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VIII.

In der folgenden Nacht, als die Einwohner des Schlosses sich zur Ruhe gelegt hatten, erschien Hippolytus, dessen Ungeduld die Stunde in Jahrhundert ausdehnte, von Ferdinand begleitet, im Cabinett. Julie, die seit sie von ihr gingen, keinen Augenblick der Ruhe gekannt hatte, empfieng sie mit großer Bewegung. Der lebhafte Glanz der Gesundheit war von ihren Wangen geflohen, und eine matte Blässe, weniger schön, aber tiefer rührend, war an seine Stelle getreten. Sie antwortete nichts auf Hippolytus feurige Fragen, lächelte schwach durch Thränen hin, reichte ihm ihre Hand, und verhüllte ihr Gesicht in ihrem Gewande. »Ich empfange diese theure Hand«, rief er, und warf sich vor ihr hin; »ich empfange sie als das Pfand meiner Glückseligkeit, – aber lassen Sie Ihre Lippen das Geschenk bestätigen!«

»Wenn dieses Geschenk mich in Ihrer Achtung nicht herab setzt«, sagte Julie mit leiser Stimme –»so ist diese Hand die Ihrige auf ewig.« – »Herabsetzen? o meine Geliebte – bey diesem zärtlichen Nahmen darf ich Sie jetzt nennen – dieses Geschenk würde, wenn es möglich wäre, meine Achtung vermehren. Da aber diese keines Zuwachses mehr fähig ist, so kann sie nur meine Meinung von mir selbst erhöhen, und meinen Dank gegen Sie vergrößern; einen Dank, den ich durch die innigste Sorgfalt für Ihr Glück, durch die zärtliche Aufmerksamkeit eines ganzen Lebens, zu zeigen mich bestreben werde. Von diesem gesegneten Augenblicke an«, fuhr er mit Entzücken fort, »laß mich als Weib dich begrüßen; laß auch von diesem Augenblicke an jede Spur des Kummers verwischen, und diese Thränen trocknen,« – indem er sanft ihre Wangen mit seinen Lippen berührte – »und nie, nie mögen sie wieder quellen!«

