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XV.
An der pazifischen Küste

Atahualpa, der letzte Inkafürst – Das Land des Goldes – Straßen in schwindliger Höhe – Chilette – Pacasmayo – Seltsames Nachtlager – Trujillo – Armes reiches Land – Wieder in Lima

 

Cajamarca ist der denkwürdigste Ort Perus. Ist es doch diese alte Inkastadt gewesen, die Francisco Pizarro im Jahr 1533 mit einem Häuflein Abenteurer nahm und in der sich das Schicksal des hochkultivierten indianischen Reiches für immer entschied. Peru, das Goldland, war das Zauberwort, das die eroberungssüchtigen Soldaten im fremden Erdteil und tückischen Klima die übermenschlichsten Strapazen ertragen ließ, bis sie, aufrechterhalten und getrieben von der unbeugsamen Energie des berühmten Konquistadors, ihr Ziel erreichten. Atahualpa, der letzte Inkafürst, wurde durch Verrat der listigen Spanier gefangengenommen und, der Gotteslästerung und Konspiration beschuldigt, zum Tode verurteilt, nachdem er ein zweimal hintereinander gefordertes Lösegeld, etwa hundert Millionen Pesos, beide Male entrichtet hatte. Hier in Cajamarca war es, wo Atahualpa den Saal, den er als Gefangener bewohnt hat, zweimal bis zur Decke mit Gold und Silber füllen ließ.

Heute wie damals sind die Berge Perus reich an allen Metallen. In der Gegend von Patas, nicht weit von Cajamarca, fördern amerikanische Minen Zink, Kupfer und Silber und tausende Tonnen Gold allmonatlich zutage. Von dem goldenen Saal des Indianerfürsten ist freilich nichts mehr zu sehen, von den Inkabauten kein Stein mehr vorhanden. Dafür steht da nun eine maurischbarocke Kathedrale aus der Zeit Pizarros, und über die Flachdächer der niedrigen Häuser ragen runde Kuppeln und stumpfe Türme noch einiger Kirchen aus derselben Zeit, sämtlich Musterbeispiele seltener Stilreinheit. Und die Plaza von Cajamarca, auf der Atahualpa vor vierhundert Jahren hingerichtet wurde? Nun, auch da ist weiter nichts zu sehen. Sie ist genau dieselbe geräumige quadratische spanische Plaza wie alle, und in der Mitte erhebt sich statt des im Landesinnern gebräuchlichen hölzernen Kioskes ein steinerner Springbrunnen, weil es hier schon etwas vornehmer zugeht. Die Stadt, an der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis gelegen, hat zwei Hotels, wenn nicht drei, zwei Elektrizitätswerke, zwei große deutsche Handelshäuser, die das ganze nördliche Peru mit ihren Waren versorgen, und ein Kino, in das ich sofort meinen letzten Sol hineintrug, hungrig nach den Errungenschaften der Zivilisation, die ich ein Jahr lang freiwillig entbehrt hatte und die jetzt nach und nach wieder auftauchten.

Señor Prelle von der Casa Prelle in Cajamarca nahm mich fabelhaft auf. Ich erzählte ihm einiges von der Reise, die ich hinter mir hatte, und machte ihm einen Vorschlag. »Hier leben mehrere Deutsche«, sagte ich, »wenn mir jeder von ihnen eines meiner Bücher abkauft und ich mich verpflichte, ihm das Buch zu schicken, dann habe ich das Fahrgeld nach Lima.«

»Sieht das nicht ein bißchen komisch aus?« meinte Prelle. »Ich will Ihnen etwas sagen. Ich gebe Ihnen die Summe, die Sie brauchen, und der Fall ist erledigt.«

Ich muß gestehen, ich habe Geschäftsleute nie leiden können; denn es ist absurd und einfach unmöglich, daß der Lebensinhalt eines Menschen der Gelderwerb sein kann. Seit ich Herrn Prelle kenne, bin ich aber zu der Überzeugung gekommen, daß auch ein Geschäftsmann ein Mensch sein kann. Nicht weil er mir eine Gefälligkeit erwies und mich bat, mir in seinem Warenlager einen Handkoffer auszusuchen (weil ich mit Satteltaschen nicht gut weiterreisen konnte; das würde ebenso komisch aussehen wie ein Reiter mit einem Handkoffer) – eine Überzeugung ist nicht zu erkaufen, auch nicht mit einem Koffer.

