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II.
Sonne, Früchte und Blumen im Winter

Verdrehte Jahreszeiten – Das peruanische Florida – Ewiger Frühling – Die Sonnenstadt – Die Stadt der Früchte – Die Stadt der Blumen – Das Land der Gegensätze – Ein anstrengender Ausflug

 

So ganz einfach ist es hier nicht mit den Jahreszeiten. Fragt man einen Peruaner, was jetzt für eine Jahreszeit ist, so kommt es darauf an, in welcher Gegend von Peru diese Frage aufgeworfen wird. Als Gebirgler weiß ich mir zwar ein wenig zu helfen – wenn man z. B. im August auf den Großglockner steigt, marschiert man auch durch alle vier Jahreszeiten. Aber hier ist es doch noch ein bißchen anders. Im Winter waren wir angekommen, nämlich im Juni: schönste Junisonne, Gärten und Bäume fruchtüberladen; die Cholaweiber laufen barfuß wie im Sommer und bieten einem an allen Ecken Gebüsche langstieliger, taufrischer Rosen an, so groß wie eine Fuhre Heu, alles für einen Sol. Blumen, Farben, Blumen und Farben! Das war an der Küste. Die Sommersaison beginnt dort im Dezember. Auf Weihnachten schickt der Gatte die Gattin ins Seebad, es ist nicht weit hin, ein halbes Stündchen mit dem Auto. Zuweilen sieht man schon an den Namen dieser eleganten Strandbäder: Barranco, Chorillos, Miraflores usw., daß es hier eigentlich nur eine Jahreszeit gibt: einige Monate lang die ganz große Hitze und einige Monate lang die nicht ganz so große Hitze, und im übrigen das ganze Jahr Blumen, die zentnerweise an den Villenfassaden und über die Gartenmauern luxuriöser Klubhäuser wuchten in so unerhörten Farben, daß man das Aquarellieren als überflüssig und zwecklos aufgibt. Diese bezaubernden Nester an dieser von der großen Welt der Vergnügungsreisenden noch nicht entdeckten pazifischen Küste könnten ebensogut Capri oder Amalfi, Cannes oder Florida heißen. Doch hier, eine Stunde südlich von Lima, brauchte man keine Palmen anzupflanzen und keine Riviera künstlich anzulegen, die Natur selbst hat hier ein Weltbad der Zukunft mit hervorragendem Geschmack angelegt. In gewaltigem Rundbogen wölbt sich die wundervolle Bucht an die sonnenglühende Fels- und Sandküste unter immerblauem Himmel.

Eigenartig ist, daß es in Lima, und zwar nur dort, wenige Kilometer von hier, und im übrigen in derselben Gegend, an derselben Küste und unter demselben Breitengrad, im deutschen Sommer, also in den dortigen Wintermonaten Mai, Juni und Juli, kühl, neblig und regnerisch wird. Dieses Schlechtwetter, das sich auf einen Umkreis von wenigen Kilometern beschränkt, wird dem abkühlenden Humboldtstrom zugeschrieben. Dann läuft alles mit vor den Mund gebundenen Wollschals herum (dieses Wetter soll tückisch sein), und der Limener sehnt sich ekstatisch nach dem Frühling – der im Herbst beginnt. Wer Zeit und Geld hat hingegen, braucht sich nicht zu sehnen, er geht entweder nach den Bädern oder nach dem Kurort Chosica, fünfzig Kilometer östlich, und ist aller Wettersorgen enthoben. In Chosica, zwei Stunden Bahnfahrt von Lima, achthundertfünfzig Meter Höhe, ist das ganze Jahr Frühling, jeder Monat ein Mai, ein Jahr wie das andere. Hätte ich nicht solche Sehnsucht nach dem deutschen Dauerregen gehabt, ich wäre dort geblieben. Etwas anderes als Sonne ist in Chosica nicht bekannt, und so heißt dieses subtropische Kufstein mit Fug und Recht die Sonnenstadt.

Wir hatten in Lima noch eine sehr wichtige Besorgung zu erledigen. Als arme Reisende mußten wir versuchen, um die teure Bahnfahrt herumzukommen.

Man kann auch in die Anden hinaufreiten, wenn man will, warum nicht. Pizarro soll die sechshundert Kilometer von Lima nach Cuzco, Höhenunterschied dreitausendfünfhundert Meter, in acht Tagen geritten sein, eine respektable Leistung – der alte Haudegen hatte zu der Zeit seine siebzig auf dem Buckel. Damals ging auch noch keine Bahn, und wie viele Pferde er dabei verbraucht hat, vermeldet die Chronik nicht. Aber das Reiten wäre ja noch teurer gewesen als die Bahnfahrt, und zudem sind die Küstenpferde im Gebirge unbrauchbar.