Ferdinands Dank und Freude vereinigte sich mit Hippolytus Zärtlichkeit, Juliens beunruhigte Lebensgeister zu besänftigen, und nach und nach ihre Fassung wieder herzustellen. – Sie berathschlagten nun über ihren Plan zur Flucht, bey dessen Ausführung keine Zeit zu verlieren war, weil die Vermählung mit dem Herzoge am übermorgenden Tage gefeyert werden sollte. Sie beschlossen also, ihren Plan, was er auch seyn möchte, in der folgenden Nacht auszuführen. Als sie aber vom ersten Feuer des Unternehmens zu genauerer Untersuchung herab stiegen, sahen sie bald die Schwierigkeiten desselben ein. Die Schlüssel des Schlosses hatte Robert, ein alter vertrauter Diener des Marquis, in Verwahrung, der sie alle Nächte in einem eisernen Kasten in seiner Kammer verwahrte. Sie durch eine List in die Hände zu bekommen, schien unmöglich zu seyn, und Ferdinand wagte es ungern, die Treue dieses Mannes zu bestechen, der seit vielen Jahren in des Marquis Diensten war. So gefährlich der Versuch auch war, zeigte sich doch kein andrer Ausweg, und sie sahen sich genöthigt, es darauf ankommen zu lassen. Es wurde also ausgemacht, daß Ferdinand und Hippolytus, wenn sie sich die Schlüssel verschaffen könnten, zu Julien ins Cabinett kommen sollten; daß sie dann sie ans Ufer brächten, von wo aus ein Boot, welches daselbst ihrer wartete, sie nach der gegen über liegenden Küste von Calabrien bringen sollte, woselbst ohne Furcht vor einem Überfalle die Vermählung gefeyert werden könnte. Weil aber Ferdinand sich durchaus nicht den Anschein geben durfte, dabey geholfen zu haben, so wurde beschlossen, daß er, so bald seine Schwester eingeschifft wäre, aufs Schloß zurück kehrte. Nach dieser Anordnung ihres Plans trennten sie sich bis auf die folgende Nacht, welche Hippolytus und Juliens Schicksal entscheiden sollte. Julie, deren Herz durch Ferdinands brüderliche Zärtlichkeit und Hippolytus Versicherungen beruhigt war, genoß nun einen kurzen Schlaf. Beym Anbruche des Tages erwachte sie neu gestärkt und in leidlicher Fassung. Sie legte die wenigen Kleidungsstücke, die sie bedurfte, zurechte, und brachte alles zur Abreise in Ordnung. Ein Gefühl von Großmuth rechtfertigte ihre Zurückhaltung gegen Emilien und Madame de Menon, in deren Treue sie keinen Zweifel setzen konnte, die sie aber zu zärtlich liebte, um ihnen die Schmach zuzuziehen, die auf sie gefallen seyn würde, hätte man entdeckt, daß sie zu ihrer Flucht behülflich gewesen wären. – Während dessen war das ganze Schloß in Bewegung. Die prächtigen Zurüstungen zur Hochzeitsfeyer beschäftigten alle Augen und Hände. Die Marquise ordnete das Ganze an, und ihre Betriebsamkeit zeigte, wie sehr sie diese Verbindung wünschte, und erregte einen Verdacht, daß sie die Hände dabey im Spiele gehabt hatte. So war also Julie zum vereinten Opfer des Ehrgeizes und sträflicher Liebe bestimmt! – – Juliens Fassung ging mit dem Tage zu Ende, dessen Stunden schwerfällig dahin geschlichen waren. So wie die Nacht anbrach, stieg ihre Angst über den Erfolg von Ferdinands Unterhandlung mit Robert auf einen peinlichen Grad. Ein Getümmel neuer Bewegungen drängte sich an ihr Herz und drückte ihre Lebensgeister nieder. Als sie Emilien gute Nacht wünschte, schien es ihr, als ob sie zum letzten Mahle sie sähe. Der Gedanke an die Entfernung, welche bald sie trennen würde, an die Gefahren, denen sie vielleicht entgegen ging, drang mit einem Heer wilder, furchtvoller Vorgefühle an ihre Seele. Thränen traten in ihre Augen, und es ward ihr schwer, ihre Bewegung nicht zu verrathen. Auch von ihrer mütterlichen Freundinn nahm ihr Herz ein zärtliches Lebewohl. Endlich hörte sie den Marquis in sein Zimmer gehen, und die Thüren von den Zimmern der Gäste eine nach der andern zu machen. Mit zitternder Aufmerksamkeit horchte sie auf den allmählichen Übergang vom Getümmel zur Ruhe, bis endlich alles stille war. – Sie hielt sich nun bereit fortzugehen, so bald Ferdinand und Hippolytus, auf deren Schritte im Gange sie ängstlich horchte, erscheinen würden, Die Schloßglocke schlug zwölf. Der Klang schien den Pfeiler zu erschüttern – Julie fühlte ihn auf ihrem Herzen nachbeben. – »Zum letzten Mahle höre ich dich!« seufzte sie. – Stille des Todes folgte. Sie horchte weiter; kein Schall traf ihr Ohr. Lange saß sie in einem Zustande angstvoller Erwartung, den keine Sprache beschreiben kann. Die Glocke schlug nach einander die einzelnen Viertel, und ihre Furcht stieg mit jedem neuen Schalle. Endlich hörte sie Eins schlagen. Dumpf hallte der Klang, und furchtbar für ihre Hoffnungen; kein Hippolytus, kein Ferdinand erschien. Furcht und getäuschte Hoffnung rissen sie nieder. Ihre Seele, welche Erwartung zwey Stunden lang in Spannung erhielt, gab sich jetzt der Verzweiflung hin. Leise öffnete sie die Thür ihres Cabinetts, sah hinaus auf den Gang – alles war einsam und stille. Es war nun gewiß, daß Robert sich geweigert hatte, ihnen behülflich zu seyn, und wahrscheinlich, daß er sie dem Marquis verrieth. Überwältigt von bittern Gefühlen, warf sie sich im ersten Wahnsinne der Verzweiflung aufs Sopha hin. Plötzlich glaubte sie ein Geräusch in der Gallerie zu hören, und als sie aufsprang, um näher zu lauschen, öffnete Ferdinand leise die Thür ihres Cabinetts. »Komm, meine Liebe!« sagte er; »die Schlüssel sind unser, und wie haben nicht einen Augenblick zu verlieren: unser Zögern war unvermeidlich; allein jetzt ist keine Zeit zu Erläuterungen.« Julie, halb betäubt, gab Ferdinanden ihre Hand, und Hippolytus, den sie kaum anzublicken wagte, folgte ihr nach. Sie kamen vor Madame's Zimmer vorbey, gingen mit leisem Schritte furchtsam und schweigend durch die Gallerie, und stiegen in die Halle hinab. Quer durch führte eine Thür durch verschiedene Wege zu einem entlegenen Theile des Schlosses, aus welchem eine geheime Thür auf die Mauern ging. Ferdinand führte alle Schlüssel bey sich. Sie riegelten die Hallenthür hinter sich zu, und gingen durch einen schmalen Gang, der auf eine Treppe stieß. – Sie stiegen herab, und kaum waren sie unten, als sie ein lautes Lärmen oben vor der Hallenthür, und gleich darauf viele Stimmen hörten. Julie fühlte kaum mehr, wo sie hintrat, und Ferdinand flog, eine Thür aufzuschließen, die ihnen den Weg versperrte. Er versuchte alle Schlüssel, und fand endlich den rechten; allein das Schloß war verrostet und wollte sich nicht umdrehen lassen. Ihre Angst war unbeschreiblich. Das Lärmen oben ward immer ärger, und es schien, als wenn die Leute die Thür sprengten. Hippolytus und Ferdinand versuchten umsonst, den Schlüssel umzudrehen. Ein plötzliche Krachen von oben überzeugte sie, daß die Thür nachgegeben hätte; voll Verzweiflung machten sie noch einen Versuch, und der Schlüssel brach im Schlosse ab.

