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Zehntes Kapitel

Die Reformation.

Opposition gegen die Ansprüche der Kirche.

Im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts klagte man vor allem über die Verderblichkeit der Annaten. Abgaben an den Papst nach jeder Bischofswahl. Es war schon an sich wahrscheinlich die drückendste Steuer, die in dem Reiche vorkam: zuweilen hat ein Prälat, um sie seinen Untertanen zu ersparen, eine Herrschaft seines Stiftes zu verpfänden gesucht; Diether von Isenburg ist hauptsächlich deshalb abgesetzt worden, weil er die Verpflichtungen nicht erfüllen konnte, die er wegen seines Palliums eingegangen. Unerträglich aber ward der Zustand, sobald einmal häufigere Vakanzen eintraten. In Passau z. B. geschah das 1482, 1486, 1490, 1500: der zuletzt erwählte Bischof begab sich nach Rom, um eine Erleichterung für sein Stift auszuwirken, aber er richtete dort nichts aus, und der lange Aufenthalt am Hofe vermehrte nur seine Geldnot. Die Kosten eines Palliums für Mainz betrugen 20 000 G.: die Summe war auf die einzelnen Teile des Stiftes umgelegt: der Rheingau z. B. hatte allemal 1000 G. beizusteuern; im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts wiederholten sich nun die Vakanzen dreimal rasch hintereinander: 1505, 1508, 1513: Jakob von Liebenstein sagte, er bedaure seinen Tod hauptsächlich deshalb, weil sein Land nun schon wieder jene Gefälle zahlen müsse; aber beim päpstlichen Hofe war alle Verwendung vergeblich: ehe noch die alte Anlage eingegangen war, wurde schon wieder eine neue ausgeschrieben.

Welchen Eindruck mußte es hervorbringen, wenn man daran dachte, wie die Reichstage nach den mühsamsten Unterhandlungen doch in der Regel nur geringfügige Bewilligungen machten, wieviel Schwierigkeit es hatte, diese aufzubringen, und wenn man nun die Summen dagegen hielt, die so leicht, so ohne alle Bemühung nach Rom flossen. Man berechnete sie jährlich auf 300 000 G., und zwar noch ohne die Prozeßkosten oder den Ertrag der Pfründen, der dem römischen Hofe zufalle. Und wozu, fragte man dann, nütze das alles? Die Christenheit habe doch in kurzer Zeit zwei Kaisertümer, vierzehn Königreiche, dreihundert Städte verloren; gegen die Türken sei sie in unaufhörlichem Verluste; behalte die deutsche Nation jene Summen zu ihren Händen und verwende sie selber, sie würde mit ihren gewaltigen Kriegsherren dem Erbfeind anders begegnen!

Überhaupt erregte dies finanzielle Moment die größte Aufmerksamkeit. Den Barfüßern wollte man nachrechnen, daß ihnen, denen kein Geld anzurühren erlaubt sei, doch alle Jahre die Summe von 200 000 G. einlaufe, den gesamten Bettelmönchen eine Million.

Dazu kamen die Kollisionen der geistlichen und der weltlichen Gerichtsbarkeit: die allmählich um so mehr hervortraten, je mehr die Territorien nach einer gewissen Abgeschlossenheit trachteten, sich zu Staaten zu gestalten strebten. Da ist besonders Sachsen merkwürdig. In den verschiedenen Besitzungen beider Linien hatten nicht allein die drei einheimischen Bischöfe, sondern auch die Erzbischöfe von Mainz und von Prag, die Bischöfe von Würzburg und Bamberg, Halberstadt, Havelberg, Brandenburg und Lebus geistliche Jurisdiktion. Die Verwirrung, die hierdurch an und für sich entstand, wuchs nun noch dadurch ungemein, daß alle Streitsachen zwischen Geistlichen und Weltlichen nur vor geistlichen Gerichten verhandelt wurden, so daß Vornehme und Geringe unaufhörlich mit dem geistlichen Bann geängstigt wurden...

Die Städte fühlten sich besonders durch die Exemptionen [Ausnahmestellung] der Geistlichkeit belästigt, was konnte einem wohlgeordneten Gemeinwesen unangenehmer sein, als eine zahlreiche Genossenschaft in ihren Mauern zu haben, welche weder die Gerichte der Stadt anerkannte noch ihre Auflagen trug noch ihren Anordnungen überhaupt unterworfen zu sein glaubte. Da waren die Kirchen Asyle für die Verbrecher, die Klöster Sammelplätze einer liederlichen Jugend; es kommen Geistliche vor, welche ihre Steuerfreiheit dazu benutzen, Waren zum Verkauf kommen zu lassen, und wäre es nur um einen Bierschank anzulegen. Greift man sie dann in ihren Vorrechten an, so wehren sie sich mit Bann und Interdikt, wir finden die Stadträte unaufhörlich beschäftigt, diesen Übeln zu steuern. In dringenden Fällen suchen sie ihre Schuldigen auch in dem Asyl auf, und treffen dann Anstalten, um von dem unvermeidlichen Interdikt durch die höheren Instanzen wieder befreit zu werden: nicht ungern gehen sie den Bischof vorbei und wenden sich an den Papst; sie suchen Deformationen der Klöster durchzusetzen. Es kam ihnen sehr bedenklich vor, als die Pfarrer an der Einsammlung des gemeinen Pfennigs Anteil nehmen sollten: höchstens gestatteten sie ihnen Assistenz ohne Teilnahme. Wider die Absicht des Kaisers, einen Bischof zum Kammerrichter zu machen, setzen sich immer die Städte am eifrigsten.

Und da man nun einmal in so wichtigen Punkten das geistliche Institut mißbilligte, so kam man auch auf die übrigen Mißbräuche desselben zu reden. Wie lebhaft eifert Hemmerlin wider das unaufhörliche Anwachsen der geistlichen Güter, durch welches man Dörfer verschwinden, halbe Gaue veröden sehe; die übermäßige Anzahl der Feiertage, welche schon das Baseler Konzilium abstellen wollen; den Zölibat, dem die Sitte der morgenländischen Kirche bei weitem vorzuziehen sei; gegen die unbesonnene Erteilung der Weihe, wie man z. B. in Konstanz jedes Jahr 200 Priester weihe: wohin wolle das führen.

Es war so weit gekommen, daß die Verfassung des geistlichen Standes die öffentliche Moral beleidigte. Eine Menge Zeremonien und Rechte leitete man nur von der Begierde, Geld zu machen, her; der Zustand der in wilder Ehe lebenden Priester, die dann mit unechten Kindern beladen waren, und aller erkauften Absolution zum Trotz sich nicht selten in ihrem Gewissen beschwert fühlten, indem sie das Meßopfer vollzogen, eine Todsünde zu begehen fürchteten, erregte Mitleiden und Verachtung; die meisten, welche sich zum Mönchsstand bequemten, hatten keine andere Idee, als sich gute Tage ohne Arbeit zu machen. Man fand, die Geistlichkeit nehme von jedem Stand und Geschlecht nur das Angenehme und fliehe das Peinliche. Von den Rittern nehme der Prälat glänzende Umgebung, großes Gefolge, prächtiges Reitzeug, den Falken auf der Faust; mit den Frauen teile er den Schmuck der Gemächer und die Gartenlust; aber die Last der Harnische, die Mühe der Haushaltung wisse er zu vermeiden. Wer sich einmal gütlich tun will, sagte ein Sprichwort, der schlachte ein Huhn; wer ein Jahr lang, der nehme eine Frau; wer es aber alle seine Lebtage gut haben will, der werde ein Priester.

Unzählige Aussprüche in diesem Sinne waren in Umlauf; die Flugschriften jener Zeit sind voll davon.

Populäre Literatur.

Es hatte das aber um so mehr zu bedeuten, da der Geist der Nation, der sich in einer beginnenden populären Literatur aussprach, überhaupt eine Richtung nahm, welche mit dieser mißbilligenden Verwerfung in ihrem Ursprung, ihrem innerlichen Grunde zusammenhing.

Jedermann wird uns zugestehen, daß, wenn wir Rosenblüt und Sebastian Brant, den Eulenspiegel und die Bearbeitung des Reineke Fuchs vom Jahre 1498 nennen, wir damit die hervorleuchtendsten Erscheinungen bezeichnen, welche die Literatur dieser Zeit darbietet. Und fragen wir dann, welchen gemeinschaftlichen Charakter sie haben, so ist es der der Opposition. Die Fastnachtsspiele des Hans Rosenblüt haben recht eigentlich diese Bestimmung: er läßt einmal den türkischen Kaiser auftreten, um allen Ständen der Nation die Wahrheit zu sagen. Was Eulenspiegel Beifall verschaffte, war nicht so sehr seine tölpische Grobheit und Spaßhaftigkeit, als die Ironie, welche über alle Stände ausgegossen wird: an diesem Bauern, »der sich mit Schalksnägeln kraut«, wird jeder Witz eines anderen zuschanden. Nur von dieser Seite faßte der deutsche Bearbeiter die Fabel vom Fuchs auf, er sieht darin eine Symbolisierung der Mängel der menschlichen Gesellschaft, wie er denn gar bald die verschiedenen Stände entdeckt hat und sich bemüht, die Lehren zu entwickeln, die der Poet einem jeden erteile. Auf den ersten Blick tritt dieser Inhalt in Brants Narrenschiff hervor. Es ist nicht Spott über einzelne Torheiten: auf der einen Seite wird das Laster, ja das Verbrechen, auf der anderen auch ein höheres über das Gemeine hinausgehendes Bestreben – wenn man z. B. all sein Sinnen darauf richte, Städte und Länder zu erkunden, wenn man den Zirkel zur Hand nehme, um zu erforschen, wie breit die Erde, wie fern das Meer sich ziehe –, unter dem Gesichtspunkt der Torheit betrachtet. Glorie und Schönheit werden verachtet, weil sie vergänglich sind: »nichts ist bleiblich als die Lehre«.

Bei dieser allgemeinen Opposition gegen die obwaltenden Zustände geschieht nun auch überall der Mängel in dem geistlichen Stande Erwähnung. Sehr lebendig eifert schon der Schnepperer gegen die Pfaffen, »welche hohe Rosse reiten, aber nicht mit den Heiden kämpfen wollen«; im Eulenspiegel werden die gemeinen Pfaffen mit ihren hübschen Kellnerinnen, säuberlichen Pferdchen und vollen Küchen fast am häufigsten verspottet, sie erscheinen dumm und gierig; auch im Reineke spielen die Papemeierschen, die Haushaltungen der Pfaffen, wo sich kleine Kinder finden, eine Rolle, und der Erklärer wenigstens nimmt es damit sehr ernstlich, er erörtert, daß die Sünden der Pfaffen, wegen des bösen Beispiels, das dadurch gegeben werde, noch höher anzuschlagen seien als Laiensünden; und so ergießt denn auch Doktor Brant seinen Unwillen gegen den allzufrühen Eintritt in die Klöster, ehe jemand recht zu einem Menschen geworden, so daß er dann alles ohne Andacht tue, und führt uns in die Haushaltungen der unberufenen Priester ein, denen es doch zuletzt an ihrer Nahrung fehlt, während ihre Seele mit Sünden beschwert ist: »denn Gott achtet des Opfers nicht, das in Sünden mit Sünden geschicht«. Indessen ist das doch nicht ausschließend, ja, man könnte nicht einmal sagen vorzugsweise der Inhalt dieser Schriften: ihre Bedeutung ist um vieles allgemeiner.

Während man in Italien den romantischen Stoff des Mittelalters in glänzenden und großartigen Werken der Poesie umschuf, wendete ihm der deutsche Geist keine wahre Aufmerksamkeit mehr zu: Titurel und Parzival z. B. wurden gedruckt, aber als Antiquität, in einer schon damals unverständlichen Sprache.

Während die Opposition, welche die Institute des Mittelalters auch dort in der fortschreitenden Entwicklung des Geistes fanden, sich scherzhaft gestaltete, ein Element der Behandlung wurde, sich den Idealen der Poesie als deren Verspottung an die Seite stellte, setzte sie sich hier selbständig fest und wandte sich unmittelbar gegen die Erscheinungen des Lebens, nicht gegen deren Reproduktion in der Fabel.

Allem Tun und Treiben der verschiedenen Stände, Alter, Geschlechter tritt in der deutschen Literatur jener Tage der nüchterne Menschenverstand gegenüber, die gemeine Moral, die nackte Regel des gewöhnlichen Lebens, die aber eben das zu sein behauptet, »wodurch die Könige ihre Kronen haben, Fürsten ihre Länder, alle Gewalten ihre rechtliche Geltung«.

Der allgemeinen Verwirrung und Gärung, die in den öffentlichen Verhältnissen sichtbar ist, entspricht es, es ist ihr natürlicher Gegensatz, daß in der Tiefe der Nation der gesunde Menschenverstand zur Besinnung kommt, und prosaisch, bürgerlich, niedrig wie er ist, aber durch und durch wahr, sich zum Richter der Erscheinungen der Welt aufwirft.

Es ist ein bewundernswürdiges Bestreben, wenn man in Italien, durch die Denkmale des Altertums an die Bedeutung der schönen Form erinnert, mit ihnen wetteifert und Werke zustande bringt, an denen der gebildete Geist ein unvergängliches Wohlgefallen hat; aber man kann wohl sagen: nicht minder groß und für den Fortgang der Dinge noch bedeutender ist es, daß hier der nationale Geist nach jahrhundertelang fortgesetzter Ausbildung zum Bewußtsein seiner selber gelangt, sich von den Überlieferungen losreißt und die Dinge, die Institute der Welt, an der ihm eingeborenen Idee der Wahrheit prüft.

Auch in Deutschland verabsäumte man die Forderungen der Form nicht so ganz. In dem Reineke läßt sich wahrnehmen, wie der Bearbeiter alles entfernt, was zur Manier der romantischen Dichtung gehört, leichtere Übergänge sucht, Szenen des gemeinen Lebens zu vollerer Anschaulichkeit ausbildet, überall verständlicher, vaterländischer zu werden strebt, z. B. die deutschen Namen vollends einführt: sein Bemühen ist vor allem, seinen Stoff zu popularisieren, ihn der Nation so nahe wie möglich zu bringen, und sein Werk hat hierbei die Form bekommen, in der es nun wieder mehr als drei Jahrhunderte seine Leser sich gesammelt hat. Sebastian Brant besitzt für die Sentenz, das Sprichwörtliche, ein unvergleichliches Talent, für seine einfachen Gedanken weist er den angemessensten Ausdruck zu finden: seine Reime kommen ihm ungesucht und treffen in glücklichem Wohllaut zusammen: »hier«, sagte Geiler von Keisersberg, »ist das Angenehme und das Nützliche verbunden, es sind Becher reinen Weines, hier bietet man in kunstvollen Geschirren fürstliche Speisen dar.« Aber so in dieser wie in einer Menge anderer sie umgebenden Schriften bleibt der Inhalt die Hauptsache, der Ausdruck der Opposition der gemeinen Moral und des alltäglichen Verstandes wider die Mißbräuche in dem öffentlichen Leben und das Verderben der Zeit.

Soeben nahm auch ein anderer Zweig der Literatur, die gelehrte, und vielleicht nur noch entschiedener, eine verwandte Richtung.

Gelehrte Literatur

Darauf hatte nun Italien den größten Einfluß. In Italien war die Scholastik so wenig wie die romantische Poesie oder die gotische Baukunst zu vollständiger Herrschaft gelangt: es blieb hier immer Erinnerung an das Altertum übrig, die sich endlich in dem fünfzehnten Jahrhundert auf das großartigste erhob, alle Geister ergriff und der Literatur ein neues Leben gab.

Auch auf Deutschland wirkte diese Entwicklung mit der Zeit zurück, wenn auch zunächst nur in Hinsicht des Äußerlichsten, des lateinischen Ausdrucks.