Blieb also nur noch die Wahl, zu tippeln und das Hauptgepäck aufzugeben. Aber da überlegten wir doch, daß Peru ungefähr viermal so groß ist wie Deutschland und daß die einzige Bahn, die uns in der Richtung nach dem Innern zur Verfügung stand, alles in allem ganze dreihundertneunzig Kilometer lang ist. Dann heißt es reiten oder laufen, einige tausend Kilometer – wir kamen noch früh genug zu unserem Vergnügen. Wir begaben uns also, da wir ja keine Vergnügungsbummler waren, sondern rechtschaffene Exploradores, zur Eisenbahndirektion, erklärten, daß wir die berühmte Oroyabahn filmen wollten, und erbaten Freifahrt, die wir ohne weiteres erhielten, samt Gepäck und mit der Erlaubnis, die Fahrt zu unterbrechen, wo wir wollten. Vielleicht versprach sich der Direktor, ein Engländer, von dieser Verfilmung eine Hebung des Fremdenverkehrs auf seiner Bahn, oder er gab uns die Freifahrt aus persönlicher europäischer Artigkeit. Das letztere ist sogar wahrscheinlicher; ich habe immer beobachtet, daß im allgemeinen alle Beamten der Welt netter sind als die deutschen. – Wir waren unterwegs in die Berge, in Lima wurde es Frühling. In Tamboraque, einem der kleinen Gebirgsnester längs der Bahn, hundertzwanzig Kilometer entfernt auf dreitausend Meter Höhe, erlebt man schon jeden Tag neue Witterungs- und Klimawunder. Es steht zwar gelbes Getreide an den Berghängen, Mais, Palmen, Eukalyptus, aber morgens um acht Uhr frieren wir wie die nackten Pudel. Dafür herrscht um die Tagesmitte eine afrikanische Hitze; die Grillen singen, und der gelbe Lehmstaub liegt auf meinen viel zu großen und zu schweren Stiefeln, die mir ein braver Limener Landsmann verehrt hat, wie nach einem Manövermarsch.

In San Bartolomé, das auch schon fünfzehnhundert Meter Höhe hat, sind Bananen, Chirimoyas und Paltas schon halb so teuer und noch einmal so frisch wie an der Küste, denn San Bartolomé ist die »Stadt der Früchte«. Nun, sehr lange wird es nicht so weiter gehen, die Vegetation muß ja bald aufhören. Dennoch ist Surco, zweitausend Meter, die »Stadt der Blumen«! Um das zusammenzubringen, was hier allein an der Station an Farbengewirr und Duft vor Augen und Nase herumflirrt, müßten ein halbes Dutzend Blumenhandlungen ihre Lager bis auf die letzte Knopflochnelke ausräumen. Die Sträuße, die die Cholas feilbieten, sind nicht locker gebunden und arrangiert wie bei uns, damit man möglichst wenig Blumen für möglichst viel Geld hat, sondern kreisrund dichtgepreßt wie ein von einem exotischen Kunstgewerbe entworfenes Ornament.

Alles kauft. »Wie schön, so viele Blumen mitten im Winter!« entzückt sich eine bebrillte Gringa, eine jener ältlichen Amerikanerinnen, denen man an allen äußersten Enden der Erde, solange es noch eine Verkehrsmöglichkeit gibt, begegnet. – Winter? Wieso? Auf viertausend Meter Höhe, einen Katzensprung vor den erstarrten Riesentrauben der Gletscher, ist es noch genau so heiß, die Nächte ausgenommen. »Das macht, weil es Sommer ist!« heißt es.

Und darum schneit es jeden Tag ein, zwei Stündchen lang. Allerdings leckt die Sonne den Schnee in fünf Minuten wieder weg. Dennoch macht mich die Sache nachdenklich. Entweder nehmen es die Leute hier mit den Jahreszeiten nicht so genau, oder diese fortwährenden Klimawechsel und -gegensätze sind bedingt durch die verschiedenen Höhenlagen. Einige hundert Meter machen da viel aus; man reitet in einer Stunde aus dem eisigsten Januar in die schwülsten Hundstage und umgekehrt. Und während man in diesen heißkalten Bergen herumklettert, ist es im Westen, in der Küstenwüste, frisch und windig, zwischen den Höhen der Andenketten, in der hohen, flachen Pampa, mild und grün, und im Osten hinter der Kordillere, in der Montana, brütet tropische Fieberglut. Jedenfalls bekam ich schon in den ersten drei Tagen einen ungefähren Begriff davon, warum man Peru das Land der Gegensätze genannt hat, wenngleich ich mir damals noch nicht träumen ließ, wie deutlich ich diese Gegensätze noch am eigenen Leibe spüren sollte. Und darum wohl, weil alle diese Gegensätze in einem und demselben Lande und zu gleicher Zeit möglich sind, darum läßt man sich im allgemeinen gar nicht auf Jahreszeitenbezeichnung ein, sondern hat sich auf ein einfacheres System geeinigt und sagt: es ist jetzt die trockene Zeit oder es ist jetzt die Regenzeit. Aber das stimmt auch wieder nur bedingt: in der Sierra oben war zwar jetzt die trockene Zeit, aber in Lima regnete es. Und wenn es im Urwald schüttet, als wären die letzten Tage von Sodom und Gomorrha gekommen, dann steigt dort der Boden vor Dürre in die Luft.

