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Mark where you ruin frowns upon the steep,
The giant-spectre of departed power!
Within those shadowy walls and silent chambers
Have halked the crimes of days long past!
Seht, wo jene Ruine vom den Steilhang herabstarrt, das riesige Gespenst verschwundner Macht! In diesen schattigen Mauern und stillen Kammern haben die Verbrechen längst vergangner Tage gehaust! –
D.Hg.
Schedoni war heute gesprächiger als den Tat zuvor. Während sie in einiger Entfernung von dem Wegweiser ritten, sprach er mit Ellenen über verschiedne Gegenstände, die sie betrafen, ohne aber Vivaldis nur mit einem Worte zu erwähnen; ja er ließ sich sogar herab, ihr seine Absicht mitzutheilen, sie in ein Kloster unfern Neapel zu bringen, bis es die Umstände erlaubten, sie für seine Tochter zu erklären. Allein es setzte ihn in Verlegenheit, wie er eine schickliche Lage für sie finden, und unter welcher Gestalt er sie Fremden vorstellen sollte, deren Neugierde durch eigennützige Rücksichten noch mehr erhöht werden würde.
Diese Umstände verschafften Ellenas Klagen, als sie verstand, daß sie aufs neue fern von ihrer Heimath unter Fremde gebracht werden sollte, leichtern Eingang bei ihm, und er hörte ihre Nachrichten von dem Kloster Santa Maria della Pieta und ihre Bitte, wieder dahin zurückzukehren, willfähriger an. Allein wie sehr er auch geneigt seyn mogte, diesen Plan zu billigen, hörte er ihn doch an, ohne sich darüber zu erklären, und Ellena hatte blos den Trost, zu sehen, daß er nicht durchaus entschlossen war, seinen ersten Plan durchzusetzen.
Ihre Gedanken waren zu sehr mit ihren künftigen Aussichten beschäftigt, um ihr Muße zu lassen, die Gegenwart zu fürchten, sonst würde sie wahrscheinlich in den einsamen Ebnen und unangebauten Thälern, durch welche ihr Weg sie führte, einen Rückfall ihrer gestrigen Furcht empfunden haben. Schedoni wußte es dem Wirthe Dank, daß er ihm gerathen hatte, den Führer zu behalten, da der Weg sehr häufig durch das wilde Gesträuch, das sich rings um erstreckte, ganz verdunkelt ward, und das Auge oft über lange Striche Landes hin schweifte, ohne ein Dorf oder eine menschliche Wohnung gewahr zu werden. Den ganzen Vormittag hatten sie keinen Reisenden angetroffen, und sezten ihren Weg unter der drückenden Mittagshitze fort, weil Schedoni nicht einmal eine Hütte entdecken konnte, wo sie Schutz und Ruhe erwarten durften.
Es war schon spät, als der Führer ihnen die grauen Mauern eines Gebäudes zeigte welches den Hügel krönte, dem sie sich näherten. Allein es lag so dick von Waldung umgeben, daß sie es nicht deutlich erkennen konnten, und erregte nur eine schwache Hoffnung, sich einem Kloster zu nähern, wo sie eine gastfreie Aufnahme finden würden.
Die hohen mit Gesträuch überwachsenen Ufer, zwischen welchen der Weg herab lief, schlossen bald jeden Schimmer der Mauern aus; als sie aber um den nächsten Hügel kamen, sahen sie eine Person quer über den Weg gehen, als eilte sie einem Wohnorte zu, und schlossen daraus, daß das Gebäude, welches sie gesehen hätten, hinter den Bäumen läge, zwischen denen es verschwunden war.
Nach wenig Augenblicken erreichten sie die Stelle, wo sie in kleiner Entfernung zwischen den Wäldern, die den Hügel einfaßten, die weitläuftigen Rudera »remains«: ›Überreste‹. - Bis ins 19. Jh. war ›Rudera‹ (der Plural des lateinischen rudus) als Bezeichnung für zerbröckeltes Gestein, Geröll, Schutt und Ruinen noch geläufig. – D.Hg. eines Gebäudes entdeckten, das eine Villa gewesen zu seyn schien, und das Schedoni nach seinem wüsten Ansehn für gänzlich verlassen gehalten haben würde, hätte er nicht vorhin eine Person hinein gehen sehen. Müde und erschöpft beschloß er, sich zu vergewissern, ob man einige Erfrischungen bei den Einwohnern finden könnte, und sie stiegen vor dem Portal eines tiefen und breiten Schwibbogen-Ganges ab, welches der große Eingang zur Villa gewesen zu seyn schien.
