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Viertes Kapitel.

»We
Would learn the private virtues, how to glide
Through shades and plains, along the smoothest stream
Of rural life; or, snatch'd away by hope,
Throug the dim spaces of futurity,
With earnest eye anticipate those scenes
Of happiness and wonder, where the mind,
In endless growth and infinite ascent
Rises from state to state and world to world.« James Thomson, The Seasons (1730). V. 600-609.

Alsdann wollten wir gern, selbst über den Ehrgeiz erhaben,
Eingeschränktere Tugenden lernen; wie man in Schatten,
Und in Ebnen, den sanftesten Strom des ländlichen Lebens
Still hinglitsche; sofern uns die Hoffnung mit sich hinwegreißt,
Durch die dunklen Räume der Zukunft, wie man sich betrage,
Um mit dem Auge des Ernstes die Scenen zum voraus zu haschen,
Wo sich Wunder und Seligkeit finden, und wo man im Geiste
In dem endlosen Wachstum, und im unendlichen Steigen,
Sich von Stande zu Stand erhebt, von Welten zu Welten.
(Die Jahreszeit des Jakob Thomson. Englisch und Deutsch. Basel, bey Johannes Schweighauser. 1768. S. 317, 319. – D.Hg.)

Thomson.

Schedonis Befehle gehorsam, begab sich Ellena den Tag nach ihrer Ankunft in ihrer Heimath nach der Santa della Pieta. Die Priorin, die sie von Kindheit auf gekannt hatte, und nach der Kenntniß, welche eine so lange Beobachtung ihr verschaffte, sie schätzte. und liebte, nahm Ellenen mit einem Grade von Freude auf, der der Bekümmerniß angemessen war, welche ihr die Nachricht von ihrer unglücklichen Entführung aus der Villa Altieri verursacht hatte.

Doch bemühte sich Ellena vergebens unter den ruhigen Schatten dieses Klosters ihre Bekümmerniß über Vivaldis Lage zu mildern: jetzt, da sie eine kurze Frist von der unmittelbaren Widerwärtigkeit genoß, dachte sie mit verdoppelter innerer Angst an sein Leiden, und ihre Angst und Ungeduld nahm zu, so wie jeder Tag sie in ihren Hoffnungen auf Nachricht von Schedoni betrog.

Wenn die Tröstungen der Sympathie und die zarten Künste des Wohlwollens die Heiterkeit ihrer Seele wieder herzustellen vermocht hätten, so würde Ellena jetzt ruhig gewesen seyn, denn alles dieses wurde ihr von der Aebtissin und den Schwestern in Santa della Pieta dargebothen. Sie waren mit der Ursache ihres Kummers nicht bekannt; allein sie merkten, daß sie unglücklich war, und wünschten sie anders zu sehn. Die Gesellschaft von Unsrer Dame des Mitleids war so, wie man sie nicht oft in einem Kloster findet. Die Schwesterschaft verdankte vorzüglich der Weisheit und Tugend der Priorin die Eintracht und Glückseligkeit, welche sie auszeichnete. Diese Dame war ein glänzendes Beispiel für Aufseherinnen von religiösen Häusern, und ein auffallender Beweis von dem Einfluß sowohl, den ein tugendhaftes Gemüth sich über Andre verschaffen, als auch von dem ausgebreiteten Nutzen, den er um sich her stiften kann. Sie besaß Würde ohne Hochmuth, Frömmigkeit ohne Bigotterie, und Sanftmuth bei vieler Entschlossenheit und festem Sinn. Sie hatte Scharfsinn genug, um zu entdecken, was Recht war, Entschlossenheit dabei zu beharren, und Herzensgüte, um es mit Milde und Gefälligkeit auszuüben, so daß selbst eine Strafe von ihr die einnehmende Gestalt der Höflichkeit hatte; die Person, welche sie bestrafte, beweinte trauernd ihr Vergehn, statt insgeheim durch den Vorwurf aufgebracht zu werden, und liebte sie vielmehr als Mutter, statt sie als Richterin zu fürchten. Wenn sie auch Fehler hatte, so waren sie doch unter dem allgemeinen Wohlwollen ihres Herzens und der Ruhe ihrer Seele verborgen: eine Ruhe, die nicht Wirkung stumpfer Gefühle, sondern die Vollendung innern Bestrebens und wachsamen Urtheils war. Ihre Religion war weder finster noch abergläubisch: sie war die Empfindung eines dankbaren Herzens, das sich einer Gottheit zum Opfer brachte, die sich der Glückseligkeit ihrer Geschöpfe erfreut, und sie fügte sich nach den Gebräuchen der römischen Kirche, ohne anzunehmen, daß ein Glaube an alle dieselben zum Seelenheil nothwendig sey. Doch mußte sie diese Meinung verheelen, damit nicht ihre Tugend selbst ihr die Strafen eines Verbrechens von einigen strengen Geistlichen zuzöge, die in ihrem Wandel den wesentlichen Grundsätzen widersprachen, welche das Christenthum, das sie bekennen, sie gelehrt haben sollte.

