen ganzen Mann auch ohne Pferd und ohne Frau denken. Seltsamerweise habe auch ich vorhin, als ich den Pfad heransteigend, das abgelaufene Jahr im Geiste überflog, erwogen, was den Mann erst vollwertig mache. Und da meinte ich, daß ein ganzer Mann sei, wer da weiß, was er will, und nur will, was er kann, und kann, was er soll.«

»Das klingt mir zu philosophisch,« sprach der Oberst. »Betrachten wir lieber diesen herrlichen Sternenhimmel. Ein Aufblick zu den Sternen ist an sich schon Philosophie, auch wenn man gar nichts dabei denkt. Glänzen die Sterne so herrlich hell wie heute, dann wird das Wetter bald wechseln. Es kommt Sturm. Tausende werden jetzt in diesem heiligen Frieden des Nachthimmels nur den Frieden des neuen Jahres lesen. Aber der Krieg kommt, wann man ihn am wenigsten erwartet. Blicke ich manchmal nachts in die weite Landschaft und auf die leuchtenden Welten da droben, die so ruhig in gemessenen Geleisen gehen, dann höre ich in der Ferne Rosseshufschlag und den ehernen Tritt marschierender Regimenter und ganz leise, dumpfe Kanonenschläge dazwischen. Gott gebe uns ein neues Friedensjahr! Nur wer den Krieg selbst mitgemacht hat, weiß ganz, wie entsetzlich er ist. Und nun leben Sie wohl. Gott schenke Ihnen, lieber Freund, ein gutes Neues Jahr und uns Allen und unserm teuern deutschen Vaterlande – – das Jahr 1870!«

Mit diesen Worten ging der seltsame Mann wieder den Berg hinab und ließ den Freund mit seinen Gedanken einsam in der schweigenden Nacht.


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