Der Eintritt wurde durch heruntergefallne Stücke von Säulen und durch das kleine Gesträuch, das zwischen ihnen Wurzel gefaßt hatte, gehemmt. Doch überwanden sie diese Schwierigkeiten leicht; da aber der gewölbte Gang sehr tief war, und sein einziges Licht von dem Portal erhielt, ausgenommen das, welches einige schmale Oeffnungen in der Mauer zuließen, so fanden sie sich bald in eine Dunkelheit gehüllt, die den Weg erschwerte, und Schedoni suchte sich der Person, die er gesehen hatte, hörbar zu machen. Es gelang ihm nicht; so wie sie aber weiter kamen, ließ eine Spalte in dem Gange sie ein Licht in der Ferne schimmern sehen, das zu dem Eingang gegenüber zu führen schien, wo ein Schwibbogen unmittelbar an einen Hof der Villa stieß. Schedoni stand hier misvergnügt still; denn jeder Gegenstand schien nur zu deutlich Verödung und Einsamkeit anzudeuten, und er sah sich beinahe hoffnungslos rings in der hellen Säulenreihe, die über drei Seiten des Hofes hinlief, und nach den Bäumen um, die über der vierten wehten, um die Person aufzusuchen, die er vom Wege aus gesehen hatte.
Keine menschliche Gestalt schlich sich durch die Leere; doch machte Ellenas geschmeidige »apt«: ›sprungbereit‹ übersetzt hier Polakovics sehr treffend. – D.Hg. Furcht, daß sie sich beinahe einbildete, Spalatros Gestalt hinter den Säulen hingleiten zu sehen, und sie fuhr zusammen, als der Wind die wilden Gesträuche, die sie umwanden, schüttelte, ehe sie entdeckte, daß es nicht das Geräusch von Fußtritten war. Doch erröthete sie über ihre schwache Aengstlichkeit und suchte der Furchtsamkeit zu widerstehen, welche so lange gedrückte Nerven in ihrem Gemüth hervorgebracht hatten.
Schedoni stand indessen, gleich dem bösen Geiste des Ortes, im Hofe, durchspähte alle öden Winkel und suchte sich zu vergewissern, ob Niemand im Innern des Gebäudes lauschte. Verschiedne Thüren im Säulengange schienen in Zimmer zu führen. Schedoni, entschlossen seine Untersuchung fortzusetzen, trat hinein und kam durch einen Marmorsaal in eine Reihe von Zimmern, deren Zustand ihm sagte, wie lange sie unbewohnt gewesen waren. Die Decken waren gänzlich verschwunden und selbst Stücke von den Mauern waren herunter gefallen und lagen in Schutthaufen unter dem Strauchwerk außen herum.
Der Beichtvater sah, daß es eben so unnütz als beschwerlich war, weiter zu gehen, und kehrte in den Hof zurück, wo der Schatten der Palmbäume wenigstens den müden Reisenden eine gastfreie Zuflucht gewährte. Sie ruhten unter den Zweigen auf einigen Ueberresten eines marmornen Brunnens, von wo aus der Hof sich in eine weite, von den Abendstrahlen vergüldete Aussicht öffnete, und nahmen eine kleine Mahlzeit zu sich, die im Schnappsack des Führers für sie aufbehalten war.
»Dieser Ort scheint mehr durch ein Erdbeben, als durch die Zeit gelitten zu haben,« sagte Schedoni, »denn die Mauern kommen mir mehr erschüttert, als verfallen vor, und manche feste Stellen liegen in Trümmern, da schwächere noch unbeschädigt stehen: dies sind unfehlbar Zeichen von stellenweisen Erdstößen. Wißt Ihr etwas von der Geschichte dieses Ortes, Freund?«
»Ja Signor,« erwiederte der Wegweiser.