Bei dem unausgesetzten Verkehr mit Italien, den die kirchlichen Verhältnisse herbeiführten, empfanden die Deutschen gar bald die Überlegenheit der Italiener: sie sahen sich von den Zöglingen der dortigen Grammatiker und Rhetoren verachtet und fingen selbst an, sich zu schämen, daß sie so schlecht sprachen, so elend schrieben. Kein Wunder, wenn sich jüngere strebende Geister endlich auch entschlossen, ihr Latein in Italien zu lernen. Es waren zuerst ein paar begüterte Edelleute, ein Dalberg, ein Langen, ein Spiegelberg, die nicht allein sich selbst bildeten, sondern sich auch das Verdienst erwarben, Bücher mitzubringen, grammatische Schriften, bessere Ausgaben von Klassikern, und diese ihren Freunden mitteilten. Dann erschien auch wohl einmal ein Talent, das sich die klassische Bildung jener Zeit vollständig aneignete. Rudolf Huesmann von Gröningen, genannt Agricola, ist ein solches: die Virtuosität, die er sich erwarb, erregte ein allgemeines Aufsehen: wie ein Römer, wie ein zweiter Virgil ward er in den Schulen bewundert. Er selbst zwar hatte nur im Sinne, sich weiter auszubilden: die Mühseligkeiten der Schule waren ihm widerwärtig: in die engen Verhältnisse, die einem deutschen Gelehrten zugemessen sind, konnte er sich nicht finden, und andere, in die er eintrat, befriedigten ihn doch nicht, so daß er sich rasch verzehrte und vor der Zeit starb; aber er hatte Freunde, denen es nicht so schwer wurde, sich in die Notwendigkeiten des deutschen Lebens zu schicken, und denen er mit lebendiger Anweisung zu Hilfe kam. In einer schönen vertraulichen Freundschaft stand Agricola mit Hegius in Deventer, der sich ihm mit bescheidener Lernbegierde anschloß, ihn um einzelne Belehrungen ersuchte und mit freudiger Teilnahme von ihm gefördert ward; einen anderen seiner Freunde Dringenberg zog er nach Schlettstadt. Von Deventer aus wurden dann die niederdeutschen Schulen, Münster, Hervord, Dortmund, Hamm, mit Lehrern versehen und reformiert; die Städte des oberen Deutschlands wetteiferten, die Schüler Dringenbergs anzustellen. In Nürnberg, Ulm, Augsburg, Frankfurt, Hagenau, Memmingen, Pforzheim finden wir mehr oder minder namhafte Poetenschulen; Schlettstadt selbst stieg einmal auf 900 Schüler. Man wird nicht glauben, daß diese Literaten, welche hier eine rohe Jugend, die großenteils von Almosen leben mußte, keine Bücher besaß, sich in seltsam disziplinierten Gesellschaften – Bacchanten und Schützen – von Stadt zu Stadt trieb, in Ordnung zu halten und in den Anfangsgründen zu unterweisen hatten, gerade große Gelehrte gewesen wären oder deren gebildet hätten: auch kam es darauf nicht an: es war schon Verdienst genug, daß sie eine bedeutende Dichtung festhielten, nach Kräften ausbreiteten, die Bildung eines lebendigen literarischen Publikums begründeten. Allmählich wichen die bisherigen Lehrbücher; aus den deutschen Pressen gingen klassische Autoren hervor; schon am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts macht ein Geiler von Keisersberg, der sonst dieser literarischen Richtung nicht angehört, den gelehrten Theologen ihr Latein zum Vorwurf, das roh und matt und barbarisch sei, weder deutsch noch lateinisch, sondern beides und keins von beiden.

Denn da die Scholastik der Universitäten, welche bisher den Elementarunterricht beherrscht hatte, bei ihrer gewohnten Ausdrucksweise verblieb, so mußte zwischen der neu aufkommenden humanistischen und der alten Methode eine Reibung entstehen, die dann nicht verfehlen konnte, von dem allgemeinen Element der Sprache her auch andere Gebiete zu ergreifen.

Eben von diesem Moment ging ein Autor aus, der es zum Geschäft seines Lebens machte, die Scholastik der Universitäten und Klöster anzugreifen, der erste große Autor der Opposition in modernem Sinne, ein Niederdeutscher, Erasmus von Rotterdam.

Erasmus.

Überblicken wir die ersten dreißig Lebensjahre des Erasmus, so war er in unaufhörlichem inneren Widerspruch mit dem Kloster- und Studienwesen jener Zeit aufgewachsen und geworden, was er war. Man könnte sagen: er war gezeugt und geboren in diesem Gegensatz: sein Vater hatte sich mit seiner Mutter nicht vermählen dürfen, weil er für das Kloster bestimmt war. Ihn selbst hatte man auf keine Universität ziehen lassen, wie er wünschte, sondern in einer unvollkommenen Klosteranstalt festgehalten, die ihm sehr bald nicht mehr genügte; ja, man hatte ihn durch allerlei Künste mit der Zeit vermocht, selbst in ein Kloster zu treten und die Gelübde abzulegen. Erst dann aber fühlte er ihren ganzen Druck, als er sie auf sich genommen: er hielt es schon für eine Befreiung, daß es ihm gelang, eine Stelle in einem Kollegium zu Paris zu erhalten; jedoch auch hier ward ihm nicht wohl: er sah sich genötigt, statistischen Vorlesungen und Disputationen beizuwohnen, und dabei klagt er, daß die verdorbene Nahrung, der kanigte Wein, von denen er dort leben mußte, seine Gesundheit vollends zugrunde gerichtet habe. Da war er aber auch schon zu dem Gefühle seiner selbst gelangt. So wie er noch als Knabe die erste Spur einer neuen Methode bekommen, war er ihr, mit geringen Hilfsmitteln, aber mit dem sicheren Instinkt des echten Talentes, nachgegangen: er hatte sich eine dem Muster der Alten nicht in jedem einzelnen Ausdruck, aber in innerer Richtigkeit und Eleganz entsprechende leicht dahinfliegende Diktion zu eigen gemacht, durch die er alles, was es in Paris gab, weit übertraf; jetzt riß er sich von den Banden, die ihn an Kloster und Scholastik fesselten, los; er wagte es, von der Kunst zu leben, die er verstand. Er unterrichtete und kam dadurch in fördernde und seine Zukunft sichernde Verbindungen; er machte einige Schriften bekannt, die ihm, wie sie denn mit ebensoviel Vorsicht als Virtuosität abgefaßt waren, Bewunderung und Gönner verschafften; allmählich fühlte er, was das Publikum bedurfte und liebte, er warf sich ganz in die Literatur. Er verfaßte Lehrbücher über Methode und Form; übersetzte aus dem Griechischen, das er dabei erst lernte; edierte die alten Autoren, ahmte sie nach, bald Lucian, bald Terenz, – er zeigte allenthalben den Geist seiner Beobachtung, welcher zugleich belehrt und ergötzt: was ihm aber hauptsächlich sein Publikum verschaffte, war die Tendenz, die er verfolgte. Jene ganze Bitterkeit gegen die Formen der Frömmigkeit und Theologie jener Zeit, die ihm durch den Gang und die Begegnisse seines Lebens zu einer habituellen Stimmung geworden, ergoß er in seine Schriften: nicht daß er sie zu diesem Zwecke von vornherein angelegt hätte, sondern indirekt, da, wo man es nicht erwartete, zuweilen in der Mitte einer gelehrten Diskussion, mit treffender, unerschöpflicher Laune. Unter anderen bemächtigte er sich der durch Brant und Geiler populär gewordenen Vorstellung von dem Element der Narrheit, das in alles menschliche Tun und Treiben eingedrungen sei: er führte sie selbstredend ein, Moria, Tochter des Plutus, geboren auf den glückseligen Inseln, genährt von Trunkenheit und Ungezogenheit, Herrscherin über ein gewaltiges Reich, das sie nun schildert, zu dem alle Stände der Welt gehören. Sie geht sie sämtlich durch, bei keinem aber verweilt sie länger und geflissentlicher als bei den Geistlichen, die ihre Wohltaten nicht anerkennen wollen, aber ihr nur desto mehr verpflichtet sind. Sie verspottet das Labyrinth der Dialektik, in dem die Theologen sich gefangen haben, die Syllogismen, mit denen sie die Kirche zu stützen vermeinen wie Atlas den Himmel, den Verdammungseifer, mit dem sie jede abweichende Meinung verfolgen; – dann kommt sie auf die Unwissenheit, den Schmutz, die seltsamen und lächerlichen Bestrebungen der Mönche, ihre rohen und zänkischen Predigten; auch die Bischöfe greift sie hierauf an, die sich jetzt mehr nach Gold umsehen als nach den Seelen, die schon genug zu tun glauben, wenn sie in theatralischem Aufzug als die verehrungswürdigsten heiligsten seligsten Väter segnen oder fluchen; kühnlich tastet sie endlich auch den römischen Hof und den Papst selber an, er nehme für sich nur das Vergnügen, und für sein Amt lasse er die Apostel Peter und Paul sorgen. Mitten unter den seltsamen Holzschnitten, mit denen das Büchelchen nach den Randzeichnungen von Hans Holbein ausgestattet worden, erscheint auch der Papst mit seiner dreifachen Krone.

Ein Werkchen, das einen schon einige Zeit daher gang und gäbe gewordenen Stoff geistreich und gedrängt zusammenfaßte, ihm eine Form gab, die allen Ansprüchen der Bildung genügte und in seiner entschiedenen Tendenz der Stimmung der Epoche zusagte: eine unbeschreibliche Wirkung brachte es hervor: noch bei Lebzeiten des Erasmus sind siebenundzwanzig Auflagen davon erschienen: in alle Sprachen ist es übersetzt worden: es hat wesentlich dazu beigetragen, den Geist des Jahrhunderts in seiner antiklerikalischen Richtung zu befestigen.

Dem populären Angriffe fügte Erasmus aber auch einen gelehrten tieferen hinzu. Das Studium des Griechischen war im fünfzehnten Jahrhundert in Italien erwacht, dem Latein zur Seite in Deutschland und Frankreich vorgedrungen und eröffnete nun allen lebendigen Geistern jenseit der beschränkten Gesichtskreise der abendländischen kirchlichen Wissenschaft neue glänzende Aussichten. Erasmus ging auf die Idee der Italiener ein, daß man die Wissenschaften aus den Alten lernen müsse, Erdbeschreibung aus Strabo, Naturgeschichte aus Plinius, Mythologie aus Ovid, Medizin aus Hippokrates, Philosophie aus Plato, nicht aus den barocken und unzureichenden Lehrbüchern, deren man sich jetzt bediene; aber er ging noch einen Schritt weiter, er forderte, daß die Gottesgelahrtheit nicht mehr aus Scotus und Thomas, sondern aus den griechischen Kirchenvätern und vor allem aus dem Neuen Testament gelernt würde. Nach dem Vorgang des Laurentius Valla, dessen Vorbild überhaupt auf Erasmus großen Einfluß gehabt hat, zeigte er, daß man sich hierbei nicht an die Vulgata halten müsse, der er eine ganze Anzahl Fehler nachwies; er selbst schritt zu dem großen Werke, den griechischen Text, der dem Abendlande noch niemals gründlich bekannt geworden, herauszugeben. So dachte er, wie er sich ausdrückt, diese kalte Wortstreiterin Theologie auf ihre Quellen zurückzuführen; dem wunderbar aufgetürmten System zeigte er die Einfachheit des Ursprungs, von der es ausgegangen war, zu der es zurückkehren müsse. In alledem hatte er nur die Zustimmung des großen Publikums, für das er schrieb. Es mochte dazu beitragen, daß er hinter dem Mißbrauch, den er tadelte, nicht einen Abgrund erblicken ließ, vor dem man erschrocken wäre, sondern eine Verbesserung, die er sogar für leicht erklärte; daß er sich wohl hütete, gewisse Grundsätze, welche die gläubige Überzeugung festhielt, ernstlich zu verletzen. Die Hauptsache aber machte sein unvergleichliches literarisches Talent. Er arbeitete unaufhörlich, in mancherlei Zweigen, und wußte mit seinen Arbeiten bald zustande zu kommen: er hatte nicht die Geduld, sie aufs neue vorzunehmen, umzuschreiben, auszufeilen: die meisten wurden gedruckt, wie er sie hinwarf; aber ebendies verschaffte ihnen allgemeinen Eingang: sie zogen eben dadurch an, weil sie die ohne allen Rückblick sich fortentwickelnden Gedanken eines reichen, feinen, witzigen, kühnen und gebildeten Geistes mitteilten. Wer bemerkte gleich die Fehler, deren ihm genug entschlüpften? Die Art und Weise seines Vortrags, die den Leser noch heute fesselt, riß damals noch weit mehr jedermann mit sich fort. So ward er allmählich der berühmteste Mann in Europa: die öffentliche Meinung, der er Weg bahnte vor ihr her, schmückte ihn mit ihren schönsten Kränzen; in sein Haus zu Basel strömten die Geschenke; von allen Seiten besuchte man ihn; nach allen Weltgegenden empfing er Einladungen. Ein kleiner, blonder Mann, mit blauen, halbgeschlossenen Augen voll Feinheit und Beobachtung, Laune um den Mund, von etwas furchtsamer Haltung: jeder Hauch schien ihn umzuwerfen: er zitterte bei dem Worte Tod ...

Anfänge Luthers.

»Ich bin eines Bauern Sohn,« sagt Luther selbst, »mein Vater, Großvater, Ahn sind rechte Bauern gewesen; darauf ist mein Vater gen Mansfeld gezogen und ein Berghauer worden: daher bin ich.« Das Geschlecht, dem Luther angehört, ist in Möhra zu Hause, einem Dorfe unmittelbar an der Höhe des Thüringer Waldgebirges, unfern den Gegenden, an die sich das Andenken der ersten Verkündigungen des Christentums durch Bonifatius knüpft: da mögen die Vorfahren Luthers jahrhundertelang auf ihrer Hufe gesessen haben, – wie diese Thüringer Bauern pflegen, von denen immer ein Bruder das Gut behält, während die anderen ihr Fortkommen auf andere Weise suchen. Von diesem Los, sich irgendwo auf seine eigene Hand Heimat und Herd erwerben zu müssen, betroffen, wandte sich Hans Luther nach dem Bergwerk zu Mansfeld, wo er im Schweiße seines Angesichts sein Brot verdiente: mit seiner Frau Margret, die gar oft das Holz auf ihrem Rücken hereinholte. Von diesen Eltern stammte Martin Luther. Er kam in Eisleben auf die Welt, wohin, wie eine alte Sage ist, seine rüstige Mutter eben gewandert war, um Einkäufe zu machen. Er wuchs auf in der Mansfelder Gebirgsluft ...

In Eisenach, wo er eine höhere Schule besuchte, fand er Aufnahme bei den Verwandten seiner Mutter; in Erfurt, wohin er zur Universität ging, ließ ihm sein Vater, der indessen durch Arbeitsamkeit, Sparsamkeit und Gedeihen in bessere Umstände gekommen, freigebige Unterstützung zufließen: er dachte, sein Sohn solle ein Rechtsgelehrter werden, sich anständig verheiraten und ihm Ehre machen.

