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IV.
Die Unterwelt der Anden

Das letzte Loch der Welt – Whisky – Gletschergeist und Bergwerk – Vom König zum Proletarier – Die Bergindianer – Inkaruinen und die Schmelzstadt Oroya Huancayo – Sachsenmaxe

 

So ein Beamter der peruanischen Kupferminen, der in den kilometerlangen Stollen herumkeuchen muß, sieht ziemlich straßenräubermäßig aus, wenn es nicht gerade Sonntag ist, wo er sich mehr europäisch oder nordamerikanisch maskiert. Die Ingenieure, Geologen, Techniker sind in der Hauptsache Amerikaner, Engländer und Iren, in geringerem Prozentsatz Peruaner, Deutsche, Spanier, Italiener, Jugoslawen und so weiter. Das Tempo der Arbeit ist kein rasendes, aber gebückt in den feuchten Schächten herumzustolpern und ein paar hundert Meter Leitern hinauf und hinunter klettern in der dünnen, in der Grube auch noch qualmigen Luft, die Reden, Schnaufen und jede Bewegung erschwert, ist anstrengend genug. Obwohl Metallbergwerke keine schlagenden Wetter kennen, sind sie nicht frei von tödlichen Gasen, die man aber am Erlöschen des offen brennenden Grubenlichtes sofort gewahr wird.

Die reichen amerikanischen Minengesellschaften scheuen keine Mühe, ihren Beamten die Eintönigkeit dieses harten Arbeitslebens zwischen vier- und fünftausend Meter Höhe einigermaßen erträglich zu machen. Rücksichtslos praktisch, wie Amerika ist, haben sie mitten in diese trostlosesten Felswüsten der Welt ganze Siedlungen hingebaut, Beamtenhäuser, aus Lehm zwar, aber weiß getüncht, sauber, einfach und behaglich. Anständige, aus den Staaten importierte Möbel, Zentralheizung, Bad, Teppiche, Bedienung, Fremdenzimmer – es ist alles da, was die Zivilisation produziert –, im seltsamsten Widerspruch zur umgebenden steinernen Wildnis. Klubräume, Kasinos, Eßsäle, Spielzimmer, Bibliotheken, mit den besten Zeitschriften englischer und französischer Sprache wohlversorgt (in keinem Bücherschrank fehlt Jack London), hübsche Leseräume, und alle Räume, wie es in Südamerika der Brauch ist, riesenhaft. Den meisten Platz hat man im Lesesaal …

Milch und Butter sind im Allgäu nicht frischer als an der fast schlemmerhaften Tafel dieser Leute, die, wenn sie in ihren hohen Gummistiefeln aus dem Schacht kommen, von einer Karrete (halb Last-, halb Personenauto) abgeholt, in schwungvoller Fahrt über gewagte Bergstraßenschlangen zum Kasino transportiert werden und ihre verwegenen Sombreros vor der Tür des Speisesaales auf die Erde schmeißen. Die Cerro-de-Pasco-Copper-Corporation, die größte in Peru konzessionierte Minengesellschaft, besitzt an die fünfzigtausend Stück Vieh auf ihren zahllosen Farmen. Fußballplätze für den Arbeiter, Tennis und Hockey für den Beamten (wohl die höchsten Spielplätze der Welt), die Billards blendend, die Kegelbahn parkettiert und blitzblank gebohnert. Die Kegel stellen sich selbstverständlich automatisch auf, nur daß sie beim Umfallen noch nicht »Juhuh« schreien; aber das wird der Amerikaner sicher auch noch erfinden. Ein automatisches Klavier und ein erstklassiges Grammophon, das sich ein Dutzend Platten selbsttätig auflegt, vervollständigen das mechanische Panoptikum. In Ermangelung jeder anderen Abwechslung ist für die Angestellten hier oben an Komfort- und Zivilisationsscherzen das Menschenmögliche getan.