Meine Habseligkeiten waren auf ein Nichts zusammengeschmolzen. Was hatte ich nicht alles verloren auf dieser verteufelten Wanderung! Sogar meine Gesundheit, oder wenigstens einen Teil derselben. Ich besaß so wenig, daß selbst der kleinste Handkoffer, den ich mir ausgesucht hatte, für mich noch zu groß war. Bescheidener hat nie eine Expedition geendet als diese! Ich brauchte keinen Träger mehr. Ich war fein heraus. Ich brauchte nicht einmal selbst etwas zu tragen, weil ich nichts mehr hatte.

In Cajamarca blieb ich nur drei Tage und setzte mich dann in ein Auto, das mich nach Chilette bringen sollte. Denn – so unglaublich das auch für den Kenner peruanischer Verhältnisse klingen mag – es existiert seit ein paar Jahren tatsächlich eine Carretera (Autostraße) von Cajamarca nach Chilette, und wenn ich sie nicht selbst gefahren wäre, würde ich sie für eine Zeitungsnachricht halten. Es ist ein schmales Sträßchen, das sich in den bekannten tollkühnen Kurven in schwindligen Höhen über die Anden schraubt. Aber in einem Lande, das nur aus Hochgebirge und Urwald besteht, ist der Straßenbau an sich schon keine einfache Sache. Wie kostspielig eine solche von A bis Z aus dem Felsen gesprengte Carretera sein muß, sieht man erst, wenn man sie passiert.

Der eingeborene Chauffeur, der die paar hundert engen Kurven mit beängstigender Geschwindigkeit durchrast, ist ein Artist. Er sieht seine Aufgabe nicht in der Vorsicht oder in der Schonung des Materials oder gar der Reisenden, sondern in akrobatischer Geschicklichkeit. Er setzt seine Ehre und, was noch mehr ist, sein Leben darein, das unübersichtliche, alle hundert Meter um die Ecke biegende Sträßchen über alle Erdrutsche und wackligen Brückenbalken im schneidigsten Renntempo zu nehmen, immer schön knapp handbreit am Abgrund. Wenn die Karre hinuntersaust – bueno, was liegt daran? Wenigstens war man elegant gefahren. Ich hatte Angst, richtige, ehrliche Angst. Ich hätte meinen Handkoffer gewettet, daß ich nie und nimmer lebend aus der Kiste herauskäme. Mein letztes Stündchen war gekommen. Ich schloß die Augen, um nichts mehr zu sehen. Mochte geschehen, was wollte, mir war alles egal. Eine Stunde verging, zwei, drei, fünf Stunden waren vergangen und immer noch nichts passiert, das ging nicht mit rechten Dingen zu. Wirklich, die Bremsen quietschen, wir landen, heil und unverletzt, im Tal! Der Chauffeur sprang heraus: »Nun, bin ich gut gefahren?«

»Ja«, sagte ich und reichte ihm zum Dank eine echte Urwaldzigarette, »zu gut sogar!«

Chilette ist Endstation der ältesten Eisenbahn Perus, ein schmutziges Nest von verfallenen Wellblechhütten in der trostlosesten Fels- und Trümmerwüste der Welt, durch die die Ölfeuerungslokomotive mit wahnsinnigem Lärm rattert, tausendfachen Echodonner aus den Felswänden weckend, als ob die uralte Steinwüste unversöhnliche Wut über das Eindringen der Maschine in ihre Einsamkeit hinausbrüllte.

Ein Besuch bei dem Stationsvorstand verschaffte mir auf Grund meines Regierungsschreibens (wenngleich der Minister, der es ausgefertigt hatte, inzwischen nicht mehr im Amt war) Freifahrt nach Pacasmayo. Ich machte bis zum Abgang des Zuges einen kleinen Spaziergang zwischen Felsblöcken und Holzbaracken und sah eine Menge Leute, Weiße wie Indianer, trotz der Hitze in Wolldecken verpackt auf dem Erdboden liegen; und jedesmal, wenn ich fragte: »Was fehlt?« war die Antwort: »Fieber, Señor.« Da ich es schon hatte, brauchte ich mich nicht mehr davor zu fürchten. Man war doch hier auf wenigstens zweitausend Meter Höhe, und dennoch Fieber? Rätselhaftes Land!