Auf die Beschränkungen der Kindheit aber folgen in dem mühseligen Leben der Menschen bald andere Bedrängnisse. Der Geist fühlt sich frei von den Banden der Schule; er ist noch zerstreut durch die Bedürfnisse und Sorgen des täglichen Lebens; mutvoll wendet er sich den höchsten Problemen zu, den Fragen über das Verhältnis des Menschen zu Gott, Gottes zur Welt: indem er ihre Lösung gewaltsam zu erstürmen sucht, ergreifen ihn leicht die unseligsten Zweifel. Es scheint fast, als sei der ewige Ursprung alles Lebens dem jungen Luther nur als der strenge Richter und Rächer erschienen, der die Sündhaftigkeit, von der ihm von Natur ein großartig lebendiges Gefühl beiwohnte, mit der Qual der Höllenstrafen heimsuche und den man nur durch Buße, Abtötung und schweren Dienst versöhnen könne, Als er einst, im Juli 1505, von dem väterlichen Hause zu Mansfeld wieder nach Erfurt zurückging, ereilte ihn auf dem Felde in der Nähe von Stotternheim eines jener furchtbaren Gewitter, wie sie sich nicht selten hier am Gebirge lange ansammeln und endlich plötzlich über den ganzen Horizont hin entladen. Luther war schon ohnedies durch den unerwarteten Tod eines vertrauten Freundes erschüttert. Wer kennt die Momente nicht, in denen das stürmische verzagte Herz durch irgendein überwältigendes Ereignis, wäre es auch nur eben der Natur, vollends zu Boden gedrückt wird. In dem Ungewitter erblickte Luther in seiner Einsamkeit auf dem Feldweg den Gott des Zornes und der Rache: ein Blitz schlug neben ihm ein: in diesem Schrecken gelobte er der heiligen Anna, wenn er gerettet werde, in ein Kloster zu gehen.

Noch einmal ergötzte er sich mit seinen Freunden eines Abends bei Wein, Saitenspiel und Gesang: es war das letzte Vergnügen, das er sich zugedacht: hierauf eilte er, sein Gelübde zu vollziehen, und tat Profeß in dem Augustinerkloster zu Erfurt.

Wie hätte er aber hier Ruhe finden sollen, in alle der aufstrebenden Kraft jugendlicher Jahre hinter die enge Klosterpforte verwiesen, in eine niedrige Zelle mit der Aussicht auf ein paar Fuß Gartenland, zwischen Kreuzgängen, und zunächst nur zu den niedrigsten Diensten verwandt. Anfangs widmete er sich den Pflichten eines angehenden Klosterbruders mit der Hingebung eines entschlossenen Willens. »Ist je ein Mönch in Himmel gekommen«, sagt er selbst, »durch Möncherei, so wollte auch ich hineingekommen sein.« Aber dem schweren Dienst des Gehorsams zum Trotz ward er bald von peinvoller Unruhe ergriffen. Zuweilen studierte er Tag und Nacht und versäumte darüber seine kanonischen Horen; dann holte er diese wieder mit reuigem Eifer nach: ebenfalls ganze Nächte lang. Zuweilen ging er, nicht ohne sein Mittagsbrot mitzunehmen, auf ein Dorf hinaus, predigte den Hirten und Bauern und erquickte sich dafür an ihrer ländlichen Musik; dann kam er wieder und schloß sich tagelang in seine Zelle ein, ohne jemand sehen zu wollen. Alle früheren Zweifel und inneren Bedrängnisse kehrten von Zeit zu Zeit mit doppelter Stärke zurück.

Wenn er die Schrift studierte, so stieß er auf Sprüche, die ihm ein Grauen erregten, z.B.: Errette mich in deiner Gerechtigkeit, deiner Wahrheit: »ich gedachte,« sagte er, »Gerechtigkeit wäre der grimmige Zorn Gottes, womit er die Sünder straft«; in den Briefen Pauli traten ihm Stellen entgegen, die ihn tagelang verfolgten. Wohl blieben ihm die Lehren von der Gnade nicht unbekannt: allein die Behauptung, daß durch dieselbe die Sünde auf einmal hinweggenommen werde, brachte auf ihn, der sich seiner Sünde nur allzuwohl bewußt blieb, eher einen abstoßenden, persönlich niederbeugenden Eindruck hervor. Sie machte ihn, wie er sagt, das Herz bluten, ihn an Gott verzweifeln. »O meine Sünde, Sünde, Sünde!« schrieb er an Staupitz, der sich dann nicht wenig wunderte, wenn er kam, dem Mönche Beichte saß und dieser keine Tatsachen zu bekennen wußte. Es war die Sehnsucht der Kreatur nach der Reinheit ihres Schöpfers, der sie sich in dem Grunde ihres Daseins verwandt, von der sie sich doch wieder durch eine unermeßliche Kluft entfernt fühlt: ein Gefühl, das Luther durch unablässiges einsames Grübeln nährte und das ihn um so tiefer und schmerzhafter durchdrang, da es durch keine Bußübung beschwichtigt, von keiner Lehre innerlich und wirksam berührt wurde, kein Beichtvater darum wissen wollte. Es kamen Momente – damals oder später –, wo die angstvolle Schwermut sich aus den geheimen Tiefen der Seele gewaltig über ihn erhob, ihre dunkeln Fittiche um sein Haupt schwang, ihn ganz darniederwarf. Als er sich einst wieder ein paar Tage unsichtbar gemacht hatte, erbrachen einige Freunde seine Zelle und fanden ihn ohnmächtig, ohne Besinnung ausgestreckt. Sie kannten ihren Freund: mit schonungsvoller Einsicht schlugen sie das Saitenspiel an, das sie mitgebracht: unter der wohlbekannten Weise stellte die mit sich selber hadernde Seele die Harmonie ihrer inneren Triebe wieder her und erwachte zu gesundem Bewußtsein.

Liegt es aber nicht in den Gesetzen der ewigen Weltordnung, daß ein so wahres Bedürfnis der gottsuchenden Seele dann auch wieder durch die Fülle der Überzeugung befriedigt wird?

Der erste, der Luthern in seinem verzweiflungsvollen Zustande, man kann nicht sagen Trost gab, aber einen Lichtstrahl in seine Nacht fallen ließ, war ein alter Augustinerbruder, der ihn in väterlichem Zuspruch auf die einfachste erste Wahrheit des Christentums hinwies, auf die Vergebung der Sünden durch den Glauben an den Erlöser: auf die Lehre Pauli Römer am dritten, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. Lehren, die er wohl auch früher gehört haben mochte, die er aber in ihrer Verdunkelung durch Schulmeinungen und Zeremomendienst nie recht verstanden, die erst jetzt einen vollen durchgreifenden Eindruck auf ihn machten. Er sann hauptsächlich dem Spruche nach: der Gerechte lebet seines Glaubens; er las die Erklärung Augustins darüber: »da ward ich froh,« sagt er, »denn ich lernte und sah, daß Gottes Gerechtigkeit ist seine Barmherzigkeit, durch welche er uns gerecht achtet und hält: da reimte ich Gerechtigkeit und Gerechtsein zusammen und ward meiner Sache gewiß.« Eben das war die Überzeugung, deren seine Seele bedurfte: er ward inne, daß die ewige Gnade selbst, von welcher der Ursprung des Menschen stammt, die irrende Seele erbarmungsvoll wieder an sich zieht und sie mit der Fülle ihres Lichtes verklärt: daß uns davon in dem historischen Christus Vorbild und unwidersprechliche Gewißheit gegeben worden: er ward allmählich von dem Begriff der finsteren nur durch Werke rauher Buße zu versöhnenden Gerechtigkeit frei. Er war wie ein Mensch, der nach langem Irren endlich den rechten Pfad gefunden hat und bei jedem Schritte sich mehr davon überzeugt: getrost schreitet er weiter.

So stand es mit Luther, als er von seinem Provinzial im Jahre 1508 nach Wittenberg gezogen ward. Die philosophischen Vorlesungen, die er übernehmen mußte, schärften in ihm die Begierde, in die Geheimnisse der Theologie einzudringen, »in den Kern der Nuß«, wie er sagt, »in das Mark des Weizens«. Die Schriften, die er studierte, waren die Episteln Pauli, die Bücher Augustins wider die Pelagianer, endlich die Predigten Taulers: mit viel fremdartiger Literatur belud er sich nicht; es kam ihm nur auf Befestigung, Ausarbeitung der einmal gewonnenen Überzeugung an.

In der merkwürdigsten Stimmung finden wir ihn auf einer Reise, die er ein paar Jahre darauf in Sachen seines Ordens nach Rom machte. Als er der Türme von Rom aus der Ferne ansichtig wurde, fiel er auf die Erde, hob seine Hände auf und sprach: sei mir gegrüßt, du heiliges Rom. Hierauf war keine Übung der Pilgerfrömmigkeit, die er nicht mit Hingebung, langsam und andächtig vollzogen hätte; er ließ sich die Leichtfertigkeiten anderer Priester darin nicht stören; er sagt, er hätte beinahe wünschen mögen, daß seine Eltern schon gestorben wären, um sie hier durch diese bevorrechteten Gottesdienste sicher aus dem Fegefeuer erlösen zu können; – aber dabei empfand er doch auch in jedem Augenblick, wie wenig alle das mit der tröstlichen Lehre übereinstimme, die er in dem Briefe an die Römer und bei Augustin gefunden: indem er die Scala santa auf den Knien zurücklegte, um den hohen Ablaß zu erlangen, der an diese mühevolle Andacht geknüpft war, hörte er eine widersprechende Stimme unaufhörlich in seinem Innern rufen: »Der Gerechte lebet seines Glaubens.«

Nach seiner Rückkunft ward er 1512 Doktor der Heiligen Schrift, und von Jahr zu Jahr erweiterte sich seine Tätigkeit. Er las an der Universität bald über das Neue, bald über das Alte Testament: er predigte bei den Augustinern und versah an der Stelle des erkrankten Pfarrers das Pfarramt in der Stadt; im Jahre 1516 ernannte ihn auch Staupitz während einer Reise zu seinem Verweser im Orden, und wir finden ihn die Klöster in der ganzen Provinz besuchen, wo er Prioren einsetzt oder absetzt, Mönche aufnimmt und verpflanzt, gleichzeitig die ökonomischen Kleinigkeiten beaufsichtigt und zu tieferer Gottesfurcht anzuleiten sucht; überdies hat er sein eigenes, mit Brüdern überfülltes und dabei sehr armes Kloster zu besorgen. Von den Jahren 1515 und 1516 haben wir einige Schriften von ihm übrig, aus denen wir die geistige Entwicklung kennenlernen, in der er begriffen war. Noch hatten Mystik und Scholastik großen Einfluß auf ihn. In den ersten deutschen geistlichen Worten, die wir von ihm haben, einem Predigtentwurf vom November 1515, wendet er die Symbolik des hohen Liedes in harten Ausdrücken auf die Wirkung des Heiligen Geistes, welcher durch das Fleisch in den Geist führe, und auf das innere Verständnis der Heiligen Schrift an. In einem anderen vom Dezember desselben Jahres sucht er aus der aristotelischen Theorie über Wesen, Bewegung und Ruhe das Geheimnis der Dreieinigkeit zu erläutern. Dabei aber nahmen seine Ideen schon eine Dichtung auf die Verbesserung der Kirche im allgemeinen und großen. In einer Rede, welche, wie es scheint, dazu bestimmt war, von dem Propst zu Litzkau auf dem lateranensischen Konzilium vorgetragen zu werden, führt er aus, daß das Verderben der Welt von den Priestern herrühre, von denen zu viel Menschensatzung und Fabel, nicht das reine Wort Gottes vorgetragen werde. Denn nur das Wort des Lebens habe die Fähigkeit, die innere Wiedergeburt des Menschen zu vollziehen. Es ist sehr bemerkenswert, daß Luther schon da das Heil der Welt bei weitem weniger von einer Verbesserung des Lebens erwartet, die nur erst einen zweiten Gesichtspunkt ausmacht, als von einer Wiederherstellung der Lehre. Von keiner anderen Lehre aber zeigt er sich so vollkommen durchdrungen und erfüllt wie von der Rechtfertigung durch den Glauben. Er dringt unaufhörlich darauf, daß man sich selber verleugnen und unter die Fittiche Christi fliehen müsse; er wiederholt bei jeder Gelegenheit den Spruch Augustins, was das Gesetz verlange, das erlange der Glaube. Man sieht: noch war Luther nicht ganz mit sich einig, noch hegte er Meinungen, die einander im Grunde widersprachen; allein in allen seinen Schriften atmet doch zugleich ein gewaltiger Geist, ein noch durch Bescheidenheit und Ehrfurcht zurückgehaltener, aber die Schranken schon überall durchbrechender Jugendmut, ein auf das Wesentliche dringender, die Fesseln des Systems zerreibender, auf neuen Pfaden, die er sich bahnt, vordringender Genius. Im Jahre 1516 finden wir Luther lebhaft beschäftigt, seine Überzeugung von der Rechtfertigung nach allen Seiten zu bewähren und durchzuarbeiten. Es bestärkt ihn nicht wenig, daß er die Unechtheit eines dem Augustin zugeschriebenen Buches entdeckt, auf welches die Scholastiker viele der ihm widerwärtigsten Lehren gegründet hatten, welches in die Sentenzen des Lombardus fast ganz aufgenommen worden war, de vera et falsa poenitentia; dann faßt er sich das Herz, die Lehre der Skotisten von der Liebe, des Magister sententiarum von der Hoffnung zu bestreiten; – schon ist er überzeugt, daß es keine an und für sich Gott wohlgefällige Werke gebe, wie Beten, Fasten, Nachtwachen: denn da es dabei doch darauf ankomme, ob sie in der Furcht Gottes geschehen, so sei jede andere Beschäftigung im Grunde ebensogut.

Im Gegensatz mit einigen Äußerungen deutscher Theologen, welche ihm pelagianisch erscheinen, ergreift er mit entschlossener Festigkeit auch die härteren Bestimmungen des augustinianischen Begriffs: einer seiner Schüler verteidigt die Lehre von der Unfreiheit des Willens, von der Unfähigkeit des Menschen, sich durch seine eigenen Kräfte zur Gnade vorzubereiten, geschweige sie zu erwerben, in feierlicher Disputation. Und fragen wir nun, worin er die Vermittlung zwischen göttlicher Vollkommenheit und menschlicher Sündlichkeit sieht, so ist es allein das Geheimnis der Erlösung, das geoffenbarte Wort, Erbarmen auf der einen, Glauben auf der anderen Seite. Schon werden ihm von diesem Punkte aus mehrere Hauptlehren der Kirche zweifelhaft. Den Ablaß leugnet er noch nicht, aber schon 1516 ist es ihm bedenklich, daß der Mensch dadurch die Gnade empfangen solle: der Seele werde dadurch die Begierde nicht genommen, die Liebe nicht eingeflößt, wozu vielmehr die Erleuchtung des Geistes, die Befeuerung des Willens, unmittelbare Einwirkung des Ewigen gehöre: denn nur in der tiefsten Innerlichkeit weiß er die Religion zu begreifen. Es wird ihm schon zweifelhaft, ob man den Heiligen die mancherlei äußerlichen Hilfsleistungen zuschreiben dürfe, um derentwillen man sie anruft.

Mit diesen Lehren, dieser großen Richtung nun, die sich unmittelbar an die Überzeugungen anschloß, welche von Pollich und Staupitz gepflanzt worden waren, erfüllte Luther wie die Augustinerbrüder in seinem Kloster, seiner Provinz, so vor allem die Mitglieder der Universität. Eine Zeitlang hielt Jodocus Trutvetter von Eisenach die üblichen Vorstellungen aufrecht; aber nach dessen Abgang im Jahre 1513 war Luther der Geist, der die Schule beherrschte. Seine nächsten Kollegen, Peter Lupinus und Andreas Carlstadt, die ihm noch eine Weile Widerstand geleistet, bekannten sich endlich durch die Aussprüche Augustins und die Lehren der Schrift, die auf ihn selbst einen so großen Eindruck gemacht, bezwungen und überzeugt: sie wurden beinahe eifriger als Luther selbst. Welch eine ganz andere Richtung empfing hierdurch diese Universität, als in der sich die übrigen zu bewegen fortfuhren. Die Theologie selbst, und zwar lediglich infolge einer inneren Entwicklung, schloß sich an die Forderungen an, welche von der allgemeinen Literatur aus gemacht worden. Hier setzte man sich den Theologen von dem alten und von dem neuen Wege, den Nominalisten und den Realisten, hauptsächlich aber der herrschenden thomistisch-dominikanischen Lehre entgegen und wandte sich an die Schrift und die Kirchenväter, eben wie Erasmus forderte, obwohl von einem bei weitem positiveren Prinzip aus: für Vorlesungen im alten Sinne fanden sich in kurzem keine Zuhörer mehr...