»So laßt doch hören.«
»Ich werde nie das Erdbeben vergessen, das diesen Ort zerstörte, Signor, denn man fühlte es durch den ganzen Garganus. Ich war damals ohngefähr sechszehn Jahr alt, und erinnere mich, daß man ohngefähr eine Stunde vor Mitternacht den großen Stoß fühlte. Das Wetter war einige Tage zum Ersticken heiß gewesen, kaum ein Lüftchen rührte sich, und mehrere Personen hatten leichte Erschütterungen des Erdbodens gefühlt. Ich hatte den ganzen Tag mit meinem Vater Holz im Walde gefällt, und wir waren müde genug, als –«
»Ihr erzählt uns eure eigne Geschichte,« unterbrach ihn Schedoni – »wem gehörte dieser Ort?«
»Hat Jemand hier gelitten? sagte Ellena –
»Der Baron von Cambrusca lebte hier,« erwiederte der Führer.
»Ja! der Baron!« wiederholte Schedoni, »und versank in einen seiner gewöhnlichen Anfälle von Geistesabwesenheit.«
»Dieser Herr hatte wenig Liebe im Lande,« erwiederte der Führer, »und einige Leute sagten, es wäre eine Strafe des Himmels für seine –«
»War es nicht vielmehr eine Strafe für das Land,« unterbrach ihn der Beichtvater, blickte auf, und versank wieder in ein Stillschweigen.
»Das weiß ich nicht, Signor, allein er hatte solche Verbrechen begangen, daß das Haar sich empor sträuben würde. – Hier war es, wo –«
»Thoren verwundern sich immer über die Handlungen Höherer,« antwortete Schedoni mürrisch, – »wo ist der Baron jetzt?«
»Ich kann es nicht sagen, Signor, aber wahrscheinlich, wo er zu seyn verdient; denn man hat seit der Nacht des Erdbebens nichts von ihm gehört, und glaubt, er wäre unter den Ruinen begraben.«
»Litte noch sonst Jemand hier?« wiederholte Ellena.
»Sie sollen es sogleich hören, Signora,« erwiederte der Bauer: »ich bin zufälligerweise mit der Sache bekennt, weil ein Vetter von uns damals im Hause diente, und mein Vater hat mir oft davon sowohl als von des verstorbenen Herrn Tode erzählt. Es war nahe um Mitternacht, als der große Stoß kam, und die Familie, die an nichts dachte, hatte zu Abend gegessen und schlief schon eine Weile. Nun traf sichs, daß des Barons Zimmer in einem Thurm im alten Gebäude war, worüber die Leute sich so oft wunderten; denn, sagten sie, warum will er in dem alten Gemäuer schlafen, da so viele schöne Zimmer in der neuen Villa sind? – allein es war nun einmal so.«
»Kommt, endigt eure Mahlzeit,« sagte Schedoni, der aus seinem tiefen Nachdenken erwachte, »die Sonne geht unter, und wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
»Mit Ihrer Erlaubniß will ich die Mahlzeit und die Geschichte zusammen endigen,« antwortete der Führer.
Schedoni achtete nicht auf seine Rede, und da der Mann kein Verboth erhielt, fuhr er in seiner Erzählung fort.
»Da sich es also traf, daß des Barons Zimmer in dem alten Thurme war, – wenn Sie dorthin zu sehen belieben, Signora, können Sie sehen, was noch davon übrig ist.«
Ellena richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Stelle, wohin der Führer deutete, und nahm die zertrümmerten Ueberreste eines Thurms wahr, der sich hinter dem Schwibbogen erhob, durch welchen sie in den Hof gekommen war.
»Sie sehen jenen Winkel eines Fenstergehäuses, der an der höchsten Seite der Mauer übrig geblieben ist, Signora,« fuhr der Führer fort – »gerade bei diesem Eschenbusche, der aus dem Steine hervorwächst.«
»Ich bemerke es,« sagte Ellena.
»Nun wohl, Signora, das war eines von den Fenstern in dem nämlichen Zimmer, und Sie sehen, daß sonst kaum noch etwas davon übrig geblieben ist – doch dort ist noch die Einfassung von der Thüre; allein die Thüre selbst ist fort: die kleine Windeltreppe, die Sie hinter derselben sehn, führt zu einer andern Geschichte, wovon sich jetzt Niemand mehr träumen lassen würde, daß sie jemals geschehen ist: denn Decke und Fußboden, alles ist eingefallen. Es wundert mich nur, daß die kleine Treppe im Winkel so fest gehalten hat!«
»Seid Ihr bald fertig?« fragte Schedoni, der, wie es schien, von allen Reden des Mannes nichts gehört hatte, und blos von seiner Mahlzeit sprach.