In den Vorlesungen, dies sie den Nonnen hielt, berührte sie selten Punkte des Glaubens, sondern erläuterte und schärfte ihnen moralische Pflichten ein, vorzüglich solche, die am meisten in der Gesellschaft, wozu sie gehörte, ausführbar waren; solche zum Beispiel, die darauf abzweckten, Harmonie und Milde in die Neigungen zu bringen, und die Ruhe der Seele mitzutheilen, welche zur Ausübung schwesterlicher Güte, allgemeiner Menschenliebe und der reinsten und erhabensten Gottesverehrung führt. Wenn sie von Religion sprach, so erschien sie so anziehend, so schön, daß ihre aufmerksamen Zuhörerinnen sie als Freundin, als Veredlerin des Herzens, als erhabne Trösterin liebten und einen Vorschmack des sanften und heiligen Feuers empfanden, das Engelsnaturen durchglüht.

Die Gesellschaft glich mehr einer großen Familie, deren Mutter die Lady Aebtissin war, als einer Versammlung von Fremden, vorzüglich, wenn sie, um sie her vereinigt, dem Abendsermon zuhörten, den sie mit so zärtlichem Antheil, so hinreißender Beredsamkeit und oft mit so rührendem Nachdrucke vortrug, daß nur wenige Herzen ihr widerstehen konnten.

Sie ermunterte in ihrem Kloster jede unschuldige und nützliche Beschäftigung, welche die Härte der Gefangenschaft versüßen konnte, und die meistens zu mildthätigen Zwecken angewandt wurde. Die Töchter der Barmherzigkeit hatten es vorzüglich in der Musik sehr weit gebracht; nicht in den Schwierigkeiten der Kunst, wobei man das Spiel der Grazien und künstliche Ausführung zur Schau legt, sondern in der Beredsamkeit des Tons, der sich ins Herz schleicht, und seine süßesten und besten Neigungen erwecket. Wahrscheinlich war es die wohlgeordnete Fühlbarkeit ihrer eignen Seelen, welche diese Schwestern in Stand setzte, ihren Melodien den Stempel eines so verfeinerten Geschmacks aufzudrücken, daß bei jeder Festlichkeit eine Menge von Besuchen nach der Kirche Santa della Pieta hingezogen wurden.

Die örtliche Lage dieses Klosters war eben so angenehm, als die Eintracht der Gesellschaft interessant war. Diese weiten Besitzungen umschlossen Oliven-Thäler, Weinberge und einige Kornfelder: ein großer Strich Landes war dem Vergnügen des Gartens gewidmet, dessen Wäldchen Wallnüsse, Mandeln, Orangen, Citronen, und beinahe alle Arten von Früchten und Blumen, welche dieses üppige Klima erzeugt, in Ueberfluß lieferten. Diese Gärten hiengen am Abhange eines Hügels, ohngefähr eine Meile weit innerhalb des Ufers, und gewährten eine weite Aussicht auf das Land, rings um Neapel und auf den Meerbusen. Allein von den Terrassen, die sich längs einem Halbzirkel von Felsen hinzogen, der hinter dem Kloster aufstieg, und einen Theil der Besitzung ausmachte, war die Aussicht noch unendlich viel schöner. Diese Berge erstreckten sich bis zum Süden der Insel Caprara, wo der Meerbusen sich in die See ausgießt; im Westen erschien die Insel Ischia, die sich durch die weißen Zinnen des hohen Berges Epomeo unterschied, und neben ihr stieg Prozida mit seinen vielfärbigten Klippen aus den Wellen empor. Noch manche Bergspitzen gegen Pozzuoli überschauend, haschte das Auge hinter andern und noch andern Vorgebürgen nach Norden hin, einen Schimmer von der See, welche die jetzt verödeten Ufer von Baja bespült, mit Kapua und alle den Städten und Villas, welche die Garten-Thäler zwischen Caserta und Neapel besprenkeln.