Hutten.

Man kann wohl sagen: die Geister, die in Deutschland an der Bewegung in der gelehrten poetisch-philologischen Literatur teilgenommen, zerfielen in zwei große Scharen. Die eine suchte in ruhigem und mühevollem Studium, lernbegierig und lehrhaft, neue Elemente der Bildung zu gewinnen und auszubreiten. Ihr ganzes Streben, das ja von Anfang an eine Richtung auf die Heilige Schrift genommen, war in Melanchthon repräsentiert und hatte in ihm die engste Verbindung mit den tieferen theologischen Tendenzen geschlossen, die in Luther erschienen und auf der Universität Wittenberg zur Herrschaft gekommen waren. Wir sahen soeben, was dieser Bund bedeuten wollte. Die stillen Studien empfingen dadurch Inhalt, Tiefe und Schwung: die Theologie wissenschaftliche Form und gelehrte Begründung. In der Literatur gab es nun aber auch noch eine andere Seite. Neben den ruhigen Gelehrten tummelten sich jene fehdelustigen Poeten: schon mit dem Gewonnenen zufrieden, trotzig in ihrem Selbstgefühl, empört über den Widerstand, den man ihnen entgegengesetzt, erfüllten sie die Welt mit dem Lärm ihres Krieges. Diese hatten sich im Anfange der lutherischen Streitigkeit, die sie als einen inneren Handel der Mönchsorden betrachteten, neutral verhalten. Jetzt aber, da dieselbe eine so großartige, weitaussehende Natur entwickelte und allen ihren Sympathien entsprach, nahmen auch sie Partei. Luther erschien ihnen als ein Nachfolger Reuchlins, Johann Eck wie Ortwin Gratius, ein gedungener Anhänger der Dominikaner, und ebenso griffen sie ihn an. Im März 1520 kam eine Satire heraus unter dem Titel: »Der abgehobelte Eck«, welche an phantastischer Konzeption, schlagender und vernichtender Wahrheit, aristophanischem Witz die Briefe der dunkeln Männer, an die sie jedoch erinnert, bei weitem übertrifft. Ja, in diesem Augenblick trat ein Vordermann dieser Schar, nicht anonym wie andere, sondern mit niedergelassenem Visier, auf den Kampfplatz. Es war Ulrich von Hutten: längst kannte man seine Waffen und wie er sie führte.

Auch für Hutten wie für Erasmus, war es der sein ganzes Leben bestimmende Moment, daß man ihn sehr früh dem Kloster übergab; aber noch viel unerträglicher war ihm dieser Zwang: er war der Erstgeborene aus einem der namhaftesten Rittergeschlechter auf der Buchen, das noch auf Reichsfreiheit Anspruch machte; als man ernstlicher davon sprach, ihn einzukleiden, ging er davon: und suchte sein Glück wie jener in den Bahnen der aufkommenden Literatur. Was hat er da nicht alles bestehen müssen: Pest und Schiffbruch: Verjagung eines Lehrers, dem er dann folgt: Beraubung durch die, welche ihn eben unterstützt: eine abscheuliche Krankheit, die er sich im zwanzigsten Jahre zugezogen: die Mißachtung, in welche Mangel und ein schlechter Aufzug, besonders in der Fremde, zu bringen pflegen: seine Familie tat nicht, als ob er ihr angehöre: sein Vater betrachtete ihn mit einer gewissen Ironie. Aber immer behielt er den Mut oben, den Geist unbenommen und frei: allen seinen Feinden bot er Trotz: sich zu wehren, literarisch zu schlagen, ward ihm Natur. Zuweilen waren es mehr persönliche Angelegenheiten, die er auf dem Felde der Literatur ausfocht: z.B. die Mißhandlung, die er von seinen Greifswalder Gastfreunden erfuhr: er rief alle seine Genossen von den Poetenschulen zur Teilnahme an dieser Unbill auf, die gleichsam allen begegnet sei; – oder er hatte die Forderung zu widerlegen, die schon ihm, schon damals entgegentrat, daß man etwas sein, ein Amt bekleiden, einen Titel haben müsse; – oder jene unverantwortliche Gewalttat des Herzogs von Württemberg an einem seiner Vettern regte ihn zu stürmischer Anklage auf. Allein noch lebendiger inspirierte ihn seine kriegerische Muse in den allgemeinen, vaterländischen Dingen. Das Studium der römischen Literatur, in der die Deutschen eine so glorreiche Rolle spielen, hat nicht selten die Wirkung gehabt, unseren Patriotismus zu erwecken. Die schlechten Erfolge des Kaisers in dem venezianischen Kriege hielten Hutten nicht ab, ihn doch zu preisen: die Venezianer behandelt er ihm gegenüber nur als emporgekommene Fischer; den Treulosigkeiten des Papstes, dem Übermut der Franzosen setzt er die Taten der Landsknechte, den Ruhm des Jacob von Ems entgegen: in langen Gedichten führt er aus, daß die Deutschen noch nicht ausgeartet, daß sie noch immer die alten seien. Als er aus Italien zurückkam, war eben der Kampf der Reuchlinisten gegen die Dominikaner ausgebrochen: er stellt sich seinen natürlichen Freunden mit allen Waffen des Zornes und des Schmerzes zur Seite; den Triumph des Meisters feiert er mit seinen besten Hexametern, die einen sinnreichen Holzschnitt begleiten. Hutten ist kein großer Gelehrter; seine Gedanken greifen nicht sehr in die Tiefe: sein Talent liegt mehr in der Unerschöpflichkeit seiner Ader, die sich immer mit gleichem Feuer, gleicher Frische, in den mannigfaltigsten Formen ergießt, lateinisch und deutsch, in Prosa und in Versen, in rednerischer Invektive und in glücklich dialogisierter Satire. Dabei ist er nicht ohne den Geist eigener feiner Beobachtung; hier und da, z. B. im Nemo, erhebt er sich in die heiteren Regionen echter Poesie; seine Feindseligkeiten sind nicht von verstimmend-gehässiger Art, sie sind immer mit ebenso warmer Hingebung nach einer anderen Seite verbunden; er macht den Eindruck der Wahrhaftigkeit, der rücksichtslosen Offenheit und Ehrlichkeit; vor allem, er hat immer große, einfache, die allgemeine Teilnahme fortreißende Bestrebungen, eine ernste Gesinnung, er liebt, wie er sich einmal ausdrückt, »die göttliche Wahrheit, die gemeine Freiheit«. Der Sieg der Reuchlinisten war auch ihm zugute gekommen: er fand Aufnahme an dem Hofe des Kurfürsten Albrecht von Mainz; mit dem mächtigen Sickingen trat er in vertrauliches Verhältnis; auch von seiner Krankheit ward er geheilt, und er konnte wohl daran denken, sich zu verheiraten, sein väterliches Erbe anzutreten: ein häuslich ruhiges Leben mutete auch ihn an: durch den Glanz einer schon erworbenen Reputation wäre es doch auf immer gehoben gewesen. Da berührte ihn der Hauch des Geistes, welchen Luther in der Nation erweckt hatte: eine Aussicht tat sich auf, gegen die alle bisherigen Erfolge nur wie ein Kinderspiel erschienen: seine ganze Überzeugung, alle Triebe seines Geistes und seiner Tatkraft waren davon ergriffen. Einen Augenblick ging Hutten mit sich zu Rate. Der Feind, den man angriff, war der mächtigste, den es gab, der noch nie unterlegen, der seine Gewalt mit tausend Armen handhabte; wer es mit ihm aufnahm, mußte wissen, daß er sein Lebtag niemals wieder Ruhe finden würde; Hutten verbarg es sich nicht: man sprach darüber in der Familie, die auch ihre Güter durch dies Unternehmen bedroht glaubte, »meine fromme Mutter weinte«, sagt er; – aber er riß sich los, verzichtete auf sein väterliches Erbe und griff noch einmal zu den Waffen.

Im Anfang des Jahres 1520 verfaßte er einige Dialoge, die ihm niemals wieder verziehen werden konnten. In dem einen, die Anschauenden, wird der päpstliche Legat nicht mehr wie früher nur an einigen Äußerlichkeiten geneckt, sondern mit allen seinen geistlichen Fakultäten, Anathem und Exkommunikation, die er gegen die Sonne anwenden will, auf das bitterste verhöhnt. In einem anderen, Vadiscus oder die römische Dreifaltigkeit, werden alle Mißbräuche und Anmaßungen der Kurie in schlagende Ternionen zusammengefaßt: der Meinung der Wittenberger, daß das Papsttum nicht mit der Schrift bestehen könne, kam Hutten hier mit einer Schilderung des römischen Hofes, wie er in der Wirklichkeit sei, zu Hilfe, welche denselben als den Abgrund des sittlichen und religiösen Verderbens darstellte, von dem man sich um Gottes und des Vaterlandes willen losreißen müsse. Denn seine Ideen waren vor allem national. Durch eine ihm in die Hände geratene alte Apologie Heinrichs IV., die er im März 1520 herausgab, suchte er die Erinnerung an die großen Kämpfe gegen Gregor VII., die verloschene Sympathie der Nation mit dem Kaisertum, des Kaisertums mit der Nation wieder zu erwecken. Er sandte sie an den jungen Erzherzog Ferdinand, der eben aus Spanien in den Niederlanden angekommen, mit einer Zueignung, in welcher er ihn auffordert, seine Hand zu bieten zur Herstellung der alten Unabhängigkeit von Deutschland, welches den kriegsgewaltigen alten Römern widerstanden habe und jetzt den weibischen neuen Römern Tribut bezahle. Sollte man nicht auf die beiden Brüder von Österreich hoffen dürfen, deren Erhebung sich der päpstliche Hof ebenso ernstlich widersetzt hatte? Ihre meisten Freunde waren wirklich in diesem Augenblick Gegner des Papsttums. Wir berührten schon die Stimmung des mainzischen Hofes. Alles, was sich in der Schweiz zu den ersten Schriften Luthers bekannte, hielt sich zugleich an den Kardinal von Sitten, der die Sache von Österreich nicht ohne die Hilfe dieser Leute auf der Tagsatzung so glücklich geführt hatte. Sickingen, der zur Entscheidung in Württemberg so viel beigetragen, nahm zugleich für Reuchlin Partei und wußte die Kölnischen Dominikaner zu zwingen, obwohl der Prozeß in Rom noch schwebte, vorläufig der Sentenz des Bischofs von Speier nachzukommen und die Kosten zu bezahlen, zu denen sie da verurteilt worden. Wer hatte mehr für Karl V. getan als Friedrich von Sachsen? Der war es, welcher durch den Schutz, den er Luther und seiner Universität angedeihen ließ, die ganze Bewegung möglich machte. Vor allen Dingen wollte er nicht, daß Luther in Rom gerichtet würde. Auf dem Wahltag hatte der Erzbischof von Trier wirklich das Schiedsrichteramt übernommen: Kurfürst Friedrich erklärte nun, es dürfe nichts gegen Luther geschehen, bis dieser gesprochen: bei dem Urteil, das derselbe fälle, solle es dann sein Verbleiben haben. Es ist ein innerer Zusammenhang in diesen Tendenzen. Man wollte die Einwirkungen von Rom nicht mehr. Allenthalben predigte Hutten, Deutschland müsse Rom verlassen und zu seinen Bischöfen und Primaten zurückkehren. »Zu deinen Gezelten Israel«, rief er aus, und wir vernehmen, daß er bei Fürsten und Städten vielen Anklang fand. Er hielt sich gleichsam für bestimmt, diese Sache durchzusetzen, und eilte an den Hof des Erzherzogs, um ihn womöglich persönlich zu gewinnen, mit sich fortzureißen. Schon erfüllte ihn eine kühne Siegeszuversicht. In einer Schrift, die er unterwegs verfaßte, weissagt er, die Tyrannei von Rom werde nicht mehr lange dauern, schon sei die Axt an die Wurzel des Baumes gelegt. Er fordert die Deutschen auf, nur Vertrauen zu ihren tapferen Anführern zu haben, nicht etwa in der Mitte des Streites zu ermatten: denn hindurch müsse man, hindurch, bei dieser günstigen Lage der Umstände, dieser guten Sache, diesen herrlichen Kräften. »Es lebe die Freiheit, Jacta est alea.« Das war sein Wahlspruch: der Würfel ist gefallen, ich hab's gewagt. –

Während Luther den Bruch mit Rom vollzog und sein Bekenntnis sich in Deutschland ausbreitete, setzte in der Schweiz die analoge Bewegung Zwinglis ein. Beide Richtungen unterschieden sich vornehmlich in der Abendmahlslehre, was zu heftigen Streitschriften führte. Landgraf Philipp von Hessen suchte durch eine Zusammenkunft Luthers und Zwinglis in Marburg im Oktober 1529 eine Einigung herbeizuführen, um eine gemeinschaftliche Verteidigung gegen Kaiser Karl V., der sich in dieser Zeit mit dem Papst zur Bekämpfung der neuen Lehre verbündete, zu ermöglichen.

Luther und Zwingli in Marburg

Die trefflichen Geister, die auf beiden Seiten mit so großer Kraft die Bewegung geleitet, zwischen denen aber Mißverständnisse ausgebrochen waren, kamen zusammen, um in persönlichem Zwiegespräch eine Ausgleichung zu versuchen, dem Hader, der dem Fortgang der gemeinschaftlichen Sache nicht anders als überaus hinderlich sein konnte, ein Ende zu machen.

So faßte Euricius Cordus diese Sache, wenn er sie alle anredet, die Fürsten des Wortes, »den scharfsinnigen Luther, den sanften Oecolampad, den großherzigen Zwingli, den braven Melanchthon« und die übrigen, welche angekommen – Schnepf, Brenz, Hedio, Osiander, Jonas, Crato, Menius, Myconius, deren jeden er mit einem entsprechenden Worte des Lobes schmückt, – und sie dann ermahnt, das neue Schisma zu heben. »Die Kirche fällt euch weinend zu Füßen, fleht euch an und beschwört euch bei den Eingeweiden Christi, die Sache mit reinem Ernst, zum Heile der Gläubigen zu unternehmen, einen Beschluß zustande zu bringen, von dem die Welt sagen könne, er sei vom Heiligen Geiste ausgegangen.« Es war eine Kirchenversammlung derer, die vom Katholizismus abgewichen. Wäre es einmal damit gelungen, so würde das Mittel gefunden gewesen sein, auch fortan in der neuen Partei die kirchliche Einheit zu erhalten. Zuerst wurden einige vorläufige Zweifel beseitigt. Man hatte Zwinglin Irrtümer über die Gottheit Christi beigemessen: er sprach sich ganz in dem Sinne des Nizäischen Glaubensbekenntnisses aus. Auch über den Begriff der Erbsünde, auf welchem die gesamte Heilsordnung beruht, die Wirksamkeit des äußerlichen Wortes, die Taufe, welche nicht ein bloßes Zeichen sei, erklärte er sich mit den Wittenbergern einverstanden. Es ist wohl unleugbar, daß Zwingli früher in allen diesen Punkten, indem er zu einem unvermittelten Verständnis der Schrift zu gelangen suchte, sich von den angenommenen kirchlichen Begriffen ziemlich weit entfernt hatte. Er kehrte hierin, wie Luther, auf die Grundlagen der lateinischen Kirche zurück. Nur in dem einen Punkte, auf den es vor allem ankam, welcher die allgemeine Aufmerksamkeit beschäftigte, in der Frage über die Eucharistie, wich er keinen Schritt breit: da hoffte er vielmehr, den Sieg davonzutragen. Mit großer Lebhaftigkeit brachte er seine Argumente vor: die figürliche Bedeutung des Ist in anderen Stellen; die Erläuterung, die Christus im sechsten Kapitel Johannis selbst gebe, – von welcher er sich wohl vernehmen ließ, sie breche Luthern den Hals ab, was dieser fast mißverstanden hätte; – die Übereinstimmung mehrerer Kirchenväter; endlich die Unmöglichkeit, daß ein Leib anders als an einem Ort sei. Allein Luther hatte vor sich auf die Tafel die Worte geschrieben: »das ist mein Leib«; er blieb dabei, daß das Gottes Worte seien, an denen man nicht deuteln müsse, vor denen der Satan nicht vorüber könne; er ließ sich auf die tiefer greifenden Erklärungen, mit denen er das Argument von der Lokalität, ohne die ein Körper nicht zu denken sei, wohl sonst bestritten hatte, diesmal nicht ein; das »Bedeutet« wollte er schlechthin nicht dulden, denn das nehme den Leib hinweg. Der Unterschied ist: auch Zwinglin ist die Gegenwart Christi an das Brot geknüpft; Luthern dagegen ist das Brot selbst die Gegenwart, und zwar der gegenwärtige Leib: das Sichtbare enthält das Unsichtbare, wie die Scheide das Schwert. Wohl verstand auch er das Genießen spirituell, er wollte sich aber das Mysterium, das in dem Zeichen liegt, nicht entreißen lassen. Er meinte, die Gegner möchten wohl noch nicht in den Fall gekommen sein, ihre Erklärung in geistigen Anfechtungen zu erproben. Er dagegen war sich bewußt, damit gegen Satan und Hölle gekämpft, und den Trost daraus geschöpft zu haben, dessen die Seele in ihren verzweiflungsvollsten Stürmen bedarf.