Brauchbare Leute, die etwas gelernt haben und etwas können, sind hier notwendig und verdienen, weil man sie braucht, gut. Die erste Frage gilt der Fähigkeit, die zweite der Nationalität. (Dennoch zahlen die Amerikaner den Amerikaner immer noch am besten.) Die meisten machen es fünf Jahre und hauen dann mit ihren Ersparnissen ab. Man arbeitet seinen Kontrakt ab wie eine Verbannung, existiert schlecht oder recht, zählt die Tage wie im Gefängnis, klagt, jammert, verzweifelt und rechnet, was man hat – oder hätte, wenn der Whisky und andere teure Scherze nicht wären. Vor fünfzehn Jahren wurde eine Silbermine entdeckt und so ungeheuerlich verdient, daß sich die Beamten aus Paris importierte Damen im Luxuszug heraufkommen ließen und in einer Nacht Hunderttausende verspielten. Das waren noch Zeiten! Was hat man jetzt? Die Einsamkeit ist unerträglich, ein Exil in gewaltiger, aber auch trostloser Wildnis. Die Ankunft der Post ein Fest. Sparen oder Trinken das einzige Amüsement. Das letzte Loch der Welt – so nennen sie die Minenstadt Morococha. Um mit dem Sport allein glücklich zu werden, dazu muß man Amerikaner sein. Bleibt nur übrig, an einem der langweiligen Feiertage in die Kordillere zu reiten; – anstrengende und gefährliche Ausflüge, wie ich einen mitgemacht habe, gerade recht, um überschüssige Kräfte zu verpulvern.

Dennoch erträgt man es einmal nicht mehr! Ich habe einen solchen Abend erlebt. Beim Abendessen im Kasino herrscht gewitterige Explosivstimmung. Der Chefingenieur erhebt sich: »Señores, wollen wir Whisky trinken?« Keiner antwortet – der Vorschlag ist einstimmig angenommen. Man wird lustig, kindisch, ausgelassen, dröhnend laut und ungeniert. Es sind ja nur Männer beisammen in dieser hochgelegenen Unterwelt der Anden. Um Mitternacht fährt eine Karrete der Compagnie vor. In Pelzjacken, dick wie die Eskimos, zwängt sich alles in den Wagen. Was innen nicht Platz hat, hängt am Trittbrett und steigt aufs Dach. Und dahin geht es in tollster Jagd halsbrecherische Kurven und Steilhänge lang. Der Chauffeur, der einzige noch Nüchterne, fährt wie ein Akrobat. Aber wenn er es auch nicht wäre, heute ist es jedem egal, ob die Karre in den Abgrund fliegt. Schon sind wir da! Fäuste und Stiefel hämmern an die Tür. Eine Sturmkompagnie verlangt Einlaß. Es wird einem angst um das arme Hüttchen. Selbstverständlich ist nur eine Dame vorhanden, una blanca: Weiße Haut ist hier selten, weiß ist exotisch und teurer als das teuerste einheimische Fell. Eine Frau und zwanzig Männer – was schadet's, wir trinken, tanzen, stülpen die Bude auf den Kopf und werfen die kurios feinen Möbel zum Fenster hinaus: Männervergnügen. Es wird alles bezahlt, Señora, claro! Was nützt das Geld hier oben, man pfeift darauf.

Am anderen Tag ist nichts geschehen. Man ist im Dienst, kein Wort, keine Miene erinnert an die verrückte Nacht.

Als die Amerikaner vor sechzig Jahren hier nach Metallen schürften, wurden sie von der einheimischen Bevölkerung, den Bergindianern, nicht nur verlacht, sondern auch vor den Geistern der Berge und Gletscher gewarnt. Auch heute noch hat es seine Schwierigkeit, wenn ein Stollen so weit vorgetrieben wird, daß er unter einen Gletscher stößt, die indianischen Arbeiter zum Vordringen in das Gebiet des »großen, weißen Geistes« zu bewegen. Die Amerikaner, die weder Geist noch Geister fürchten, ließen sich von solchem altmodischen Aberglauben nicht beirren, und heute rollen seit einem halben Jahrhundert Tag und Nacht ihre schwerbeladenen Kupferzüge an die Küste. Etwa ein Jahr nach meiner Reise durch diese Gebiete las ich in einer limenischen Zeitung die Nachricht von einem Grubenunglück in Morococha. Der See, unter dem die Stollen laufen, war infolge mangelhafter Stützbauten in die Grube eingedrungen. – Der Berggeist hatte seinen Tribut gefordert.

Ich bin dem großen weißen Geist nicht persönlich begegnet. Ich habe nur die Landschaft betrachtet, in der er wohnt, wenn er nicht inzwischen verzogen ist. Eisig düster schauen die Riesenhäupter der Anden hinunter in den verwüsteten Kessel, in dessen Grund der halb eingetrocknete, unterminierte See von dem chemischen Unrat, der sich in ihn ergießt, in allen Regenbogenfarben schillert. Unter Felsblöcken am See – Spielplatz zerlumpter Indianerkinder – liegen Alteisenhaufen und verrostete Transmissionsräder, und zwischen den verfallenen Steinhütten wirbelt der Bergwind den hartgefrorenen Staub auf und den penetranten Gestank ihrer unverbesserlichen Unsauberkeit.