In der nähern Gegend waren die felsigten Anhöhen von Pausilippo und Neapel selbst, mit allen seinen gedrängten Vorstädten, die zwischen den Hügeln empor stiegen, und sich mit Weinbergen und überragenden Cypressen mischten: das Schloß San Elmo, auf seinem Felsen hervorragend, überhieng das prächtige Karthäuser-Kloster, während unten in der Tiefe das Castel Nuovo mit seinen dichten Thürmen, der lang ausgedehnte Corso, der Meerbusen mit seinen langen Leuchtthürmen, und der fröhliche Hafen mit gemahlten Schiffen und bis an den Rand vom blauen Wasser der Bay gefüllt, erschien. Hinter den Hügeln von Neapel war der ganze Horizont nach Norden und Osten von den Appenninen begränzt; ein Amphitheater, das der Größe der Fläche, welche der Meerbusen unten ausbreitete, angemessen war.

Diese, von Acacien und Platanus beschatteten Terrassen waren Ellenas Lieblingsaufenthalt. Zwischen den sich öffnenden Zweigen hin, blickte sie auf die Villa Altieri herab, welche die zärtliche Bianchi mit allen fröhlichen Jahren der Kindheit vor ihre Erinnerung brachte, und wo sie einige ihrer glücklichsten Stunden in Vivaldis Gesellschaft genossen hatte. Auch konnte sie längs den Krümmungen der Küste manches von der Liebe geheiligte Plätzchen unterscheiden, wohin sie mit ihrer beweinten Verwandtin und mit Vivaldi kleine Wallfahrten machte – und wenn gleich Traurigkeit sich in die Erinnerungen mischte, die dieser Anblick hervorlockte, so waren sie doch ihrem Herzen theuer. Allein und unbemerkt hieng sie hier oftmals der Schwermuth nach, die sie in Gesellschaft zu unterdrücken sich bemühte; zu andrer Zeit suchte sie mit Büchern und ihrem Pinsel die zögernden Augenblicke der Ungewißheit über Vivaldis Schicksal zu beschleichen »tried to deceive … the lingering moments of uncertainty«: ›versuchte sie sich … über die verbleibende Ungewissheit … hinwegzutäuschen‹. – D.Hg.; denn ein Tag nach dem andern verstrich, ohne ihr Nachricht von Schedoni zu bringen. So oft die Scenen, die mit der Entdeckung ihrer Herkunft verbunden waren, Ellenen einfielen, war es ihr, als staunte sie eine Erscheinung an, und nicht als riefe sie sich wirkliche Begebenheiten zurück. In Abstand mit der nüchternen Wahrheit ihres gegenwärtigen Lebens, schien ihr das Vergangne wie ein Roman, und es gab Augenblicke, wo sie mit einem unbezwingbaren Schrecken vor der Verwandtschaft mit Schedoni zurückschauderte. Die ersten Bewegungen, die sein Anblick in ihr erregt hatte, waren so verschieden von den Empfindungen kindlicher Zärtlichkeit, daß sie fühlte, es sey ihr auch jetzt beinahe unmöglich, ihn als ihren Vater zu lieben und zu verehren, und sie bestrebte sich bei alle den Verpflichtungen, die sie ihm ihrer Meinung nach schuldig war, zu verweilen, um ihm an Dankbarkeit abzutragen, was sie an Liebe ihm nicht zu geben vermochte.