Zitternd und erschöpft gab Julie sich für verloren. Sie hing sich an Ferdinanden; umsonst versuchte Hippolytus sie zu trösten – plötzlich hörte das Geräusch auf. Sie horchten und fürchteten, es erneut zu hören; allein zu ihrem äußersten Erstaunen blieb alles stille.

Sie hatten nun Zeit zu athmen und zu überlegen, wie sie ihre Flucht bewirken könnten; denn vom Marquis durften sie keine Barmherzigkeit erwarten. Hippolytus, der sich überzeugen wollte, ob die Leute wirklich die Thür oben verlassen hatten, war im Begriffe, die Treppe hinauf zu gehen; aber kaum hatte er die ersten Stufen betreten, als das Geräusch mit erneuter Heftigkeit ausbrach. Er zog sich schnell zurück, stieß mit aller Gewalt der Verzweiflung an die Thür unten, die ihnen den Weg versperrte; sie schien zu weichen, und auf einem zweyten Stoß von Ferdinand sprang sie auf. Sie hatten keinen Augenblick zu verlieren, denn sie hörten jetzt die Treppe herab kommen. Der Vorsaal, worin sie waren, ging in eine Art von Zimmer, aus welchem drey Wege liefen, wovon sie augenblicklich den ersten wählten. Eine neue Thür versperrte ihnen jetzt den Weg, und sie mußten stille stehen, während Ferdinand die Schlüssel versuchte.

»Um Gotteswillen! mach fort!« schrie Julie – »oder wir sind verloren! – O wenn dieß Schloß auch verrostet ist! – »Stille!« sagte Ferdinand. – Sie entdeckten nun, was Furcht sie zuvor nicht hatte wahrnehmen lassen, daß keine Schritte sie mehr zu verfolgen schienen, und daß alles wiederum stille war. Da nur ein Irrthum ihrer Verfolger, die ohne Zweifel den unrechten Weg genommen hatten, hieran Schuld seyn konnte, beschlossen sie, sich diesen Vortheil zu erhalten, und Ferdinand versteckte das Licht unter seinen Mantel. Die Thür ging auf; sie drangen durch, verwickelten sich aber in den Irrgängen des Orts, und wanderten vergebens umher, einen Ausweg zu finden. Oft standen sie stille um zu lauschen, und oft ließ die Fantasie sie Töne des Schreckens hören. Endlich kamen sie in den Gang, der, wie Ferdinand wußte, gerade zu einer Thür führte, die in den Wald ging. Frohlockend hatten sie bald die Stelle erreicht, welche ihnen Freyheit zusichern sollte. – Ferdinand drehte den Schlüssel um; die Thür that sich auf, und zu ihrer unaussprechlichen Freude sahen sie die graue Dämmerung. – »Jetzt, meine Julie, sind Sie sicher,« rief Hippolytus – »und ich glücklich!« –.–»Halt Niederträchtiger!– erst empfange den Lohn deiner Verrätherey!« – rief eine Stimme von außen; in eben dem Augenblicke fühlte Hippolytus ein Schwert in seinem Körper; er stieß einen Seufzer aus, und fiel zu Boden. – Julie schrie laut, und sank in Ohnmacht. Ferdinand zog seinen Degen, ging auf den Mörder los, dessen Gesicht jetzt der Schein der Laterne erhellte, und sah in ihm seinen Vater. – Der Degen fiel ihm aus der Hand, und mit schauderndem Entsetzen starrte er zurück. Augenblicklich umringten ihn des Marquis Leute, und ergriffen ihn, während der Marquis selbst Rache über sein Haupt ausrief, und ihn in den Schloßkerker zu werfen befahl. Die Bedienten des Grafen, die am Seeufer auf ihn gewartet hatten, hörten den Tumult, eilten herbey und sahen ihren geliebten Herrn verwundet und in seinem Blute sich wälzend. Unter lautem Jammergeschrey brachten sie ihn an Bord des Schiffs, das für ihn und Julien bereit stand, und segelten unverzüglich nach Italien auf. –