»Ja, Signor, ich habe nicht viel mehr zu sagen und zu essen,« antwortete der Führer, »wie Sie hören werden. Gut, dort war also das Zimmer, Signora; zu jener Thüre, deren Einfassung noch immer in der Mauer zu sehen ist, kam der Baron herein: ach ich wette, er dachte nicht daran, daß er nie wieder herausgehen sollte! Wie lange er in dem Zimmer gewesen ist, weiß ich nicht, eben so wenig, ob er schlief oder wachte, denn es ist Niemand, der das sagen kann; allein als der große Stoß kam, wurde der alte Thurm auf einmal zersplittert, ehe er einen andern Theil des Gebäudes ergriff. Sie sehen den Schutthaufen dort auf der Erde, Signora, – da liegen die Ueberreste des Zimmers – der Baron wurde, wie man sagt, darunter begraben!«
Ellena schauderte, während sie diese zerstörende Masse anstaunte. Ein tiefer Seufzer von Schedoni schreckte sie auf, und sie wandte sich zu ihm; da er aber im Nachdenken vertieft stand, richtete sie ihre Aufmerksamkeit aufs neue auf dieses schauderliche Denkmahl. Ihr Auge fiel auf den nächsten Schwibbogen, und sie staunte über die Größe seiner Verhältnisse und sein sonderbares Ansehn, da jetzt die Abendstrahlen auf die überhängenden Gesträuche fielen, und einen abgesonderten Lichtstrahl durch den Gang dahinter schossen. Allein was empfand sie, als sie in der Perspektive des Ganges eine Person hingleiten sah, und indem er quer vor der Stelle vorüberkam, wohin der Strahl fiel, Spalatros Gestalt und Gesicht erkannte. Kaum behielt sie die Kraft, mit schwacher Stimme auszurufen: »dort sind Schritte« – so war er verschwunden, und als Schedoni sich umsah, herrschte allenthalben wiederum die Leere und Stille der Einsamkeit.
Ellena nahm nun keinen Anstand mehr, ausdrücklich zu behaupten, daß sie Spalatro gesehen hätte, und Schedoni, der vollkommen einsah, daß, wenn Ihre Einbildungskraft sie nicht getäuscht hätte, er nur in sehr schlimmer Absicht ihrem Wege so nachspüren könnte, stand sogleich auf und gieng in Begleitung des Bauern in den Gang, um die Wahrheit herauszubringen, indem er Ellena im Hofe allein ließ. Kaum war er fort, als die Gefahr, sich in den dunkeln Gang zu wagen, wo ein Mörder ihn ungesehen treffen könnte, Ellenen schwer aufs Herz fiel, und sie ihn laut beschwur, zurückzukehren. Sie horchte nach seiner Stimme, hörte aber nur seine zurückweichenden Schritte, und zu ängstlich, um zu bleiben, wo sie war, eilte sie nach dem Eingange – allein alles war jetzt still – weder Stimme noch Schritte waren zu hören. Geschreckt durch die Dunkelheit des Ortes, fürchtete sie sich, weiter zu wagen, fand es aber beinahe eben so schrecklich, an irgend einer Stelle der Ruinen allein zu bleiben, so lange ein so verzweifelter Mensch als Spalatro darinnen umher hauste.
Sie lauschte noch beim Eintritt des Ganges, als ein schwacher Schrei, der aus dem Innern der Villa hervorzugehn schien, sie erreichte. Der erste schreckliche Gedanke, der Ellenen auffiel, war, daß man ihren Vater ermordete, der wahrscheinlich durch einen andern Gang in ein Zimmer der Ruinen gelockt worden sey – sie vergaß sogleich alle Besorgnisse für sich selbst und eilte nach der Stelle, aus welcher der Ton hervorgekommen zu seyn schien. Sie trat in den Saal, den Schedoni bemerkt hatte, und gieng durch eine Reihe von Zimmern hindurch; allein alles war stille und der Ort schien ganz verlassen; die Reihe Zimmer endigte in einen Gang, der nach einem fernen Theil der Villa zu führen schien, und Ellena beschloß nach einem kleinen Besinnen, ihn zu verfolgen.