In solchen schwermüthigen Betrachtungen verweilte sie oft unter dem Schatten der Acacienbäume, bis die Sonne hinter das weit entfernte Vorgebürge Miseno gesunken war, und die letzte Vesperglocke sie ins Kloster herab rief.

Ellena hatte mehrere Lieblinge unter den Nonnen, aber keine, die sie in dem Grade schätzte und liebte, als Olivien von San Stefano; die Erinnerung an diese Freundin war immer mit einer Besorgniß, daß ihr großmüthiges Mitleiden ihr Unannehmlichkeiten zugezogen haben könnte, und mit dem Wunsche verbunden, daß sie ihren Aufenthalt bei der glücklichen Gesellschaft der Töchter des Mitleids haben möchte, statt der Tyranney der Aebtissin von San Stefano unterworfen zu seyn. Die prachtvollen Scenen der Santa della Pieta schienen Ellenen eine sichre und vielleicht eine letzte Zuflucht zu gewähren, denn in ihren gegenwärtigen Umständen konnte sie nicht umhin zu bemerken, welche drohende und mannigfaltige Einwendungen ihrer Verbindung mit Vivaldi im Wege standen, selbst auch wenn Schedoni sich geneigt dazu zeigte. Der Charakter der Marquise di Vivaldi, so wie er durch die letzten Umstände entfaltet vor ihr stand, erfüllte sie mit Schrecken, denn ihre Absichten erschienen barbarisch genug, sie mochten sich bis zur äußersten Gränze von Ellenens Im Original: »Ellena's«. - In der Vorlage: »Ellena«. - Genitivform an den Sprachgebrauch der Vorlage angepasst. – D.Hg. Verdacht erstrecken, oder da still gestanden seyn, wo Schedonis erkünsteltes Mitleid es ihr glauben machte. In jedem Falle war ihre hartnäckige Abneigung und die rachsüchtige Heftigkeit ihrer Natur sichtbar.

Doch machten bei dieser Ansicht ihres Charakters nicht sowohl die Unannehmlichkeiten, welche denjenigen drohten, die in nahe Verbindung mit ihr treten würden, vorzüglichen Eindruck auf Ellena, als der Umstand, daß eine solche Frau Vivaldis Mutter sey; um eine so niederschlagende Betrachtung zu mildern, suchte sie sich zum Glauben an alle die Beschönigungen zu bringen, womit Schedoni die Absichten der Marquise zu entschuldigen gesucht hatte. Wenn es aber Ellenen schmerzte, in Vivaldis Mutter ein Verbrechen zu entdecken, was würde sie dann gelitten haben, hätte sie die Natur von Schedonis Vergehungen geargwöhnt! Hätte sie gewußt, daß er der Marquise ihre Pläne eingab, – hätte sie gewußt, daß er der Theilnehmer ihres beabsichtigten Verbrechens war! Ein solches Leiden wurde ihr für jetzt noch erspart, so wie auch die Kenntniß von Vivaldis gegenwärtiger Lage und von dem Ausgange, den Schedonis Bemühungen, ihn aus den Gefahren zu erretten, worein er ihn gestürzt hatte, ihr verursacht haben würden.

Hätte sie dies gewußt, so würde sie wahrscheinlich in der ersten Niedergeschlagenheit ihres Gemüths die sogenannte Welt verlassen und eire dauernde Zuflucht in der Gesellschaft der heiligen Schwestern gesucht haben. Selbst jetzt suchte sie zuweilen ihren Blick mit Ergebung auf die Ereignisse hinzuleiten, die einen solchen Schritt wünschenswerth machen könnten; allein dazu gehörte eine Anstrengung, die ihr selten nur auf Augenblicke selbst einen täuschenden Trost gewährte. Sollte indessen der Schleier ihre letzte Zuflucht seyn, so war er es wenigstens durch ihre eigne Wahl; denn die Aebtissin der Santa della Pieta wendete keine Kunstgriffe an, eine von der Welt Abgeschiedne zu gewinnen, und gab eben so wenig zu, daß die Nonnen Geweihte für ihren Orden verführten.



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