Eines schönen Vormittags sah ich zwei Kinder an diesen Eisenabfällen vorbeischreiten, Knabe und Mädchen, Hand in Hand, europäisch sonntäglich ausstaffiert mit zu weiten Konfektionsfähnchen (damit der Bengel nicht so rasch herauswächst!), gekleidet wie rührende Zirkusaffen in bunten nordamerikanischen Kattun und fabrikneuen Lederstiefeln, was alles man im Minenbasar billig kauft oder gegen eigenes Schafwollgewebe vorteilhaft eintauscht. Sie machten große scheue Augen, als sie den weißen Mann mit dem Kurbelkasten erblickten. Das Mädchen schleppte ein Gebetbuch so groß wie das Berliner Adreßbuch, und der Junge hielt einen großen schwarzen Regenschirm (ein vornehmes Möbel, ein Kulturerzeugnis!), als er mich gewahr wurde, noch ernster und steifer in der kleinen, braunen Faust: Zivilisation und Industrie Hand in Hand.

Die Minenarbeiter sind ausschließlich Cholos, Quechua-Mischindianer, Nachkommen der einst königlichen Inkas, die keine Ahnung gehabt haben, was Armut ist. Man sieht schöne Kerle unter ihnen, sozusagen klassische, von Meunier modellierte Arbeitergestalten. Im übrigen und außer seinem scharf geschnittenen Bronzegesicht mit der aristokratischen Adlernase unterscheidet sich der braune Proletarier in nichts von seinem internationalen Kollegen. Er fährt genau so mit Grubenlampe und Emailsuppenkännchen ein wie der Kumpel im Ruhrgebiet. Auch unter den Cholas und Cholitas (Frauen und Mädchen) sieht man stattliche Gestalten. Sie tragen das schwere blauschwarze Haar in einem Knoten oder Zopf im Nacken; mit ihren rabenschwarzen Augen fixieren sie den Fremdling neugierig naiv und absichtslos. Der Kälte wegen und vielleicht aus Eitelkeit sind sie bis an die Knöchel in grellfarbige Wollröcke verpackt, haben sechs, acht Röcke an, wie die Bäuerinnen in der Schwalm, wirken dadurch noch monumentaler und als Wasserträgerinnen, den irdenen Krug auf dem Kopf balancierend, ägyptisch stilvoll. Auch die Weiber fahren in die Grube, um den Männern das Essen zu bringen; andere wieder arbeiten bei der Erzsortierung. Diese einzigen ausgenommen, sieht man eine Chola nie und nirgends ohne die unvermeidliche fadenspinnende Holzspindel, die sie unablässig in den Fingern dreht. Und ebenso schleppt sie, wo sie geht und steht, in einem um den Hals geknüpften Tuch ihr Baby auf dem Rücken, dem sie, wenn sie Zeit zu Zärtlichkeiten hat, die Läuse absucht. Wie alle Bergindianer hausen auch die Minencholos in Hütten aus lose übereinandergelegten Steinen, die sie in Ermangelung von Berggras hier mit verrosteten Wellblechfragmenten überdachen. Ihr Haus- und Lieblingstier ist, neben einem Rudel verhungerter Hunde, die wenig Ansehen genießen, das Lama. Ihre Sprache ist außer spanischem Kauderwelsch das Quechua, die heute noch stark verbreitete Inkasprache.

Als ich einige Cholas knipsen wollte und sie um die Erlaubnis dazu bat, sagten sie, sie hätten kein Geld. Ich sagte, das kostet nichts. Aber sie schüttelten ungläubig den Kopf und zogen sich furchtsam zurück. Vermutlich hielten sie meine Erklärung für einen schlauen Händlertrick. Die weißen Herrschaften, die in solcher Gegend zuweilen auftauchen, um irgendwelche Geschäftchen zu machen, meist Armenier oder Chinesen, sind natürlich die geriebensten Gauner. Aber ganz so dumm, wie die glauben, sind die Indianer doch nicht. Ich mußte bei einer anderen Gelegenheit eine ziemliche Überredungskunst entfalten, bis es mir gelang, das Mißtrauen der Photoscheuen zu besiegen.