Als Julie ihre Sinne wieder erhielt, fand sie sich in einem kleinen Zimmer, dessen sie sich nicht erinnerte, und ihr Mädchen über ihr weinend. Die zurück kehrende Erinnerung brachte ihrer Seele ein Gewicht von Kummer mit, welches alle vorigen Begriffe von Leiden überstieg; und doch wurde ihr Elend durch die Nachricht, welche sie erhielt, noch erhöht. Sie hörte, daß Hippolytus leblos von seinen Leuten fortgetragen, daß Ferdinand auf Befehl des Marquis in einen Kerker gesperrt und sie selbst in einem abgelegnen Zimmer Gefangene war, aus welchem sie übermorgen in die Schloßkapelle geschleppt, und da dem Ehrgeize ihres Vaters und der abgeschmackten Liebe des Herzogs von Luovo aufgeopfert werden sollte. – Diese Zusammenhäufung von Leiden überwältigte jede Kraft in ihr, und stürzte sie in einen Zustand, der vom Wahnsinne nicht weit entfernt war. Niemand, außer ihrem Mädchen und dem Bedienten, der ihr Essen brachte, durfte sich ihr nähern. Emilie, die, obgleich durch Juliens anscheinenden Mangel von Vertrauen gekränkt, doch innig an ihrem Kummer Theil nahm, flehte, sie zu sehen; allein ihre Bitte wurde mit solcher Härte verweigert, daß sie es nicht wagte, sie zu wiederhohlen.

Ferdinand, in die Finsterniß eines Kerkers gehüllt, war allen schmerzhaften Erinnerungen des Vergangenen und der schrecklichen Vorahndung des zukünftigen Preis gegeben. Er hatte von dem Zorne des Marquis, dessen Leidenschaften alle wild und schrecklich waren, und der in seinem Gebiethe unumschränkt über Leben und Tod geboth, alles zu fürchten. Doch machte selbstsüchtige Besorgniß bald einem edleren Kummer Platz. Er klagte über Hippolytus Schicksal und Juliens Leiden. Er konnte die Vereitelung ihres Plans bloß Roberts Verrätherey zuschreiben, ob er gleich Ferdinands Wünschen dem Scheine nach mit großer Aufrichtigkeit und edelmüthiger Theilnahme an Juliens Schicksale entgegen gekommen war. An der zur Flucht bestimmten Nacht hatte er Ferdinanden die Schlüssel eingehändigt, und dieser eilte sogleich damit in Hippolytus Zimmer. Ein leises Geräusch, das von Zeit zu Zeit erneuet wurde, und sie überzeugte, daß jemand im Hause noch auf seyn müßte, hielt sie bis ein Uhr in demselben zurück. Dieses Geräusch entstand ohne Zweifel von den Leuten, die der Marquis auf die Wache gestellt hatte, und deren Wachsamkeit zu treu war, um die Flüchtlinge entwischen zu lassen. Da Robert die Schlüssel zur großen Thür und zu den Vorhöfen behalten hatte, war der Marquis des Orts, aus welchem sie zu entwischen dachten, gewiß, und war folglich im Stande, ihre Hoffnungen in eben dem Augenblicke, wo sie sich des Siegs freuten, zu vereiteln. Als die Marquise Hippolytus Schicksal erfuhr, machte die Rache eifersüchtiger Liebe den Regungen des Mitleids Platz. Ihre Rache war nun befriedigt, und sie konnte jetzt nur das unglückliche Schicksal eines Jünglings beklagen, dessen persönliche Reize sie eben so tief gerührt, als seine Tugend ihre Hoffnung vereitelt hatten. Immer ihrer Leidenschaft treu, und der Vernunft verschlossen, schüttete sie über die vertheidigungslose Julie alle Wuth aus, womit sie ein Unglück empfand, von dem jene die unschuldige Ursache war. Durch schlauen Gebrauch ihrer Macht hatte sie auf die Leidenschaften des Marquis so zu wirken gewußt, daß sie ihn rastlos im Verfolgen ehrgeiziger Zwecke, und unersättlich in der Rache seiner vereitelten Erwartung gemacht hatte. Allein die Wirkung ihrer Kunstgriffe überschritt ihre Absicht, und indem sie nur eine Nebenbuhlerinn ihrer Liebe aufopfern wollte, gab sie den Gegenstand selbst der Rache Preis.


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