Eine Empfehlung verschaffte uns Unterkunft bei Minenbeamten in Morococha. Zwei junge Deutsche, Angestellte der Mine, schlugen einen kleinen Spazierritt vor. Es waren zwei Feiertage – an katholischen Feiertagen ist hier kein Mangel –, die man zu einem Ausflug benutzen wollte.

Um fünf Uhr früh waren wir aufgebrochen: Jim, ein langer, sehniger Amerikaner, ein Schweizer, Buchhalter in der Kupfermine, ein geologischer Doktor aus Württemberg, mein Kamerad Rolf und ich. Von unseren Freunden besaß jeder sein eigenes Tier, Chuscopferde, behende und ausdauernde Tiere, die die Felspfade gewöhnt und im Gebirge ebenso gewandt wie in der Niederung unbrauchbar sind; uns beiden hatte man Mulas gemietet. Im dauernden Trab, oft im Galopp, keine einzige Minute im Schritt, ging es hinweg über Abschüsse, Kämme und Grate, ohne Weg und Steg, über Schutthalden und Sandreißen am Gletscherrand, hinauf und hinunter, hinunter und hinauf, in einem Terrain, das in unseren Alpen nur der trittsichere und schwindelfreie Hochtourist begeht. Die Sicherheit der Tiere ist erstaunlich, die Vorsicht der Reiter nicht eben groß. Mehr als einmal sieht man das von den Geiern blank genagte, schneeweiß gebleichte Gerippe eines abgestürzten Reittieres tief unten zwischen den Steinblöcken liegen. Ein flüchtiger Blick in die Tiefe beim Vorbei jagen – der hat Pech gehabt, denkt man sich, ein leichtes Gruseln, vorbei –, zu langen Betrachtungen bleibt keine Zeit. (Meine Aufnahme von einem solchen abgestürzten Tier gelang mir bei einer anderen Gelegenheit.) Für meinen Geschmack wäre ein weniger rasendes Tempo entschieden schöner gewesen. Diese Gewaltritte und blödsinnigen Hetzjagden sind hierzulande Mode, Sport, chik! Hier ist sozusagen nur der Mann auf dem Pferd etwas wert. Kommt noch hinzu, daß dem Peruaner, ähnlich wie dem Italiener und Spanier, jedes Gefühlsverhältnis zum Tier als einem lebendigen Wesen vollständig fehlt. Mag die abgehetzte, blutig gescheuerte Mula, die »grandissima bestia«, wie der Peon flucht, erschöpft liegen bleiben und verenden, dann packt er sich einfach den Sattel selbst auf und trabt zu Fuß weiter.

Nur wo es allzu steil war, sprangen wir ab und rannten. Jim stets eine halbe Meile voraus, wir hintennach. Der Kerl hatte keine Lungen, kein Herz und keine Nerven. Wenn wir vor Erschöpfung die Augen verdrehten, dann trabte er mit seiner Ziege zu Fuß die steilsten Hänge hinauf, um das Pferd zu schonen. Uns keucht der Atem, die Pulse hämmern, die aufgesprungenen Lippen und die um die Zügel gekrampften steif gefrorenen Finger bluten. Weiter, weiter, ohne Pause, ohne Rast. Wozu dieses sinnlose Rennen wie Banditen auf der Flucht vor Soldaten? denkt man, nicht gerade rosig gelaunt. Vielleicht ist das eine Art Verrücktheit, ein Koller, eine der rätselhaften Bergkrankheiten, von denen man nicht weiß, ob sie von der dünnen Luft oder vom Trinkwasser oder von einer Stechfliege herrühren? Aber einmal dabei, muß man eben mitmachen. Allein zurückbleiben und sich Ohren und Zehen zu erfrieren, hätte wenig Sinn gehabt.

Wir waren den ganzen Tag geritten ohne eine einzige Minute Aufenthalt. Es dämmerte schon, in einer Viertelstunde war es Nacht, da erreichten wir eine steinerne Indianerhütte, die erste menschliche Behausung, der wir an diesem Tage begegneten, eine Hütte aus lose ohne Mörtel auf einander geschichteten Felsbrocken, oben wie ein Zelt in eine flache Spitze auslaufend und zum Schutz vor dem Regen mit dürrem Berggras bedeckt.