Sie bahnte sich mit Schwierigkeit Ihren Weg zwischen den halb verfallnen Wänden hin, und war genöthigt, so sehr auf ihre Schritte zu achten, daß sie kaum bemerkte, wohin sie gieng, bis die zunehmende Dunkelheit ihre Aufmerksamkeit hervor rief und sie sich unter den Ruinen des Thurmes fand, dessen Geschichte ihr der Führer erzählt hatte; als sie in die Höhe sah, bemerkte sie, daß sie am Fuße der Windeltreppe war, die sich noch immer die Mauer hinauf wand, und zum Zimmer des Barons geführt hatte.
In einem weniger ängstlichen Augenblicke würde dieser Umstand sie gerührt haben; jetzt aber konnte sie nur Schedonis Namen zu rufen wiederholen, und auf ein Zeichen, daß er ihr nahe sey, horchen. Da sie noch immer keine Antwort erhielt, und keinen Laut der Bedrängniß mehr hörte, fieng sie an zu hoffen, daß ihre Furcht sie getäuscht hätte, und da sie sich vergewissert hatte, daß der Gang hier zu Ende sey, verließ sie den Ort.
Als Ellena das erste Zimmer wieder erreichte, ruhte sie einen Augenblick, um Athem zu schöpfen, und an etwas gelehnt, das vormals ein Fenster gewesen war, und in den Hof führte, hörte sie den fernen Knall eines Gewehrs. Der Ton schwoll an, und schien längs dem Gange herzukommen, durch welchen Schedoni verschwunden war. In der Voraussetzung, daß die Streitenden sich am fernsten Eingange befänden, schickte Ellena sich an, dahin zu gehn, als plötzlich ein Fußtritt sich neben ihr bewegte, und sie mit einem Schrecken, der sie beinahe des Verstandes beraubte, Spalatro selbst sich durch das Zimmer hinschleichen sah, worin sie sich befand.
Sie stand in einer kleinen Vertiefung des Zimmers, und es sey nun, daß dies ihn verhinderte, sie sogleich wahrzunehmen, oder dass es ihm, da sein Hauptaugenmerk auf einen andern Gegenstand gerichtet war, nicht gefiel, sich hier aufzuhalten, genug er gieng mit lauschenden Schritten weiter, und ehe Ellena sich entschlossen hatte, wohin sie sich begeben wollte, sah sie ihn quer über den Hof vor ihr gehen und in den Eingang treten. Als er vorüber war, sah er zum Fenster hinauf, und unfehlbar entdeckte er sie jetzt, denn er schwankte, gieng aber gleich darauf schnell fort, und verschwand in der Dunkelheit.
Es schien, daß er Schedoni noch nicht getroffen hatte; allein es fiel Ellenen zu gleicher Zeit ein, daß er sich hieher begeben hätte, um auf ihn zu warten und ihn im Dunkeln zu ermorden. Während sie auf Mittel sann. dem Beichtvater einen Wink von seiner Gefahr zu geben, unterschied sie noch einmal seine Stimme. Sie kam vom Eingange her, und Ellena rief unverzüglich, daß Spalatro da wäre, und bat ihn auf seiner Huth zu seyn. Den Augenblick darauf wurde eine Pistole dort losgeschossen.
Unter den Stimmen, die auf den Knall folgten, glaubte Ellena ein Winseln zu unterscheiden. Den Augenblick darauf hörte sie Schedonis Stimme wieder, aber sie war tief und schwach. Der Muth, den sie vorher angestrengt hatte, war nun erschöpft – sie blieb auf der Stelle eingewurzelt, unvermögend dem traurigen Schauspiel, das sie wahrscheinlich im Gange erwartete, entgegen zu gehen, und beinahe unter der Vorstellung davon erliegend.
Alles war nun still; sie horchte vergebens auf Schedonis Stimme, ja nur auf einen Fußtritt. Diesen Zustand der Ungewißheit noch länger auszuhalten, war kaum möglich und Ellena machte sich gefaßt dem Schlimmsten entgegen zu gehn, als sie plötzlich von neuem ein schwaches Winseln hörte. Es schien nahe zu seyn, und noch näher zu rücken. In demselben Augenblick sah sie eine blutige Gestalt in, den Hof kommen; ein Nebel, der sich vor ihre Augen zog, verhinderte sie, mehr zu bemerken.