Für die Fortentwicklung der religiösen Ideen wäre es, dünkt mich, nicht einmal zu wünschen gewesen, wenn Zwingli seine Auffassung, die durch die Zurückführung des Mysteriums auf die ursprünglichen, historisch überlieferten Momente der Einsetzung eine so unermeßliche Bedeutung für die ganze Auffassung des Christentums außerhalb der konstituierten Kirchlichkeit in sich schloß, aufgegeben hätte. In den übrigen Punkten, wo er nachgab, war er noch nicht so sicher, so fest geworden: diesen aber hatte er nach allen Seiten durchdacht, hier war er seines Gegenstandes Meister, er enthielt sein Prinzip: den ließ er sich nicht entreißen.

Ebensowenig wäre es aber auch von Luther zu erwarten oder gar zu fordern gewesen, daß er der anderen Erklärung beigetreten wäre. Sein Standpunkt ist überhaupt, daß er ein Inwohnen des göttlichen Elementes in der christlichen Kirche festhält, wie die Katholischen. Er sieht es nur nicht in den mancherlei Zufälligkeiten, welche phantastische und sophistisierende Jahrhunderte überliefert hatten. Da diese ihm die Gewißheit nicht gewähren, deren er bedarf, so geht er auf die ursprünglichen Quellen zurück, auf welche auch sie sich beziehen; und nur das nimmt er an, was er da findet. Von den sieben Sakramenten hält er nur die zwei fest, von denen das Neue Testament unleugbare Meldung tut. Aber diese will er sich nun auch um keinen Preis entwinden oder in ihrer geheimnisvollen Bedeutung schmälern lassen. Es sind, wie gesagt, zwei von verschiedenen Gesichtspunkten, aber mit gleicher Notwendigkeit entstandene Auffassungen.

Gewinn genug, wenn man nun aufhörte, sich gegenseitig zu verketzern. Luther hatte gefunden, daß die Gegner es nicht so böse meinten, wie er geglaubt. Auch die Schweizer gaben jene grobe Vorstellung auf, die sie von der lutherischen Auffassung bisher gehegt hatten. Luther meint, die Heftigkeit der Streitschriften werde sich nun legen.

Zunächst wurden alle die wichtigsten Glaubensartikel, in denen man übereinstimmte, verzeichnet und von den Theologen beider Parteien unterschrieben; die Abweichungen von dem römischen Bekenntnis sowohl wie von den wiedertäuferischen Sekten sind darin sorgfältig bemerkt; es war doch auch dies eine erwünschte Grundlage gemeinschaftlicher Fortentwicklung, und das Marburger Gespräch ist durch die Feststellung derselben auf immer wichtig. Der fünfzehnte und letzte dieser Artikel betrifft das Abendmahl. Man ist über die Art und Weise der Feier und den Zweck derselben selbst darin einstimmig, daß hier der wahre Leib und das wahre Blut Christi geistlich genossen werde; nur über die eine Frage kann man sich nicht vereinigen, ob dieser wahre Leib nun auch leiblich im Brote sei. Da trennt sich eine freiere Auffassung der Schrift von dem in der Kirchengemeinschaft geltend gewordenen Begriff des Mysteriums. Doch will ein Teil gegen den anderen christliche Liebe ausüben.

Nur so weit gab Luther nicht nach, daß er auch brüderliche Liebe gewährt, d. h. daß er anerkannt hätte, man bilde nun eine einzige Gemeinschaft. Dazu war ihm der Gegensatz bei weitem zu tiefgreifend, das Mysterium, der Mittelpunkt des Glaubens und Dienstes, viel zu wesentlich.

Für die Zukunft demnach, für das Bewußtsein, daß man der Abweichung zum Trotz im Grunde doch dem nämlichen Bekenntnisse angehöre, war durch das Gespräch nicht wenig gewonnen; der politische Zweck dagegen, den Landgraf Philipp im Auge gehabt, wie er von dem Moment geboten wurde, war verfehlt.

Vielmehr erfolgte eben das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt hatte ...

Man mag das tadeln, wenn man will, wie es so oft getadelt worden ist. Politisch-klug war es nicht.

Allein nie trat wohl die reine Gewissenhaftigkeit rücksichtsloser, großartiger hervor.

Man sieht den Feind gerüstet herannahen, man vernimmt sein Drohen, man täuscht sich nicht über seine Absichten, man ist überzeugt, daß er das äußerste versuchen werde.

Auch hätte man Gelegenheit, einen Bund gegen ihn zu errichten, der Europa erschüttern, an dessen Spitze man dem zur Weltherrschaft Aufstrebenden mächtig gegenübertreten, das Glück herausfordern könnte; allein man will das nicht, man verschmäht es, und zwar nicht etwa aus Furcht, aus Zweifel an der eigenen Tüchtigkeit – das sind Rücksichten, welche diese Seelen nicht kennen –, sondern ganz allein aus Religion.

Einmal, man will die Verteidigung des Glaubens nicht mit anderen fremdartigen Interessen vermischen; man will sich nicht zu Dingen, die man nicht übersehen kann, fortreißen lassen.

Ferner aber, man will nur den Glauben, den man selber glaubt, verteidigen: man würde zu sündigen fürchten, wenn man sich mit denen verbände, welche, wenn auch nur in Einem, aber in einem wesentlichen Punkte abweichen.

Endlich, man zweifelt an dem Rechte, dem Oberherrn zu widerstehen, die altherkömmlichen Ordnungen des Reiches zu verletzen.

So nimmt man mitten in den widereinander laufenden, getümmelvollen Interessen der Welt eine Haltung ein, die nur mit Gott und dem Gewissen beraten wird. So erwartet man die Gefahr. »Denn Gott ist treu,« sagt Luther, »und wird uns nicht lassen.« Er führt den Spruch des Jesaias an: »Wenn ihr still bliebet, so würde euch geholfen.«

Gewiß, klug ist das nicht, aber es ist groß.

Augsburger Religionsfrieden 1555.

Ehe die Franzosen Norddeutschland überzogen, erzählte sich das Volk in unseren Gegenden von nichts so gern und so viel, wie von den Taten und Vorfällen des Siebenjährigen Krieges. Ältere und kundigere Leute erinnerten dann bei den Schwedenhügeln, daß demselben einmal ein dreißigjähriger vorausgegangen. Unter denen, welche das Altertum und die Sage liebten, ging das Gespräch, lange Zeit zuvor habe es sogar einen hundertjährigen Krieg in Deutschland gegeben, in welchem die benachbarten Burgen, deren Ruinen wir besuchten, gebaut und wieder zerstört worden seien.

Ich möchte dafür halten, daß in dieser dunkeln Erinnerung unserer Landleute eine Spur von den Zeiten des alten Faustrechts und der Fehde erhalten war. Wenigstens hätte sie nicht übertrieben. In der Tat brauchte es mehr als ein Jahrhundert, um Deutschland nach dem Verfalle der Macht des Kaisertums endlich wieder in Ruhe zu setzen.

Der Landfriede, so oft geboten, war ebenso oft gebrochen worden: und kaum schien es, als wolle ein friedlicheres Geschlecht das Erbteil so vieler kriegerischen in Besitz nehmen, so ergriff die Bewegung der Reformation die Geister. Welch eine Unruhe, alle die Jahre Karls V. daher! Vom Rhein bis nach Thüringen standen einmal die Bauern in Empörung; darauf schlug die Hanse ihre letzten großen Schlachten mit den nordischen Reichen. Die Fürsten bedrohten sich erst eine Zeitlang in Bünden und Gegenbünden; dann führten die Protestanten mit bewaffneter Hand den Herzog von Württemberg in sein Gebiet zurück und verjagten den Herzog von Braunschweig; endlich stand das gesamte Deutschland in der Blüte seiner Kraft, bei Ingolstadt und Mühlberg, sich selber gegenüber. So mächtig und geschickt Kaiser Karl, so entschieden sein Sieg auch war, so gelang es ihm doch nicht, Frieden zu machen. Wider ihn selber erhoben sich noch einmal diese unermüdlichen Waffen; kaum der Gefangenschaft entronnen, unmutig, mit ermüdeten Sinnen, wandte er Deutschland den Rücken.

Weder an Talent noch an Macht war ihm sein Bruder Ferdinand zu vergleichen. Wie merkwürdig, daß mit dem Religionsfrieden, den Ferdinand, und zwar nicht einmal in eigener Gewalt, sondern nur von dem Kaiser ermächtigt, abschließt, die Waffen plötzlich ruhen und ein langer Friede eintritt.

Diese Veränderung vor allem fiel den fremden Geschäftsträgern auf, wenn sie damals Deutschland beobachteten. »In Kaiser Karls letzten Zeiten«, sagt ein päpstlicher Nuntius, der dem Kardinal Caraffa über die deutschen Dinge Bericht erstattete, »war kein Fürst und keine Stadt, es war kein Staat in Deutschland, der nicht entweder um kirchlicher oder weltlicher Interessen willen mit seinen Nachbarn in Streit gewesen wäre. Unter anderen war zwischen Markgraf Albrecht und dem Hause Braunschweig, zwischen Kurfürst Ottheinrich von der Pfalz und dem Kardinal Otto von Augsburg offene Feindschaft; auch alle übrigen waren einer voll Mißtrauen gegen den anderen und hielten sich in den Waffen; Religion, usurpierte Güter, Jurisdiktion und andere Beschwerden entzweiten sie.« Die Zusammenkunft der Häuser Sachsen, Brandenburg und Hessen zur Erneuerung ihrer Erbverbrüderung in Naumburg, sah der Nuntius als eine Art von Gegenreichstag an. – Wie ganz anders aber erschien ihm Deutschland, als er es wenige Jahre nach dem Religionsfrieden wieder besuchte. Er mißbilligt den Frieden, er nennt ihn gottvergessen: aber er findet doch, daß er sehr wirksam sei, daß es seit dem Abschluß desselben weder eine kleine noch eine große Bewegung der Waffen in Deutschland gegeben habe; nie, seit langer Zeit, habe eine solche Einigkeit unter den deutschen Fürsten geherrscht ...

War denn dieser Friede eine so glückliche Auskunft? Vertrug er so genügend die widerstreitenden Ansprüche? War er so sorgfältig abgewogen, so einmütig angenommen?

Ich will nicht auf alle seine Bestimmungen eingehen: größtenteils waren sie nicht neu; allein in Hinsicht der wichtigsten Punkte kann ich nicht finden, daß sie mit besonderem Glücke erledigt worden wären.

Ohne Zweifel kam es am meisten auf die Anordnungen in betreff der geistlichen Fürstentümer an, auf denen die Gesamtverfassung des Reiches um so mehr beruhte, als sich damals die Entscheidung der wichtigsten Angelegenheiten in den Fürstenrat gezogen hatte, in welchem die Anzahl der geistlichen Mitglieder die Majorität zu bestimmen pflegte.

Die Frage war, ob auch die geistlichen Fürsten das Recht haben sollten, zur augsburgischen Konfession zu treten. Nicht als ob sie darum ihre Stifter hätten sollen säkularisieren dürfen. Die Protestanten haben ausdrücklich erklärt, dies sei so wenig ihr Wunsch als ihr Interesse. Sie wollten die Nichterblichkeit der geistlichen Reichsfürstentümer auch ferner beibehalten wissen, doch wollten auch sie zu denselben zu gelangen das Recht haben.

Es kam, wie es wohl auch nicht anders sein konnte, hierüber zu den lebhaftesten Streitigkeiten, und es war zuweilen nahe genug an einer Auflösung der Versammlung. Es ist immer merkwürdig, daß die geistlichen Kurfürsten wenigstens anfangs und stillschweigend für die protestantische Forderung waren, daß sich selber unter den geistlichen Fürsten Neigungen dafür fanden, die, wenn sie sich nicht geradezu dafür erklärten, nur durch Einschüchterungen davon abgehalten worden sind. Leider ist unsere deutsche Geschichte über Wirkung und Gegenwirkung der Persönlichkeiten, woran bei beratenden Versammlungen so viel liegt, nur allzu häufig stumm, und wir können nicht sagen, wodurch die entgegengesetzte Richtung endlich die Oberhand behielt; allein sie war ganz entschieden, selbst Ferdinand ward davon hingerissen; und wenn die Protestanten weder nachgeben (was sie um ihres Gewissens willen nicht tun zu können erklärten), noch auch den Frieden rückgängig werden lassen wollten, so mußten sie einen Mittelweg ergreifen. Sie gestatteten dem König eine Verordnung hierüber, doch mit der ausdrücklichen Verwahrung, daß sie für sich in einen solchen Artikel nicht gewilligt. Und so setzte Ferdinand fest, daß ein geistlicher Reichsstand sein Amt und Einkommen verlieren solle, sobald er den alten Glauben verlasse. Dies ist der geistliche Vorbehalt.

Auf der Stelle aber erhob sich eine andere Frage. Wie sollte es nun in den Ländern dieser geistlichen Fürsten gehalten werden? Sollten sie ihre landesherrliche Gewalt auch wider ihre Untertanen augsburgischen Bekenntnisses anwenden dürfen? So wie die Verfassung des Reiches in seiner Gesamtheit an der ersten, so hing die Verfassung eines großen Teiles der einzelnen Landschaften an der zweiten Bestimmung. Hartnäckig hatten die Protestanten dem Vorbehalt widerstanden; nicht minder hartnäckig widersetzten sich die geistlichen Fürsten jeder Beschränkung ihrer Gewalt. Hier aber war Ferdinand für die Protestanten. Er bildete aus dem zahlreichen Ausschuß, von dem keine Versöhnung zu erwarten war, einen kleineren; er stellte auf das dringendste vor, man bedürfe nicht eines halben Friedens, sondern eines ganzen; dreimal erschien er in der Versammlung und erklärte ihr, er werde sie nicht von der Stelle lassen, bis sie sich vereinigt habe; endlich überwog sein persönliches Ansehen; nachdem die Katholischen bis zur ungewohnten Abendstunde ausgehalten, erklärten sie sich zuletzt, »um den Verdacht der Unfriedfertigkeit abzulehnen und den König zu beruhigen«, wie derselbe wünschte: auf das Recht, die protestantischen Untertanen zum katholischen Glauben zu nötigen, leisteten sie, jedoch ganz in der Form Verzicht, wie die Protestanten über den anderen Punkt nachgegeben hatten. Sie gestatteten, daß der König den Ständen des Augsburger Bekenntnisses hierüber eine beruhigende Deklaration gebe.