*

In Morococha wurde uns geraten, in der Schmelzstadt Oroya ein, zwei Tage Station zu machen. Ein großes Schmelzwerk im peruanischen Hochgebirge, das ist natürlich interessant. Für mich war aber etwas anderes noch interessanter. Als wir an der Station Rio Blanco vorbeifuhren, sah ich hinausblickend tief unten vor einer riesenhaften senkrechten Felswand eine festungsartige Burg, einen in Quadern aufgerichteten, quadratisch-kubistisch zwischen Fluß und Berg vor die Steilwand hingetürmten Bau. In wunderbar geschützter Lage, rückengedeckt durch den Berg, die Vorderfront gegen den Fluß gekehrt, grundrißartig liegt er da, breit am Boden, sich verjüngend gegen die Höhe, mit gewaltigen Tortürmen und hochummauertem, von Felstrümmern übersäten Innenhof. Ein Inkabau, vollständig unversehrt, wenngleich der Berg hinter ihm seit Jahrhunderten seine abwitternden Blöcke nach ihm schleudert, noch ganz intakt, aber verlassen, leer und ausgestorben. Aber rührt sich da vorne nicht etwas? Ziegen oder Lamas? Vielleicht auch Menschen? Es wird wohl ein indianischer Hirte sein, der da wohnt, einen Steinwurf weit von der Festung, in seiner kleinen Hütte und umgeben von einem lose aufgeschichteten Mauerkreis, in dem seine Tiere sich tummeln. Einsame Wildnis, in der eine große Vergangenheit schläft! Ich kann nicht widerstehen, mich in sie hineinzuträumen.

siehe Bildunterschrift

Surco, die Stadt der Blumen (Zeichnung des Verfassers)

siehe Bildunterschrift

Eine Gruppe Huaynito-Tänzer

siehe Bildunterschrift

Zahnfelsen in der Cordillera negra, auf der Strecke nach Huanuco

siehe Bildunterschrift

Die Oroya-Bahn klettert höher und höher

Die schweren Eisentore öffnen sich kreischend. Vielleicht sind die Beschläge von Gold! Warum nicht? Im alten Peru war Gold ein Metall, nicht mehr wert als ein anderes auch. Und heute noch gibt es Indianer, deren Werkzeuge aus purem Golde sind, weil sie kein anderes Metall haben. Federngeschmückte Inkas kommen aus dem Quaderntor, eine reich verzierte Sänfte folgt, der Fürst geht auf die Jagd. Die Mannschaften tragen Speere und Bogen, von ihren Gürteln hängen die langen, buntbemalten, mit Fransen verzierten und mit Pfeilen vollgepfropften Lederköcher fast bis zur Erde. Der Trupp geht den schmalen Pfad am Fluß entlang, ein Mann hinter dem andern, wendet sich bald nach rechts und verschwindet hinter einer leichten Staubwelle in der Felswildnis. Und was ist das, das jetzt aus der Staubwolke auftaucht? Oder ist es kein Staub, sondern nur der Qualm der keuchenden Lokomotive? Kleine Häuser, Reihenhäuser, eintönige, fabrikrote Backsteinkästen mit Wellblechdächern, rußige Gassen, Güterzüge, langsam vorbeirollend, mit Kupferbarren beladen, amerikanische Ingenieure in staubigen Stiefeln, Indianer in Arbeitermonturen, und wieder Mauern, Schlote, riesige Röhren zwischen Eisengerüsten. Wir sind in Oroya, der amerikanischen Minenstadt mit dem großen Schmelzwerk, in dessen feuerspeiende Smelterkessel alle Erze aus den umliegenden Gruben wandern: Kupfer, das silberhaltig ist, Blei und Zink.

Man sagte mir, die Berghöhen um Oroya seien früher bewachsen gewesen. Aber die giftigen Dünste aus den Riesenschloten des Schmelzwerkes, die in dem engen Felskessel lagern wie eine stickende Nebelwolke, hätten alle Vegetation vernichtet.