Sie schwankte einige Schritte zurück und ergriff ein Stück von einem Pfeiler, woran sie sich hielt. Ihre Schwäche war nur vorübergehend; es schien nothwendig, der verwundeten Person sogleich Beistand zu leisten, und da das Mitleid bald über das Entsetzen den Sieg davon trug, rief sie ihre Lebensgeister zusammen und eilte dem Hofe zu.
Als sie ihn erreichte und sich allenthalben nach Schedoni umsah, konnte sie ihn nirgends erblicken: der Hof war wieder einsam und still, bis sie alle seine Echos mit dem Namen Vater erweckte. Während sie ihr Rufen wiederholte, untersuchte sie eilends die Colonnade, das abgesonderte Zimmer, welches unmittelbar daran stieß und den schattigten Platz unter den Palmbäumen, ohne aber Jemand zu entdecken.
Als sie sich aber nach dem Eingange wandte, sagte ihr eine Spur von Blut auf der Erde nur zu gewiß, wo der Verwundete gegangen war. Diese Spur leitete sie zu einem schmalen Gange, der zum Fuße des Thurms zu führen schien: allein hier stand sie still, weil sie sich nicht in die Dunkelheit jenseits getraute. Zum erstenmale kam sie auf die Vermuthung, daß nicht Schedoni, sondern Spalatro die Person seyn möchte, welche sie gesehn hatte, und daß, ohngeachtet er verwundet war, die Rache ihm Kräfte geben würde, seinen Dolch in das Herz desjenigen zu stechen, der ihm nahe käme, während die Dunkelheit des Ortes die That begünstigte.
Sie stand noch beim Eingange, furchtsam hinein zu gehen; und ungeneigt ihn zu verlassen, lauschte nach einem Laute und hörte noch immer von Zeit zu Zeit ein schwellendes, obwohl schwaches, Winseln – als sie plötzlich eilfertige Schritte den großen Gang heran nahen und sogleich von Schedonis Stimme ihren Namen laut ausrufen hörte. Er kam ihr mit Eile entgegen und warf einen forschenden Blick rings im Hofe umher.
»Wir müssen fort,« sagte er mit leiser Stimme, ihren Arm in den seinigen legend. »Hast du Jemand vorüber gehen sehen?«
»Ich habe einen verwundeten Mann in den Hof kommen sehen,« erwiederte Ellena, »und fürchtete, Sie wären es.«
»Wo? – welchen Weg gieng er!« fragte Schedoni heftig, mit glühenden Augen und grimmigem Gesichte.
Ellena, die sogleich den Grund dieser Frage begriff, wollte nicht eingestehn, daß sie wüßte, wohin Spalatro sich begeben hätte; sie erinnerte ihn an die Gefahr ihrer Lage und bat ihn, unverzüglich die Villa mit ihr zu verlassen.
»Die Sonne ist schon untergegangen,« setzte sie hinzu. »Ich zittre, wenn ich an die Gefahren dieses Ortes bei einer so dunkeln Stunde denke, und was vielleicht uns noch später auf unserm Wege bevorstehen mag!«
»Du weißt gewiß, daß er verwundet war?« sagte der Beichtvater.
»Nur zu gewiß!« versetzte Ellena schwach.
»Nur zu gewiß!« rief Schedoni finster.
»Lassen Sie uns gehen, mein Vater,« wiederholte Ellena, »o lassen Sie uns diesen Augenblick gehn!«
»?Was bedeutet dies alles?« fragte Schedoni aufgebracht. »Unmöglich kannst du so schwach seyn, diesen Kerl zu bedauern!«
»Es ist schrecklich, Jemand leiden zu sehn,« versetzte Ellena. »Setzen Sie mich nicht durch Ihr Dableiben in die Möglichkeit, mich um Sie zu betrüben. Welche Pein würde es Ihnen verursachen, mich bluten zu sehen! Urtheilen Sie also, welchen Schmerz ich empfinden müßte, wenn Sie vom Dolche eines Mörders verwundet würden!«
Schedoni erstickte den Seufzer, der von seinem Herzen quoll, und drehte sich plötzlich hinweg.