Sonderbarer Friede! Dies sind die beiden wichtigsten Punkte. Vorbehalt und Deklaration ergänzen sich wechselsweise. Jener sichert der katholischen Kirche die geistlichen Fürstentümer; diese gewährleistet den Untertanen dort, wo sie am meisten zu fürchten haben, die Ausübung der veränderten Religion. Die ganze Zukunft von Deutschland liegt darin. Lange und weitläufig verhandelt man über diese Bestimmungen; endlich fügen sich die Parteien, allein sie wissen ein Mittel, dieselben doch nicht vollkommen anzunehmen. Zwar wird der Vorbehalt in den Reichsabschied eingerückt, jedoch mit der ausdrücklichen Bemerkung, es sei unmöglich gewesen, die Stände von beiderlei Glauben darüber zu vereinigen; kraft einer ihm vom Kaiser gegebenen Heimstellung und Vollmacht setze ihn der König fest. Zwar erhalten die Protestanten die Versicherung, nie solle ein geistlicher Stand befugt sein, seine Untertanen von ihrer hergebrachten Religion Augsburger Bekenntnisses zu verdrängen, aber fast wörtlich wiederholt Ferdinand, die Stände von beiderlei Glauben seien darüber nicht zu vergleichen gewesen, kraft der ihm vom Kaiser gegebenen Vollmacht und Heimstellung setze er dies fest.

War aber eine kaiserliche Erklärung auch vollkommen verbindlich? Die damalige hatte einen eigenen Charakter. Eine Bestimmung, über die so viel und mühselig gestritten und beratschlagt worden, kann man nicht einen Akt kaiserlicher Machtvollkommenheit nennen. Man gab zu, daß ein solcher Akt der Form nach an die Stelle des Einverständnisses träte, welches nicht zu erreichen war; es war eine Übereinkunft, aber verbunden mit einer Protestation von beiden Seiten.

Was soll man nun von diesem Frieden sagen? Es ist wahr, er bestätigte die sichernden Bedingungen des Vertrages von Passau. Allein über die wichtigsten Streitigkeiten eine genügende Ausgleichung – eine zufriedenstellende Bestimmung für die Zukunft gefunden zu haben, war man weit entfernt. Man schloß ihn, nicht weil man eine solche gefunden, sondern trotzdem, daß man sie nicht gefunden hatte ...

Das Reich beim Religionsfrieden.

Wenn man im fünfzehnten Jahrhundert wirklich der Meinung gewesen ist, wie man denn viel davon gesprochen hat, daß sich das Ansehen und die Macht des alten Kaisertums in Europa wieder herstellen lasse, so war es dahin nun freilich nicht gekommen.

Vielmehr hatte die Verbindung des Reiches mit einem über zwei Welten hin mächtigen Kaiser, wie Karl V., nur neue Verluste nach sich gezogen.

Die Siege, welche die Deutschen mit den Spaniern in Verbindung in Italien erfochten, führten doch nur dahin, daß die eröffneten Reichslehen, auf deren Erträge man wohl einst die Verwaltung des Reiches zu gründen gedacht, an den Prinzen von Spanien übergingen und von Deutschland vollends losgerissen wurden. Die Niederlande bildeten zwar dem Namen nach noch einen Kreis des Reiches, aber in ihrer inneren Verwaltung waren sie von den Anordnungen der Reichsgewalten vollkommen unabhängig; daß der Kaiser Geldern und Utrecht in Besitz genommen, war für diese ein eigentlicher Verlust. Und dabei war der Kaiser doch in seinem Kriege mit Frankreich zuletzt der Schwächere geblieben, so daß der Einfluß der Franzosen in Lothringen überwog und die Grenzlande der französischen Zunge, die so viele Jahrhunderte hindurch behauptet worden, geradezu verloren gingen. Wohl gelang es König Philipp II., kurz darauf das Gleichgewicht zwischen beiden Mächten herzustellen; Frankreich mußte sich entschließen, alle seine Eroberungen herauszugeben; nur die behielt es, die es über das Reich gemacht [1559]. Die Eidgenossenschaft und Böhmen mit seinen Nebenlanden, obwohl Glieder des Reiches, waren niemals in die Kreise desselben eingezogen. Wie hätte man daran denken können, die im fünfzehnten Jahrhundert von Polen losgerissenen preußischen Landschaften wieder herbeizubringen? In dem Überreste derselben, dem östlichen Ordenslande, hatte man das einzige Mittel, eine gewisse Selbständigkeit für bessere Zeiten zu retten, darin gesehen, daß man sich unter einem erblichen Fürsten der polnischen Krone freiwillig anschloß. Daß die Livländer sich nicht zu einem ähnlichen Schritte vereinigen konnten, mußte bald ihre völlige Entfremdung zur Folge haben.

Der vornehmste Grund von alledem lag darin, daß die Begriffe von Kaiser und Reich nicht mehr ineinander aufgingen. Wir bemerkten oft, daß gerade der Kaiser, selbst im Zenit seiner Macht, die sorgfältigsten Vorkehrungen traf, seine Erblande von den Einwirkungen des Reiches zu befreien. Dagegen wollten auch die Stände nicht zu einem Anhang der großenteils auf fremdartigen Weltverhältnissen beruhenden kaiserlichen Macht werden. Während in allen benachbarten Ländern die erbliche Gewalt fortschritt und zu Unternehmungen nach außen erstarkte, brach in Deutschland ein Widerstreit zwischen dem Oberhaupt und den Ständen aus, der mit der Abdankung des ersten endigte. Wir wissen, daß die Unruhen von 1552 nicht von den religiösen Irrungen allein herrührten, sondern nicht weniger durch den Widerwillen der in ihrer Autonomie gefährdeten Reichsstände gegen das Aufkommen einer durchgreifenden oberherrlichen Gewalt veranlaßt wurden. Glück genug, daß man in den Stürmen und Verwirrungen jener Tage nicht noch größeres Mißgeschick erfuhr, daß nicht, wozu es sich einen Augenblick wohl anließ, der Gegensatz eines französischen und eines kaiserlich-spanischen Anhangs Deutschland geradezu in zwei Parteien zersetzte.

Und waren wohl überhaupt jene Versuche, die Reichsverfassung zu verbessern, dazu angetan, demselben eine starke Stellung nach außen zu verschaffen? Was auch dann und wann beabsichtigt worden sein mag: die Einrichtungen, zu denen es wirklich gekommen ist, waren doch nur friedlicher Natur. Der Kaiser ward als die Quelle des Rechts, als der Ausdruck und Inbegriff der Würde und Hoheit des Reiches verehrt; Macht aber sollte ihm von Anfang nicht gegeben werden: diese sollte allein in der Vereinigung der Stände ihren Sitz haben.

Was sich auf diesem Grunde erreichen ließ, war nun doch erreicht worden.

Eifersüchtig hatte man den Vorrang festgehalten, der dem Reiche in dem Verein der abendländischen Völker von jeher zukam und auf welchem das Verhältnis der Stände, die Abstufung ihrer Macht und ihres Ranges nun einmal beruhte und demselben sogar eine festere unabhängige Anerkennung verschafft. Der Anspruch der Päpste, über das Reich zu verfügen, entlud sich nur noch in Worten: in der Sache selbst erschien er matt und kraftlos.

Überhaupt war den Einwirkungen des römischen Stuhls, der früher, selbst in weltlicher Beziehung, eine wahrhafte Gewalt im Reiche ausmachte, eine Grenze gesetzt worden. Oder sollte es heutzutage jemand geben, dem es als ein Nachteil erschiene, daß päpstliche Legaten nicht ferner deutsche Reichstage eröffneten, der römische Hof nicht mehr zur Bestätigung von Zöllen, zur Schlichtung von Rechtshändeln herbeigezogen wurde, noch Kontributionen in Form des Ablasses ausschreiben durfte?

Wir können sagen: die Gedanken des vierzehnten Jahrhunderts, wie sie dem ältesten Kurfürstenvereine und der Goldenen Bulle zugrunde liegen, und das Bestreben des fünfzehnten, an die Stelle der Willkürlichkeiten, welche der kaiserliche und der päpstliche Hof von der Ferne her ausübten, wobei sie doch den eingerissenen Gewaltsamkeiten nicht im mindesten steuern konnten, Ordnung, Friede und Recht einzuführen, waren jetzt erst vollzogen; die ursprünglich beabsichtigte ständische Verfassung war in großen umfassenden und friedebringenden Konstitutionen befestigt.

Es liegt am Tage, daß das Emporkommen der protestantischen Meinung an allen diesen Dingen den größten Anteil hatte. Zu der Opposition gegen das Papsttum gab sie zugleich Berechtigung und weiteren Antrieb. Dem Kaisertum, dem sie an sich nicht entgegen war, mußte sie sich doch wegen seiner Verbindung mit der geistlichen Macht widersetzen. Erst unter ihrem Einfluß kamen Landfriede, Kammergericht, Exekutions- und Kreiseinrichtungen zu bleibender Gestalt; mit dem Religionsfrieden zusammen bildeten sie ein einziges zusammenhängendes schützendes System. Wer es nicht annahm, gehörte nicht mehr in vollem Sinne des Wortes zum Reiche.

Dadurch geschah nun aber wieder, daß die protestantische Entwicklung fortan unter dem Schutze der Reichsgemeinschaft stand. Das Reich hatte sich verpflichtet, keiner Verdammung der Evangelischen, die etwa das Konzilium aussprechen möchte, Folge zu geben.

War es nicht ein allgemeiner Gewinn, daß die hierarchische Macht, die alles weltliche und geistliche Leben der Nationen nach ihren einseitigen Gesichtspunkten zu leiten das Recht zu haben glaubte, endlich einen unüberwindlichen Gegensatz gefunden hatte? Es war das Werk des eigentümlichen deutschen Genius, der jetzt zuerst auf den Gebieten des selbstbewußten Geistes schöpferisch eintrat und ein Moment der großen welthistorischen Bewegung zu bilden anfing.

Und dies geschah nun nicht allein, ohne daß die große Institution des Reiches, in welcher die Nation seit so vielen Jahrhunderten lebte, verletzt worden wäre, sondern mit einer inneren Befestigung seiner ständischen Ausbildung.

Es ist schon gesagt worden und hat eine unzweifelhafte Wahrheit, daß die Reichsgeschichte, in die sich seit dem Abgang der großen Häuser des alten Kaisertums niemals alle Kräfte recht zusammenfassen, erst wieder ein großes Interesse gewinnt, seitdem die religiöse Neuerung sich erhob. Man beschäftigte sich wieder mit einer Angelegenheit, die aller Anstrengung und Aufmerksamkeit würdig war. Einen Augenblick hatte es den Anschein, als sollte die Neuerung alle Elemente durchdringen und den vollen Sieg behalten. Da das nicht geschah, so war wenigstens ein Glück, daß sie dazu beitrug, den allgemeinen Einrichtungen festere Formen zu geben. Auf den beiden Gegensätzen und ihrem Verhältnis beruhte fortan das Reich ...

Grundzüge der protestantischen Kirchenordnung.

Wie der alte Zustand des mittelalterlichen Staates auf einem Zusammenwirken der geistlichen und weltlichen Gewalt beruhte, so entsprang die Neuerung zunächst daher, daß, als die Bischöfe die Anhänger lutherischer Lehren zu bestrafen versuchten, die Fürsten ihnen dabei ihren weltlichen Arm nicht mehr liehen. Dies allein reichte hin, der bischöflichen Jurisdiktion, welche bisher, z. B. in Sachsen, ziemlich beschwerlich gefallen, ein Ende zu machen. Die Erzpriester und Diakonen oder Offizialen und Kommissarien, durch welche sie bisher ausgeübt worden, und die, da sie mit ihrer Einnahme an die Sporteln verwiesen waren, sich selten ein Vergehen hatten entschlüpfen lassen, erschienen nicht mehr.

Nachdem aber dieses ganze System gefallen, sah man doch auch, daß es etwas Gutes gehabt hatte und nicht ganz zu entbehren war.

Man trug Bedenken, Ehesachen, die bisher einen so bedeutenden Zweig der geistlichen Jurisdiktion gebildet, geradezu an die weltlichen Gerichte zu überweisen, weil der Richter, wie die Theologen oftmals wiederholen, darin dem Gewissen raten müsse.

Ferner bedurfte der geistliche Stand, der früher jede Unbill, die er erfuhr, als ein Verbrechen gegen die allgemeine Kirche geahndet, jetzt eines anderen Schutzes: über Beleidigungen der Patrone oder der Pfarrer hatte er nicht selten zu klagen.

War aber nicht für diesen Stand selber Aufsicht nötig? Gar bald fanden sich auch unter den protestantischen Predigern Leute, die ein unordentliches Leben führten oder in der Lehre ihrem Gutdünken nachhingen: unmöglich konnte man sie gewähren lassen.

Endlich forderten öffentliche Laster ein Einschreiten auch von kirchlicher Seite heraus; der gemeine Mann, der sonst alle Jahre fünf-, sechsmal vor den Offizial zitiert worden war und jetzt nichts mehr von demselben hörte, mußte auf eine andere Weise in Zaum gehalten werden.

Anfangs war nun der Gedanke, einen Teil dieser Befugnisse und Pflichten an die Pfarrer und Superintendenten übergehen zu lassen, an jene den Bann und die Ehesachen, an diese Aufsicht und Schutz. Es finden sich Zitationen, welche Luther im Namen des Pfarrers von Wittenberg in ganz juristischer Form erlassen hat.

Allein bald zeigte sich, daß dies nicht ausreiche. Die Pfarrer waren doch der weltlichen Angelegenheiten nicht kundig genug, um nicht zuweilen groben Betrügereien ausgesetzt zu sein, und in den geistlichen vielleicht nur zu heftig. Hauptsächlich aber, es fehlte ihnen an allem Nachdruck, aller Zwangsgewalt.

Und woher sollte diese auch überhaupt genommen, worauf begründet werden?

Man konnte sie nicht aus dem päpstlichen Recht herleiten, das man verwarf, noch aus der alten Praxis, die wieder auf dem Rechte beruhte. Auch ließ sich nicht ein Gemeinwille der Mitglieder der Kirchengesellschaft nachweisen, die noch lange nicht hinreichend von dem Prinzip durchdrungen zum großen Teil erst zu unterrichten, ja zu zähmen waren und noch regiert werden mußten. Es fehlte der neuen Geistlichkeit an einem zu Recht bestehenden Grund ihrer Jurisdiktion.

Die Wittenberger Theologen fühlten diesen Mangel so lebhaft, daß sie endlich Johann Friedrich baten, ihnen einen Kommissar zu geben, einen rechtsverständigen Mann, der die Jurisdiktion aus unmittelbarem Auftrag des Fürsten ausübe.

Die große Wendung für die Verfassung evangelischer Landeskirchen liegt darin, daß Johann Friedrich sich entschloß, diese Bitte zu erfüllen.