*

Man kann von Oroya aus mit der Karrete auf malerisch kühner Bergstraße nach Tarma und La Merced sausen, von dort entweder nach Oxapampa reiten oder den allgemein begangenen Pichisweg oder gar die neue Flugzeugstation San Ramon erreichen und von dort in drei Tagen nach Iquitos fliegen, was zwar eine gewaltige Stange Geld kostet. Wir hatten weder Geld noch in Iquitos unaufschiebbare Geschäfte zu erledigen. Schon bekannte Routen kamen für uns nicht in Betracht, nicht nur, weil die begangensten Wege die teuersten sind – denn ein Vagabund kommt auch da durch –, sondern weil sie außerdem die langweiligsten sind. Von Oroya geht eine Bahnabzweigung nach Jauja und Huancayo, wo sie zu Ende ist; was darauf schließen läßt, daß es dann anfängt, interessant zu werden. Wir sagten den gastfreundlichen Beamten von Oroya adios, warfen unser Gepäck in den Wagen und rollten ab, Richtung Huancayo. Dieser Ort war in unserem Programm gelegen, solange wir beabsichtigt hatten, Cuzco, die heilige Stadt, mitzunehmen. Wir wären dabei, um die bekannte Route von der Küste über Arequipa zu vermeiden, von Huancayo über Ayacucho durch unbegangenes Urwaldgebiet geritten. Je mehr ich aber an die Photos von Titicacasee dachte, die man in jeder illustrierten Zeitung sieht und die ich schon auswendig kann, und als wir uns überlegten, daß das südliche Peru der zivilisierteste Teil des Landes und die Bahn Mollendo – Cuzco – La Paz eigentlich die abgeklappertste Strecke Südamerikas ist, ließen wir den Gedanken fallen. Der Abstecher nach Huancayo jedoch kostete uns nichts als ein paar Tage Zeit.

Der Zug rasselt bergab, folgt in einem engen Tal den Krümmungen eines reißenden Gebirgsflusses und gewährt prachtvolle Blicke auf eine felsige Urweltlandschaft, die zu filmen ich nicht versäumte. Das einzige Zeichen der Zivilisation auf dieser Strecke sind außer den Gleisen die sogenannten Stationen: eine primitive Steinhütte, die in einem leeren Nichts mutterseelenallein dasteht. Wo sich das Tal weitet, sah ich zuweilen weitab von der Bahn die Firste einiger Palmdächer aus dem Dickicht lugen. Da wohnen also die Menschen, für die der Pack Zeitungen und Briefe bestimmt ist, die während der Fahrt hinausgeschmissen werden, worauf ein kleiner Indianerjunge dem Zug nachrennt und sie triumphierend einholt. Obwohl es abwärts geht, liegt Huancayo in einem bergbegrenzten Hochtal immer noch auf einer Höhe von 3340 Meter. Das Klima ist subtropisch. In den Pfützen eines ausgetrockneten Gebirgsbaches, der in der Regenzeit ein wilder Strom ist, hocken die Cholas von früh bis abends und waschen. Ob diese ewige Fummelei auf den Felsplatten viel Zweck hat, weiß ich nicht; aber es sieht sehr malerisch aus: die grellen Farbflecke der Wollröcke, ein frühlingshafter blaßblauer Himmel, in dem das zarte Grün der schlanken Eukalyptusbäume schwimmt, eine verwilderte Böcklinlandschaft – das war etwas für meinen unbezähmbaren Aquarellierdrang, den ich freilich nur in Abwesenheit meines Kameraden befriedigen konnte. Freund Rolf hielt von der Malerei im allgemeinen nicht viel und von der meinen noch weniger.

Lustig ist der Wochenmarkt in Huancayo, auf dem die Seranos, von allen Seiten von den Bergen herunterkommend, ihre Herrlichkeiten feilbieten. Um einen Begriff von Handel und Industrie in Huancayo geben zu können, muß man die Waren aufzählen. Da sieht man im bunten Durcheinander alle möglichen Früchte, immer auf ein auf den Boden gebreitetes Tuch gelegt, Chancaca (Rohzucker), Kokablätter, Brennholzbündel, Erzeugnisse indianischer Hausindustrie: Tonvasen, kunstvolles Zaumzeug, Baststricke, lederne Mokassins, selbstgewebte Bänder und Decken, allerlei Felle und Bälge und lebende schwarze Mutterschweine mit einem Dutzend quiekender Ferkel. Auf kleinen Öfchen wird Reis mit Hühnerfleisch und Aji gekocht, eine putzige Schmorerei, die an die Puppenküchen der kleinen Mädchen erinnert. Rätselhaft war mir, was Bündel von ganz gewöhnlichem Gras bedeuten sollen oder farbige Steinbrocken, wie wir sie in der Schulzeit gesammelt haben. Wahrscheinlich waren das Erdfarben. Sogar Anilinfarben gibt es! Huancayo ist immerhin Bahnstation, was einen findigen deutschen Geschäftsreisenden nicht schlafen ließ. Er gab seine Offerte ab, und die Indios fanden, daß die fertigen Farben auch ganz schön bunt und außerdem praktischer sind als die mühselig selbstbereiteten. Schade! Die Skala der indianischen Erdfarben ist zwar primitiver, aber dafür auch reiner, ursprünglicher und leuchtender.