Die Bahnstrecke läuft entlang einem Gebirgsfluß und gewinnt allmählich die Ebene. Kleine Dörfer, malerisch verwilderte und zerzauste Bambushütten – wenn man sie sieht, denkt man an durchgesessene Rohrsessel – sind die Stationen. Und schon gewahrt man im Widerspruch zu der Armut dieser Landschaft hie und da einen Caballero auf prachtvollem Vollblut mit silbernem Geschirr, der vor einer schönen Kreolin den Sombrero schwenkt, oder auch eine Señorita auf einem ausgesucht hübschen tänzelnden Pferdchen mit auffallend protzigem Lederzeug.

Der Zug durchfauchte die gelbe, trocken glühende Küstensandwüste, in der nicht ein Grashalm wächst, zuweilen jedoch plötzlich üppige Oasen stehen wie ein Blumentopf auf einer Sandfläche, und lief gegen Abend in Pacasmayo ein. Mein erster Gang war zum Strand, an den der Pazifik seine ewigen Wogen anrollt. Die unfaßbare Größe des Meeres, ebenso überwältigend wie die Größe des Gebirges, die unbegrenzte Weite des Blickes machte mich selbst weit; ich hätte in diesem Augenblick eine neue Reise machen können, so weit wie die Wasser reichen.

Der nächste Tag verging mit dem unvermeidlichen Besuch bei der Redaktion des einzigen Blattes des Ortes und mit der Erkundigung nach ankommenden und abgehenden Dampfern. Ich konnte die Fahrt nach Lima zahlen; aber dann waren meine Mittel auch wieder zu Ende. Sollte ich da nicht versuchen, auch auf dem Schiff, ebenso wie auf der Bahn, eine Freifahrt zu erlangen? Ich versuchte es nacheinander bei der deutschen, französischen, englischen, italienischen Agentur, überall mit ungewissem oder negativem Erfolg. Die amerikanische Agentur gab die Möglichkeit zu, daß der Kapitän mich mitnähme, aber das Schiff kam erst in acht Tagen. Da entschloß ich mich, den nächstfälligen Dampfer zu nehmen und meine Karte selbst zu zahlen. Es war ein Chilene, teuer, schmutzig und überfüllt. Im Zwischendeck war es unmöglich, zwischen den wie Kraut und Rüben am Boden Durcheinanderliegenden durchzugehen, geschweige ein Plätzchen zum Schlafen zu finden. Ich fand aber doch eins. Der offene Schacht des Maschinenraumes war in der Höhe des obersten Verdecks mit schweren, breiten Vorratsschränken umstellt. Auf einen dieser Schränke legte ich mich, denn es war Mai, Wintersanfang und die Nacht auf dem Meer neblig und kalt. Aus dem Maschinenraum aber stieg wohltuende Wärme. Ich beabsichtigte nicht, zu schlafen; denn das war auf dem Giebel des Schrankes nicht ganz ratsam. Ein unbedeutender Seegang hätte genügt, mich herabzurollen, und dann wäre ich in den zwanzig Meter tiefen Schacht gesaust, geradewegs in das Transmissionsrad. Dennoch schlief ich ohne zu wollen ein. Als ich am Morgen erwachte, lag zwischen mir und dem Rand des Schrankes ein schwerer, unbeweglicher Sack. Irgend jemand von der Schiffsmannschaft mußte ihn während der Nacht zu meinem Schutz vor mich hingeschafft haben.

Meine größte Sorge auf der Fahrt nach Lima war die Frage, ob das Schiff in Trujillo anlegen werde. Man konnte oder wollte mir darüber keine genaue Auskunft geben. Was interessierte mich an Trujillo? Eine interessante kleine Geschichte.