Ich denke wohl: er war dazu hinreichend befugt. Die alten Reichsschlüsse hatten die einzelnen Landschaften, in denen eine allgemeine Verwirrung ausgebrochen war, ermächtigt, für sich selber Ordnung zu treffen. Schon hatten die sächsischen Landstände, im Frühjahr 1537 in einem größeren Ausschuß versammelt, wahrscheinlich auf Antrieb des Kanzlers Brück, die Errichtung einiger kirchlichen Behörden, die sie Konsistorien nannten, in Antrag gebracht, hauptsächlich zu den Ehesachen und dem Schutz der Pfarrer; und es war beschlossen worden, dieselben aus dem Sequestrationsfonds zu besolden. Johann Friedrich entsprach dem Auftrag des Reiches, dem Begehren der Stände, dem dringenden Ansuchen der Theologen selbst, wenn er seine landesfürstliche Macht zur Gründung eines festeren kirchlichen Zustandes anwandte. Er setzte das Konsistorium aus zwei weltlichen und zwei geistlichen Mitgliedern zusammen, die er als seine Beauftragte in Kirchensachen, wie er es ausdrückt, als »seine von der Kirchen wegen Befehlshaber« bezeichnet. Sie sollen in den durch ein beigeschlossenes Gutachten der Theologen bestimmten Fällen – eben in den oben angegebenen – die Befugnis haben, seine Untertanen vorzubescheiden, Verhör zu halten, Untersuchung zu führen und, wofern es nötig, rechtlich zu verfahren. Alle Amtleute, Schösser, Vögte, in den Städten die Räte weist er an, das zu vollziehen, was dieselben verfügen oder erkennen werden.

Einst hatten die Bischöfe die weltliche Macht zu verdrängen gewußt, zuweilen ganze Diözesen zu Fürstentümern umgewandelt. Jetzt trat in weltlichen Gebieten die umgekehrte Entwicklung ein: die fürstliche Macht dehnte ihre Jurisdiktion über geistliche und gemischte Fälle aus, die bisher ein geistliches Forum gehabt.

Die Theologen fanden, daß eine solche Ausdehnung dem ursprünglichen Begriffe der Obrigkeit, wie er in der Heiligen Schrift vorliege, nicht allein vollkommen entspreche, sondern durch dieselbe vorausgesetzt, gefordert werde. Durch Stellen des Alten und des Neuen Testaments bewiesen sie, daß die Obrigkeit auch in geistlicher Beziehung Schutz gewähren und das Böse bestrafen müsse.

Das hängt auch damit zusammen, daß die Reformatoren die Kirche nicht mehr in den Bischöfen, dem geistlichen Stande sahen, sondern eine Teilnahme der Laien, namentlich der angesehensten, an ihren Geschäften für zuträglich und notwendig hielten.

An einen Gegensatz der verschiedenen Stände war hier nicht zu denken, da alle vereinigt nur ein und eben dasselbe Ziel hatten. Die fürstliche Autorität war nicht zu entbehren, um die kirchliche Ordnung wieder aufzurichten. Doch hätte sie allein nicht vorschreiten können; sie bedurfte der Mitwirkung der Geistlichen, und zwar aus dem eigenen, von keinem Auftrage des Fürsten stammenden Prinzipe derselben. Auch an anderen Stufen sollten die beiden Zweige konkurrieren. Bei der jährlichen Visitation aller Kirchen des Bezirkes, die dem Konsistorium aufgetragen ward, sollte sich dasselbe in den Städten mit zwei Mitgliedern des Rats und zweien von den Vorstehern des gemeinen Kastens, in den Dörfern mit den ältesten oder einigen Mitgliedern der Gemeinde vereinigen, um Wandel und Haushalt des Pfarrers zu prüfen; mit Herbeiziehung des Pfarrers selbst sollte dann das Betragen der Gemeine untersucht werden. Kein Mitglied sollte Laster dulden, durch welche der Zorn Gottes über die Menschen komme.

Denn dabei blieb man immer, daß die Kirche ein göttliches Institut sei, welches durch ein Zusammenwirken aller Kräfte aufrechterhalten werden müsse.

Die weltliche Gewalt erbot sich den Übeltätern, »als die ihren Taufbund verleugnen«, ihr Handwerk zu legen, alle bürgerliche Gemeinschaft zu untersagen.

Das erste Konsistorium trat in Wittenberg im Februar 1539 zusammen. Es bestand aus den Theologen Justus Jonas und Johann Agricola und aus den Juristen Kilian Goldstein, der anfänglich bestimmt war, den Vorsitz zu führen, es aber abgelehnt hatte, und Basilius Monner; war aber noch sehr formlos. Es fehlte sogar an einem Amtssiegel: die Mitglieder mußten sich bei der Ausfertigung ihrer Petschafte bedienen. Eine eigentliche Instruktion erfolgte erst 1542, die denn zugleich für zwei andere Konsistorien, die in Zeitz und in Saalfeld errichtet werden sollten, bestimmt war: doch fehlte viel, daß alles sogleich ins Werk gesetzt worden wäre.

War doch überhaupt der ganze Zustand noch provisorisch. Bei der ersten Aussicht auf eine allgemeine Reformation im Reiche erklärten sich die protestantischen Fürsten bereit, diese kirchliche Jurisdiktion den Bischöfen zurückzugeben, vorausgesetzt, daß die Reinheit der Lehre gewahrt und ein ähnliches Institut wie das Konsistorium unter bischöflicher Autorität eingerichtet würde.

Davon erfolgte jedoch, wie wir wissen, das Gegenteil. Das Interim war auf eine vollständige Herstellung der Hierarchie des Reiches abgesehen: bei aller Vorsicht, mit der es sich ausdrückte, neigte es doch so überwiegend zu dem Sinne der alten Kirche, daß dieser notwendig den Sieg hätte davontragen müssen.

In bezug auf die Verfassung ward das Interim selbst da, wo man sonst dazu geneigt war, nicht ausgeführt. So sehr man sich in den moritzischen Landen (Kursachsen) der kaiserlichen Formel annäherte, so konnten doch die Bischöfe auch hier die Ordination, die mit einer Prüfung in katholischem Sinne verbunden gewesen wäre, nicht wiedererlangen.

Wie viel weniger war daran zu denken, nachdem die ganze Kraft der kaiserlichen Anordnungen gefallen war!

Auf einer Zusammenkunft sächsischer und hessischer Theologen zu Naumburg im Mai 1554, der von den Oberländern Sleidan beiwohnte, ward der Beschluß gefaßt, auf die früheren Einrichtungen definitiv zurückzukommen. Man erklärte es für unmöglich, die Ordination den Bischöfen zu überlassen, von denen die rechte Lehre nach wie vor verfolgt werde, und beschloß, dieselbe den Superintendenten zu überweisen, bei denen sie denn auch fortan geblieben ist. Etwas ganz anders war es in England, wo das große national-kirchliche Institut, bei allem Wechsel, den es durchmachte, doch in sich selbst unangetastet, – zuletzt das evangelische System in seinen Grundlehren annahm; und doch hat auch da die Beibehaltung der Vorrechte des Bistums den heftigsten Widerspruch hervorgerufen. In Deutschland hätte man an die Mysterien des Ordo wohl niemals wieder geglaubt. Man behielt nur den einfachen Ritus der Handauflegung bei, wie man das Vorbild davon in der Schrift fand, und trug dafür Sorge, daß der Erteilung dieser Weihe immer erst Unterweisung und Prüfung voranging. Die Konsistorien traten wieder in ihre ursprüngliche Leitung ein. Die Theologen ersuchten nur die Fürsten, ihre Amtleute zu unnachsichtiger Exekution der gefaßten Dekrete anzuweisen: sie wiederholten aufs neue, daß die Erhaltung dieses Institutes ein Gottesdienst sei, der in das Amt der Fürsten gehöre.

Auch hatte es jetzt von seiten der Gegner damit keine Gefahr mehr. Auf der Versammlung zu Augsburg im Jahre 1555 beschloß das Reich, daß den Bischöfen in den zur augsburgischen Konfession übergetretenen Gebieten kein Anspruch auf die Jurisdiktion mehr zustehe. Es kam gleichsam auf die im Jahre 1526 ausgesprochene Delegation zurück und bestätigte, was infolge derselben geschehen war. Seitdem setzte sich denn die Konsistorialverfassung überall und auch da durch, wo man bisher die bischöflichen Formen beibehalten hatte. Sie beruht auf einer Vereinigung des neuen geistlichen Prinzipes und der Landeshoheit, die dem Ereignis, wie es sich nun einmal vollzogen hatte, vollkommen entspricht. Die Geistlichkeit hätte sich ohne das Fürstentum nimmermehr behaupten können; dieses dagegen erlangte durch eine ergebene Geistlichkeit eine Ausdehnung seiner Befugnisse, welche auch in katholischen Ländern gesucht, aber doch nicht in so vollem Maße erreicht werden konnte ...

Entwicklung der Literatur.

Den mächtigsten inneren Antrieb hatte der deutsche Geist im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts durch die Bekanntschaft mit dem klassischen Altertum empfangen, die schon in den karolingischen Zeiten begonnen, während der Herrschaft der Hierarchie unterbrochen oder in Schatten gestellt, ihm jetzt in aller Fülle zuteil wurde. Wir sahen, wie dieses Studium zuerst in den grammatischen Schulen erneuert ward, wieviel Mühe es kostete und was es zu bedeuten hatte, daß es sich endlich auch auf den Universitäten festsetzte.

In dieser Beziehung nahm Melanchthon eine sehr wichtige Stellung ein. In dem Sinne, wie er die alte Literatur in Wittenberg förderte, taten es die ihm nächstverbundenen Freunde, Camerarius in Leipzig, Sabinus in Königsberg und Frankfurt a. d. O.; seine Schüler in Marburg, Tübingen, Heidelberg. In Rostock gewährte Johann Albert von Mecklenburg, dessen politische und kriegerische Unternehmungen wir zuweilen berührten und der zugleich einen offenen Sinn für höhere Bildung bewies, diesen Studien seinen Schutz. Melanchthon sieht im Geiste die allenthalben verstoßenen griechischen Musen bei ihm im Norden ihre Zuflucht suchen.

Dabei behaupteten sich aber auch noch einige Schulen in großem Ruf.

Erst seit dem Jahre 1531 entwickelte sich das ganze Verdienst Valentin Trotzendorfs in Goldberg; – er hatte eine Art von Jugendrepublik errichtet, mit Konsuln, Senatoren, Zensoren, in deren Mitte er sich selber als immerwährenden Diktator aufstellte.

Der letzte Abt von Ilfeld, der dieses Kloster aus eigenem Antrieb in eine Schule verwandelt hatte, fand in einem Zögling von Goldberg, Michael Neander, ganz den Mann, der dazu gehörte, nach seinem Tode diese Stiftung fortzuführen und ihr allgemeine Wirksamkeit zu verschaffen: – einen stillen Gelehrten von gebrechlichem Körper und einem in seiner Tiefe der Religion zugewandten Gemüte, aber doch weltklug und umsichtig genug, um seine Klosterschule gegen die Ansprüche mächtiger Nachbarn zu schützen, und von unermüdlicher Tätigkeit. Die Kenntnis der griechischen Sprache hat er in den niedersächsischen Legenden erst verbreitet; er wird als ein zweiter Lehrer von Deutschland gepriesen.

Eine fast noch mehr europäische als deutsche Wirksamkeit erlangte die Schule, welche Johann Sturm 1537 in Straßburg errichtete. Johann Sturm nahm an den öffentlichen Angelegenheiten lebendigen, wohl selbst eingreifenden Anteil: doch verlor seine Schule dabei nicht, der er vielmehr aus dem allgemeinen Gesichtspunkte um so größeren Eifer widmete. Sie ward gleichsam eine allgemeine weltliche Akademie für die protestantische Welt, wie Genf eine theologische. Auch wurde sie gern von dem deutschen Adel besucht, dessen Bedürfnisse der Vorsteher in eigenen Schriften erwog.

Bei der würdigen Stellung, welche diese Studien einnehmen, konnte sich das tumultuarische händelsuchende Treiben der früheren Poetenschulen nicht mehr halten. Das Schicksal des Simon Lemnius, der es unter den Augen Luthers fortsetzen wollte und darüber verjagt ward, ist für die Richtung überhaupt bezeichnend. Der neue Olymp dieser Poeten ward schon wieder verworfen. Der feine und elegante Micyll will nur von einer züchtigen Muse wissen. Er und seine Schüler haben wirklich keine anderen Gefühle, als die der großen Tendenz entsprechen, in welcher die Nation hauptsächlich begriffen ist.

Schon nahm man mit ernstem und anhaltendem Bemühen an der Arbeit der Wiederbekanntmachung und Erläuterung der klassischen Werke Anteil.

Noch waren die lateinischen Schätze deutscher Klöster, wie Hirschfeld oder Lorsch, nicht erschöpft; man hatte Weltverbindung und Teilnahme für die Sache genug, um auch griechische Handschriften aus dem Orient an sich zu bringen, wie z.B. die Stadt Augsburg im Jahre 1545 zu Korfu eine Summe Geld daran wandte; manches brachten Gesandte des römischen Königs oder Prokuratoren der Fugger herbei. Vincenz Opsopäus, der Lehrer des Markgrafen Albrecht, soll die deutschen Buchdrucker zuerst angeregt haben, mit dem Ruhme der Aldus und Junta zu wetteifern und die Werke der Alten diesseit der Berge zu publizieren. Er selbst konnte der Welt einen der großen Geschichtschreiber des Altertums, Polybius, aus einem Kodex, den der Zufall von Konstantinopel nach Nürnberg geführt hatte, wieder vorlegen; er hat diese Arbeit auf eine Weise vollzogen, die ihm noch heute Ehre macht. Nach und nach entwickelte sich eine lebhafte Tätigkeit in diesem Zweige. Flavius Josephus und Ptolemäus, die wesentlichsten Ergänzungen des Diodorus Siculus, Livius, Ammianus und wie vieler anderer Schriftsteller in beiden Sprachen gingen zuerst aus deutschen Pressen hervor. Andere Autoren erschienen mit ihren Scholiasten, späteren Fortsetzern: oder in berichtigten Texten, die griechischen mit Übersetzungen, die zum Teil noch den heutigen Ausgaben beigegeben werden. Es mag sein, daß diese Arbeiten noch oftmals kritisch-grammatische Genauigkeit vermissen lassen; aber es gibt auch solche, die ein tieferes Eingehen, Kritik und echtes Verständnis beweisen. Joachim Camerarius hat für Plautus vielleicht von allen Herausgebern das meiste getan; er ist der erste, der die Spuren einer doppelten Rezension in dem vorliegenden Texte der ciceronianischen Schriften, möge dieselbe nun stammen woher sie wolle, bemerkt hat. Ein entschiedenes philologisches Talent war Hieronymus Wolf aus Öttingen: – eine zarte, schwächliche, leicht verletzbare Natur, der darüber errötete, wenn ein anderer eine Unwahrheit sagte, der von der Sohle bis zum Scheitel erzitterte, als er zuerst des berühmten Melanchthon ansichtig wurde; immer voll Furcht vor dem Hasse der Menschen und dem widrigen Einfluß geheimer satanischer Kräfte; aber eben darum mit einsiedlerischem Fleiße unter den ungünstigsten Umständen den Studien hingegeben und seiner Sache, obwohl er nie recht damit zufrieden war, daß er sie ergriffen hatte, vollkommen Meister. Er wagte sich an die Übersetzung des Demosthenes, eine Arbeit, vor der Erasmus und Budäus zurückgeschrocken waren, und führte sie auf eine Weise durch, die seinen Namen mit dem seines Autors auf immer verknüpft hat. Er ist auch in der Kritik des Textes der Sospitator des Redners und hat ihn den späteren Zeiten erst wieder zugänglich, verständlich gemacht. Ohne seinen Fleiß würden die Byzantiner wohl noch lange unbekannt geblieben sein: er ist glücklich, gleichsam ein Ganzes byzantinischer Geschichten zusammenzustellen. Sehr lesenswürdig ist doch die Autobiographie, die er hinterlassen hat. Er erscheint darin als ein recht ehrlicher Patriot, freilich als ein solcher, der mit dem, was um ihn her vorgeht, oftmals schlecht zufrieden ist: als ein überzeugter evangelischer Christ, ohne Parteiwesen, wie denn seine Religiosität nur dann und wann unwillkürlich hervorbricht: und als Philologe, der das Altertum in Fleisch und Blut verwandelt hat: die sinnreichsten Sprüche bieten sich seiner Erinnerung dar: man kann an ihm sehen, daß diese Elemente einander nicht widersprechen.