Die Indianer nehmen Kauf und Verkauf sehr wichtig und ernst und müssen alles erst gründlich berühren, prüfen und beriechen. Wenn eine India sich, da Markttag (La Feria) gleichbedeutend mit Festtag ist, den Luxus erlaubt, eines der runden weißen Brötchen zu kaufen, die unseren Semmeln gleichen, aber süß schmecken, so tut sie das nicht, ohne mindestens sechs zu befühlen, bis sie eines erwirbt.

Ich wäre erstaunt gewesen, hätte ich in Huancayo nicht auch drei, vier Deutsche getroffen, die, ich weiß nicht warum, in dieser weltentlegenen Lehmstadt leben. Einer war Besitzer einer verfallenen Brauerei, der andere fabriziert deutsche Wurstwaren und fränkische Witze, der dritte ist Elektrotechniker und wartet auf den Aufschwung der Elektrizität bei den Conibo-Indianern, und der vierte ist nur verheiratet: mit einer Chola. Und dann traf ich noch einen, aber der war nicht standesgemäß. Er lehnte an der Mauer, als wir vorbeikamen, und murmelte etwas. Ich kann an keinem Landstreicher vorbeigehen. Sie sind Taugenichtse, Romantiker, Fremdlinge in der Menschheit – meine Brüder.

Der Sachsenmaxe, der einzige deutsche Beachcomber in Peru, wie er sich nannte, ist ein großer, strammer Kerl und nicht halb so gebeugt, wie er tun muß, um mitleiderregenden Eindruck zu erwecken. Gewiß, seine Stiefel sehen bös aus, und die Schwielen der Hand, die sich auf den Stock stützt, sind auch echt. Aber vom Arbeiten kommen sie nicht.

»Es gibt keine Arbeit, Señores! Und wenn es Arbeit gibt, dann wollen sie nichts bezahlen! Ich habe Steindrucker gelernt in Leipzig. Damals wurden die ersten drei deutschen Viermaster gebaut, die ›Donau‹, die ›Werra‹ und die ›Fulda‹ in Bremerhaven und Stettin. Auf der ›Donau‹ habe ich die erste Seereise gemacht. Von Marseille habe ich die ›Gioconda‹ als zweiter Maschinist herübergebracht. Bei der Dänisch-Russischen Steamscompany in Kopenhagen war ich zwei Jahre. Dreitausend Kronen verdient. Also salud, meine Herren, Prost! Ich war erster Koch im Infanterieregiment – wie heißt es, weiß der Deubel, ich bin schon a bißl besoffen, in Kentucky war's. Da hab ich Geld verdient! Habe den Krieg in Cuba mitgemacht. Von Madanses sind wir rüber nach Habana, da war gelbes Fieber; ich kam ins Hospital. Aber ihr gebt mir doch ein paar Cents Schlafgeld? Ich will weiter nichts haben, nur ein paar Cents zum Schlafen. Ich bin ein ganz gewöhnlicher Sachse, aber die Sachsen sein helle, wenn der Mond scheint. In Peru bin ich acht Jahre. Bin inzwischen wieder weggewesen, zur See. Mein Lebenslauf ist Geld wert –«

Das hatte ich inzwischen bereits begriffen.

»Das soll mir einer nachmachen, was ich gemacht habe! Caramba! Bin vierundzwanzig Stunden im Wasser geschwommen, das Schiff ist abgebrannt, ich kann was erzählen! Prost, meine Herrn! Ich will meinen Lebenslauf aufschreiben, daß es Gold wert ist! Gebt mir einen Tag, und ich schreibe ihn auf, daß niemand in der Welt es nachmachen kann! Also, Landsmann, das Schlafgeld!«

Wir fragten einen Deutschen, wie lange der Sachsenmaxe schon in Peru herumstrolcht. Er antwortete, er sei jetzt sechsundzwanzig Jahre hier, und als er herkam, war er schon dagewesen.


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