Vor meiner Reise in die Montaña hatte ich in Lima einen Deutschen kennengelernt, den Dresdener Bildhauer Edmund Moeller. Er war in Peru, um sein Freiheitsdenkmal in Trujillo aufzustellen, das in einer internationalen Konkurrenz mit dem ersten Preis ausgezeichnet und zur Ausführung bestimmt worden war. Die echt romanische Lust am Dekorativen und Monumentalen, die sich in Peru nicht immer in geschmackvoller Weise dokumentiert, hatte mit dieser Preiskrönung das Werk eines echten, das Herkömmliche weit überragenden Künstlers geehrt. Moeller hatte mir damals eine Anzahl Photos des Monumentes und einzelner Figuren gegeben. Nun, nach einem Jahre, mußte das Denkmal aufgestellt sein; ich hätte es brennend gern gesehen. Moeller hatte anfänglich nicht geringe Schwierigkeiten mit diesem seinen hochinteressanten Werk gehabt. Der Peruaner ist katholisch, und der peruanische Klerus, nicht so tolerant gegenüber der Freiheit der künstlerischen Darstellung wie der europäische, hatte Anstoß genommen an der Nacktheit der monumentalen Figuren: die Unterwerfung, die Befreiung, die Tat, welche die Geschichte Perus versinnbildlichen, so daß die Bevölkerung, dem Künstler feindlich gesinnt, ihn nicht mehr grüßte. Erst durch das Eingreifen der Presse und der wissenschaftlichen und künstlerischen Autoritäten wurde die Aufklärung geschaffen, die zuletzt zur uneingeschränkten Anerkennung und Bewunderung des Werkes und zur vollen Ehrung seines Schöpfers führte. – Leider ging mein Schiff ohne Aufenthalt nach Lima, so daß ich auf das Erlebnis, das Denkmal unter freiem Himmel zu sehen, für dieses Mal verzichten mußte.

Im Zusammenhang mit diesem Werk, das die historische Entwicklung Perus kraftvoll körperhaft und klar durchgeistigt versinnbildlicht, bewegten mich Gedanken über dieses seltsame Land, die ich bei anderer Gelegenheit niederzulegen hoffe. »Armes reiches Land!« nennt der Peruaner sein Vaterland. Peru ist fast viermal so groß wie Deutschland und hat noch nicht einmal so viele Einwohner wie Berlin. Raum ohne Menschen. Die Kultur des Landes, eine der größten aller Zeiten, ist vor vierhundert Jahren untergegangen, sie liegt begraben unter dem Schutt der Tempelruinen und dem alles überwuchernden Urwald. Wird sie erwachen und wieder auferstehen? Was wird seine Zukunft sein? Der Traum von einer verschollenen Herrlichkeit könnte die Basis sein zu einer schöneren Zukunft.

Mit vierzig Centavos in der Tasche kam ich in Callao an. Es war am frühen Morgen. Ich fuhr mit der Straßenbahn nach Lima. Was eine Tasse Kaffee im Café Maron kostet, wußte ich noch. Es reichte genau. Ich drückte mich an den Häuserwänden entlang und setzte mich in eine dämmerige Ecke des Lokals. Ich sah übel aus, gelb und eingefallen wie eine verschrumpelte Zitrone, zerstochen und zerkratzt, das Gesicht voll Ausschlag, das linke Auge halb erblindet; der Anzug zerrissen und schmutzig; mein Strohsombrero schwarz wie Ruß und durchlöchert wie ein Sieb, die plumpen Stiefel seit Monaten nicht geputzt. Ich wollte nicht gesehen werden und auch niemanden sehen; ich fürchtete die Stadt, die Schaufenster, die Autos, die eleganten Frauen, ich war ein Provinzler geworden, ein Bauer, ein Wilder. Ich hatte Peru von Süden nach Norden und von Osten nach Westen durchwandert, in zwölf Monaten über fünftausend Kilometer zurückgelegt. (Etwa die Strecke Ostende – Konstantinopel.) Sollte ich das dem Oberkellner erzählen, der mich so sonderbar anschaute?

Ein harmloser Konquistador, ein reichlich später Nachkomme Pizarros, war ich durch das Land gezogen und hatte nichts erobert als ein Paket Photos und ein Päckchen beschriebener Blätter.

Den Hut tief ins Gesicht gedrückt, schlich ich zu meinem Freund, bei dem ich meine Sachen hinterlassen hatte. Er erschrak, aber ich beruhigte ihn: »In einer halben Stunde wirst du mich wieder kennen!« Nahm ein Bad, rasierte mich, schloß meine Koffer auf und zog mich andächtig um.

Als ich das leichte Zeug auf dem Leib hatte, war mir, als wären Anzug und Schuhe aus Seidenpapier.

Auch Rolf traf ich wieder. Er war zwar nicht aufgefressen worden, aber es war ihm nicht viel besser ergangen als mir. Eingedenk des gemeinsamen Erlebten versöhnten wir uns und waren wieder die alten Freunde.

Zwei Monate später kam ich in Paris an. Ohne Geld. Ich begegnete einem Freund, und wir nahmen ein Aperitif. Ich saß da, und mein Freund glaubte nicht, daß ich wieder da war. Und ich selbst glaubte es auch nicht.


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