Die Pferde waren noch halbwegs am Leben, Jims Teufelsgaul, ein starkes, schönes Tier, überhaupt nicht umzubringen. Aber die beiden Mulas befanden sich in trauriger Verfassung; sie ließen die Köpfe bis zum Boden hängen, die dünnen Beine zitterten, die dampfenden Leiber flogen in kurzen Atemstößen, vom Sattelgurt tropfte der Schweiß. Meines war gestürzt und hatte sich die Knie aufgeschürft. Jim spuckte auf die Wunden und rieb Staub darauf, wie es die Indios machen. Wir sattelten ab, führten die Tiere eine Strecke aufwärts in eine schwach geneigte Geröllhalde, wo keine Gefahr des Abstürzens war, und banden ihnen die Vorderfesseln zusammen. – Es war bitterkalt. Viertausendachthundert Meter Höhe, die Luft so dünn, daß man nur schwer atmen konnte, das Herz klopfte rasch und hörbar. Über das Hochplateau fegte der Paßwind und biß uns mit eisigen Nadelstichen in die Haut. Mich dauerten die Tiere, die die ganze Nacht in diesem eisigen Zug stillhalten mußten. Aber uns selbst erging es nicht viel besser.

Hätten wir Mondschein gehabt, wäre Jim sicher noch weiter geritten, um das Ziel, das er sich eigensinnig vorgenommen hatte, zu erreichen. Aber nun war es stockdunkel, wir waren an einem Ziel, wenn auch nur an einem vorläufigen, und mußten nun schon dableiben. Wir krochen in die Hütte. Da ich keine Decke mitgenommen hatte, mußte ich mich auf den nackten Felsboden legen. Neben mir lag der Doktor, der diese fidelen Sonntagsausflüge ausgeheckt; Jim hatte sich zu den Indianern ans Feuer hingemacht. Ein Prügelkerl, dieser Jim, zwanzig Jahre alt und einen Kopf größer als wir alle. Er weiß nicht, wohin mit seiner Kraft. Aber da oben weiß es keiner – man kann sich höchstens ausreiten.

Über dem Feuer hängt an einem Ast der rußschwarze Kessel mit heißem Wasser. Die Suppennudeln, die Jim hineingeworfen hat, sind hart wie kleine Betonstückchen, und das Brot, das wir mithaben, ist nicht viel weicher. Und was sollen wir mit dem beißend scharf gesalzenen Dörrfleisch anfangen? Es macht nur Durst; wir sind zu müde, um an Essen zu denken. Jim wirft es Perla hin, der braven Dobermännin, die tapfer mitgesprungen ist. Aber auch der Hund ist zu müde, er beschnuppert das Fleisch uninteressiert, streckt sich hin, mir zu Füßen, und wärmt mich ein wenig. Das schwache Feuer beleuchtet vier kupferbraune, scharf geschnittene Gesichter. Es sind Cholos, Minenarbeiter. Es ist eine Silbermine in der Nähe, sagen sie, gar nicht weit. Da hätten wir also eine bessere Unterkunft gefunden. Aber wir liegen nun schon und können nicht mehr aufstehen. Auch die flackernd beleuchteten Silhouetten der Indios, kühne Profile und mongolisch breite Backenknochen, sinken um auf ihre Schaffelle, einer nach dem anderen taucht ins Dunkel. An Schlaf war trotz der Müdigkeit nicht zu denken, es war nur ein unruhiges Herumwälzen auf dem harten, kalten Lager. Da kauert man sich lieber näher ans Feuer, scharrt den Rest Holz und getrockneten Lamamist zusammen und raucht die ganze Nacht eine ganze Handvoll dieser schweren, mit getrockneten Maisblättern gedrehten peruanischen Zigaretten. Meine Gelenke waren eingefroren, ich konnte keinen Arm biegen, keine Hand rühren. Das gibt einmal einen prachtvollen Rheumatismus! dachte ich grimmig.

Als die Kameraden aufstanden, waren die Indianer schon fort. Es wurde gelost, wer die Tiere holen soll. Es traf den Doktor und mich. Die gefrorenen Stricke mit unseren steifen Fingern aufzulösen, war kein Vergnügen. Zwei der Tiere waren ausgerissen, wir mußten sie suchen und einfangen. Wir sind mit dem Satteln noch nicht fertig, jagt Jim schon davon. »Adelante caballeros! Weiter! Wir müssen noch vor Nacht in ein Quartier kommen!« Langsam und schwerfällig zog ich mich in den Sattel.


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