Und niemand sollte sagen, daß diese Studien in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in Abnahme geraten seien: in die ja Sturm, Neander und Wolf zum großen Teil gehören. Schon lebten ihre Nachfolger Rhodomann und Sylburg.

Auf die Fortpflanzung der Studien allein kam es jedoch nicht an. Wir beschäftigen uns mit einem Zeitalter, von dem man nicht mit Unrecht gesagt hat, alle vier Fakultäten seien da im Grunde nur eine einzige gewesen, nämlich die der Grammatiker. Von der Herstellung und Auslegung der Texte hing jeder Fortschritt ab.

Wir brauchen nicht darauf zurückzukommen, wie sehr dies in der gelehrten Theologie der Fall war, die eben auf diesem Grunde beruhte. Die Publikation der Kirchenväter, auch der lateinischen, um die sich nach dem Vorgange des Erasmus auch andere deutsche Philologen viel Verdienst erwarben, kam den Abweichungen der Protestanten mächtig zustatten. Vor der ursprünglichen Auffassung des christlichen Altertums verschwanden die hierarchischen Satzungen ...

Wir überschauen die Arbeit, in welcher der deutsche Geist begriffen war. In allen Gebieten reißt er sich von der Überlieferung los, welche sich im Laufe der Zeit in hohem Grade verfälscht und mit Aberglauben erfüllt hatte. Aber indem er zu echteren Quellen der Belehrung aufsteigt, bemerkt er doch, was auch diese zu wünschen übrig lassen. Er ist überall bemüht, die Kenntnis, welche die Alten besaßen, zu erweitern und zu ergänzen. Gegen die Systeme, die sie gebildet, ruft er den fragmentarischen Widerstand zu Hilfe, der sich unter ihnen selbst geregt hat, und schickt sich an, aus eigener Kraft zur Anschauung der Natur der Dinge hindurchzudringen. Die gewonnene religiöse Überzeugung flößt ihm Vertrauen und Furchtlosigkeit ein: Forschung und Kritik werden ihm Natur. Wir nehmen nicht ein Bestreben wahr, das aus dem Schoße der Nationalität ohne fremde Einwirkung hervorgegangen wäre: der deutsche Geist sucht vielmehr den Boden der schon vor Zeiten gegründeten Wissenschaft nun auch seinerseits vollständig zu gewinnen und an der Arbeit der Jahrhunderte tätigen Anteil zu nehmen.

Wenn es eben daher rührt, daß Latein die ausschließende Sprache der Wissenschaft blieb, so ward doch auch die auf die Muttersprache angewiesene Bevölkerung von der Teilnahme an der Bewegung nicht ausgeschlossen.

Schon die theologischen Flugschriften, die Predigten, die immer schwerere Fragen in Anregung brachten, nahmen die Aufmerksamkeit der Ungelehrten in Anspruch.

Ein großer Teil der alten Literatur ward ihnen in deutschen Übersetzungen zugänglich gemacht: es ist bezeichnend, was man übersetzte, was man beiseite liest. Man nahm z. B. die Äneide, die Metamorphosen, nicht Horaz, noch Catull: es war hauptsächlich der Stoff, den man sich anzueignen suchte. Man beschäftigte sich viel mit Terenz, seines lehrreichen Inhalts wegen, der gleich auf dem Titel gerühmt ward; wenig mit Plautus; man übersetzte nicht die Reden Ciceros, sondern seine populären philosophischen Schriften. Am sorgfältigsten sind vielleicht diejenigen Werke bearbeitet, die zu unmittelbarem Gebrauch bestimmt waren. Vitruvius erscheint »als ein Schlüssel aller mathematischen und mechanischen Künste, die zur Architektur gehören, aus rechtem Grund und sattem Fundament, so daß jeder Kunstbegierige einen rechten Verstand fassen möge«: einer der schönsten Drucke jener Zeit mit trefflichen Holzschnitten, unter denen auch das Bildnis Albrecht Dürers prangt.

Fehlt es auch nicht durchaus an freier Produktion, so ist es doch noch mehr Aneignung, Popularisierung schon vorhandener fremder Stoffe, was auch der deutschen Literatur jener Zeit ihren Charakter gibt.

So recht eigen ist dies das Element, in welchem sich die umfangreichen Werke des »sinn- und kunstreichen, wohlerfahrenen« Meisters Hans Sachs bewegen.

Hans Sachs

Einen großen Teil der heiligen Bücher Alten und Neuen Testamentes gibt er in Reimen wieder; daran schließen sich die Historien von den Märtyrern; dann folgen die weltlichen Geschichten, wo denn bei der alten Welt »der griechische Weise Herodotus« oder Justin oder Johann Herolt abwechselnd als die Gewährsmänner genannt werden, in der neueren die Chronisten, die französische Chronika, die hochburgundische Chronika; weiter finden sich die Erzählungen der Volksbücher, wie vom hörnen Siegfried oder der schönen Magelone; die Sprüche der alten Philosophen und die Tierfabel fehlen nicht; zuweilen werden theologische Fragen aufgeworfen, wo dann jeder Teil seine Zeugnisse aufführt, Propheten und Apostel gewissermaßen redend erscheinen.

Indem sich aber Hans Sachs fast überall früheren Autoren anschließt, weiß er sich doch ihrer Form zu erwehren. Sein Verfahren steht anderer Poesie beinahe entgegen, während andere dem überlieferten Stoffe neue Gestalt zu geben suchen, führt er das Gestaltete auf den Stoff zurück. Er nimmt zuweilen alte Komödien herüber, aber gleichsam auszugsweise; ihm gewinnen hauptsächlich nur die Situationen, ihre Aufeinanderfolge und das daraus hervorgehende Ergebnis Teilnahme ab. Seine dramatischen Arbeiten sind höchst sonderbar: man könnte sagen, sie entbehren des Dialogs; wenigstens arbeitet sich derselbe aus der Erzählung nur eben erst hervor. Und selbst mit seiner Erzählung verhält es sich oft auf eine ähnliche Weise: er epitomiert die Volksbücher. Den großen Inhalt der Literatur, der ihm selbst zuhanden gekommen, rückt er in einen seinen Lesern entsprechenden Gesichtskreis. Nur da entwickelt er dichterische Gaben, wo er sich entweder in diesem Kreise schon bewegt, wie in den Schwänken, oder wo er das Anmutige, Heitere, Unschuldig-Sinnliche berührt. Die grüne Tiefe der Wälder, die Maienlust der Wiesen, Schönheit und Schmuck der Jungfrauen weiß er mit unnachahmlicher Anmut und Zartheit zu schildern. Überhaupt muß man ihm Zeit lassen und ihm nachgehen. Seine Anfänge pflegen prosaisch und uneben zu sein; weiterhin wird die Sprache fließender, und die Gedanken treten mit voller Deutlichkeit hervor; mit treuherziger Einfalt legt er besonders die Lehre aus. Es ist ihm nicht genug, in seinem Garten die schönsten und würzigsten Blumen gepflanzt zu haben: er will auch kräftige Wasser, heilsame Säfte daraus abziehen zur Stärkung der geistig Schwachen. Religiöse Überzeugung und moralische Absicht sind aber in ihm ein und dasselbe. Mögen die Theologen über einzelne Punkte noch hadern: ihn berühren diese Streitigkeiten nicht: er hat eine sichere Weltanschauung gewonnen, die alles umfaßt, der sich alles, was in sein Bereich kommt, von selbst unterwirft. Er hat Gefühl für den Reiz der irdischen Dinge, und oft beschäftigt ihn die Vergänglichkeit derselben; man sieht wohl, daß dieser Gegensatz inneren Eindruck auf ihn hervorbringt: aber er hat dafür einen ewigen Trost ergriffen, an dem ihn nichts irremachen kann.

Diese Bildung, die doch auch von ihrem Standpunkt aus die Welt umfaßt, und diese Gesinnung flößen uns Hochachtung gegen den damaligen Stand der deutschen Handwerker ein, aus dem sie hervorging, An vielen Orten, wo von jeher die Poesie geblüht, fand man noch Meistersänger. Um Hans Sachs hatten sich deren, wie man sagt, über zweihundert in Nürnberg gesammelt, und noch oft hielten sie ihre Singschule zu St. Catharina. Sie wiederholten gern die Sage ihrer Altvordern, wie ihre Gesellschaft einst bei ihrem Ursprung von allem Verdacht der Ketzerei freigesprochen und von Kaiser und Papst bestätigt worden sei; wenn dann aber das Hauptsingen begann, welches immer schriftmäßig sein mußte, hatte der vorderste der Merker die lutherische Bibel vor sich und gab acht, ob das Lied wie mit dem Inhalt des Textes, so auch mit den reinen Worten, deren sich Doktor Luther bedient hat, übereinstimmte.

Kirchenlied.

Von den künstlerischen und poetischen Hervorbringungen dieser Zeit haben wohl diejenigen überhaupt den meisten Wert, welche die religiöse Gesinnung aussprechen. Das Kirchenlied, dessen Ursprung wir berührten, bildete sich von Jahr zu Jahr mannigfaltiger und eigentümlicher aus; es vereinigt die Einfalt der Wahrheit mit dem Schwung und der Tiefe des auffassenden Gemütes; es ist zugleich von dem Gefühle des Kampfes, dessen verschiedene Epochen sich darin ausgedrückt haben, und der Gewißheit des Sieges durchdrungen: es ist oft wie ein Kriegsgesang gegen den noch immer drohenden Feind. Und mit dem Liede ist zugleich die Melodie hervorgegangen, häufig ohne daß man sagen könnte, wie das geschehen ist. Nur geringe Anfänge enthalten die ersten Liederbücher von 1524; im Jahre 1545 erscheinen schon 98 Melodien, im Jahre 1573, denn mit der Zeit wuchs auch die Gabe, 165. Biblische Texte hatten eine besondere Kraft die Musiker anzuregen: zu dem Magnifikat finden sich verschiedene Weisen, alle gleich trefflich. Und hieran knüpfte sich die kunstgerechte Ausbildung des Chorals. Das Unechte und Überladene, das sich der früheren Musik beigesellt hatte, ward ausgestoßen: man bemühte sich nur die Grundtonart streng und harmonisch zu entfalten; die evangelische Gesinnung gewann im Reich der Töne Ausdruck und Darstellung.

Gewiß schloß man sich auch hier an das Vorhandene an: es hat Kirchenlieder vor Luther gegeben, die neue Musik gründete sich auf die alten Gesänge der lateinischen Kirche; aber alles atmete doch einen neuen Geist. So beruhte seinerseits auch der gregorianische Gesang auf den Grundsätzen der antiken Kunstübung.

Eben darin liegt die Eigentümlichkeit der ganzen Bewegung, daß sie das Konventionelle, Abgestorbene, oder doch nicht zu weiterem Leben zu Entwickelnde von sich stieß, und dagegen die lebensfähigen Momente der überlieferten Kultur unter dem Anhauch eines frischen Geistes, der nach wirklicher Erkenntnis strebte, zu weiterer Entfaltung brachte.

Dadurch ward sie selbst ein wesentliches Glied des universalhistorischen Fortschrittes, der die Jahrhunderte und Nationen miteinander verbindet.

In keiner anderen Nation wäre dies so bedeutend gewesen wie in der deutschen.

Die romanischen Völker beruhten doch noch, der Hauptsache nach, auf den Stämmen, von denen die Herrlichkeit des Altertums ausgegangen: in Italien sah man die Alte Welt wohl als die eigene nationale Vorzeit an: – daß ein ursprünglich verschiedener Geist, der germanische, an der Erneuerung der alten Kultur lebendigen Anteil nahm, nicht allein lernend, sich aneignend, sondern mithervorbringend, und zwar im Reiche der positiven Wissenschaften, die von nun an unaufhörlich fortschritten, trug erst recht dazu bei, sie zu einem Gemeingut der Menschheit zu machen.

Wie dadurch eigentlich erst ausgeführt wurde, was Karl der Große bei seinen scholastischen Gründungen beabsichtigt hatte, so war auch dieser Standpunkt wieder nur eine Stufe.

Es bedurfte noch geraumer Zeit, ehe die erwachten Ideen sich durcharbeiten, bewähren konnten: – auf Kopernikus mußte erst Kepler folgen; – die Einwirkungen der mitstrebenden Nationen der europäischen Gemeinschaft mußten erst, wo sie fördernd waren, aufgenommen, wo aber das Gegenteil, was doch auch geschah, überwunden werden. Die Wissenschaften waren noch zu streng an den Gebrauch der lateinischen Sprache gebunden, als daß der Geist der Nationen neuerer Zeit sich mit voller Freiheit dann hätte bewegen können. Die Tiefe und Ursprünglichkeit der eigentümlich germanischen Anschauungen war gleichsam zu stark zurückgedrängt. Es ist eine Zeit gekommen, wo der deutsche Geist das Altertum noch lebendiger begriffen hat, dem Geheimnis der Natur noch einen Schritt näher getreten und zugleich zu eigener und doch allgemein gültiger Darstellung gelangt ist.

Dazu gehörte aber freilich – denn auch der wissenschaftliche Fortschritt beruht auf dem langsam reifenden allgemeinen Leben – eine Entwicklung der politischen Verhältnisse, die es möglich machte.

Und für diese standen, trotz alledem, was bereits erreicht war, noch die schwersten Kämpfe bevor.

So viel hatte Karl V. doch bewirkt, daß sich der protestantische Geist nicht der ganzen deutschen Nation und ihrer großen Institute bemächtigen konnte.

Bald nach ihm aber trat in der alten Kirche selbst eine Umwandlung in Leben und Verfassung ein, die ihr neue Energie verlieh: in kurzem warf sie sich dem noch immer vordringenden protestantischen Elemente mit ganz anderen Kräften entgegen als bisher. Auf das Zeitalter der Reformation folgte das der Gegenreformationen. Es gelang dem Papsttum zuerst, in den Ländern seines Ursprungs und seiner ältesten Herrschaft alle entgegengesetzten Regungen zu ersticken, alsdann auch in Deutschland vorzudringen und die Landschaften, die keine protestantischen Obrigkeiten hatten, sich wieder vollkommen anzueignen; der Widerstand, auf den es hierbei an einer oder der anderen Stelle doch stieß, gab ihm Anlaß, endlich nochmals zu den Waffen zu greifen; durch eine Verflechtung politischer und religiöser Verhältnisse, die es zu keiner Vereinigung unter den Protestanten kommen ließ, gewann es den Sieg; seine Heerscharen überfluteten die Länder, aus denen der Protestantismus hervorgegangen war; der Gedanke an eine allgemeine Herbeibringung konnte sich noch einmal regen.

Dahin freilich kam es nicht, daß er auch ausgeführt worden wäre; allein es mußte in einem wilden und verwildernden Kriege, der die gewonnene Kultur zum Teil wirklich zerstörte, dagegen gekämpft werden; und als man endlich den Religionsfrieden erneuern und auf die alten Grundlagen der Verfassung zurückkommen wollte, war die Selbständigkeit der Nation durch eine von beiden Seiten angerufene und alsdann nicht wieder so bald zu beseitigende Teilnahme auswärtiger Mächte gefährdet.

Wieviel Mühe und lange andauernden Kampf hat es gekostet, in Epochen voll wechselnden Glückes und neuer Gefahren den fremden Einfluß abzuwehren! Wir müssen sagen, erst in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war es einigermaßen geschehen.

Eher aber konnten die ursprünglichen Bestrebungen, welche das Zeitalter, das wir betrachtet haben, erfüllten, nicht in voller Freiheit und Kraft wieder aufgenommen werden. Sie zielten dahin, an den lebendigen Momenten der allgemeinen und nationalen Geschichte festhaltend, eine allseitige und unabhängige Entwicklung der Nation hervorzubringen; sie verknüpfen die Anfänge unserer Geschichte mit ihrer fernsten Zukunft.


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