»Du spielst mit mir,« sagte er gleich darauf, »du weißt nicht, daß der Bösewicht verwundet ist. Es ist wahr, ich schoß nach ihm, so wie ich ihn in den Gang treten sah; allein er ist mir entwischt. Was für Ursachen hast du zu deiner Vermuthung?«
Ellena wollte ihm die Spur von Blute nicht weit von ihnen zeigen, hielt sich aber zurück, weil sie bedachte, daß ihn dies zu Spalatro führen könnte – sie bat ihn aufs neue fortzugehen und setzte hinzu:
»O schonen Sie sich und ihn!«
»Was, einen Mörder schonen!« sagte Schedoni ungeduldig.
»Einen Mörder! Er hat Ihnen also nach dem Leben getrachtet?« rief Ellena.
»Das wohl nicht gerade zu,« sagte Schedoni, sich fassend, »aber – was thut der Kerl hier? Laß mich gehn; ich will ihn aufsuchen.«
Ellena hieng noch an seinem Kleide und suchte mit zärtlicher Ueberredungskraft seine Menschenliebe zu erwecken.
»O hätten Sie jemals empfunden, was es ist, den Tod auf der Stelle zu erwarten,« fuhr sie fort, »so würden Sie jetzt diesen Menschen bemitleiden, wie er vielleicht zuweilen Andre bemitleidet hat! Ich habe solches Leiden empfunden, mein Vater, und kann daher selbst für ihn Mitleid fühlen!«
»Weißt du auch, für wen du bittest!« sagte der verstörte Schedoni, dem jedes Wort, das sie gesprochen hatte, ein Dolchstich ins Herz gewesen zu seyn schien. Die Befremdung, welche diese Frage auf Ellenas Gesichte hervorbrachte, machte ihn auf seine Unbesonnenheit aufmerksam; er erinnerte sich, daß Ellena gewiß nicht wüßte, was für ein Geschäfte er dem Spalatro gegen sie aufgetragen hatte; und als er bedachte, daß eben dieser Spalatro, dem Ellena mit solcher Herzenseinfalt zutraute, ein Leben aus Mitleid geschont zu haben; das ihrige wirklich geschont hatte, ja, noch mehr, daß er in der That das Werkzeug gewesen war, ihn zu verhindern, sein eignes Kind zu Grunde zu richten, so wandte sich der Beichtvater mit Abscheu von seinem Vorhaben ab: alle seine Leidenschaften nahmen eine andre Richtung; er verließ plötzlich den Hof und stand nicht eher stille, bis er das äußerste Ende des Ganges erreicht hatte, wo der Wegweiser mit den Pferden wartete.
Eine Erinnerung an Spalatros Betragen gegen Ellena hatte also Schedoni bewegt, seiner zu schonen: allein das war auch alles; dazu konnte sie ihn nicht bewegen, sich nach dem Zustande dieses Menschen zu erkundigen, oder seine Strafe zu mildern, und ohne Gewissensbiss überließ er ihn jetzt seinem Schicksal.
Ellena empfand anders. Ob sie gleich nicht wußte, welche Verbindlichkeit sie ihm schuldig war, konnte sie doch nicht daran denken, dass ein menschliches Wesen so in Leiden und Einsamkeit zurückgelassen wurde, ohne eine sehr schmerzhafte Empfindung zu fühlen; da sie aber bedachte, wie schnell Spalatro sich fort begeben hatte, machte sie sich Hoffnung, daß seine Wunde nicht tödtlich gewesen sey.
Die Reisenden bestiegen stillschweigend ihre Pferde, verließen die Ruinen, und waren eine Zeitlang zu sehr mit den Eindrücken der letzten Begebenheiten beschäftigt, um zu reden. Als endlich Ellena sich näher erkundigte, was im Gange vorgefallen sey, hörte sie, daß Schedoni, als er Spalatro verfolgte, ihn nur einen Augenblick dort gesehn hatte. Spalatro war durch einen dem Beichtvater unbekannten Weg entwischt, und hatte das Innere der Ruinen erreicht, während sein Verfolger ihn im Gange suchte. Der Schrei, der, wie Ellena glaubte, von Innen kam, rührte also, wie es scheint, von dem Führer her, der in seiner Eile über einige Stücke der Mauer fiel, die im Eingange zerstreut lagen. Der erste Knall kam von der Trombone In der Vorlage fälschlich »Tromtone«. ›Tromblon‹ ist die Bezeichnung für ein seit der zweiten Hälfte des 16. Jh. übliches Vorderladergewehr, dessen kurzer Lauf sich im vorderen Drittel trichterartig erweitert, um auf kurze Distanz eine große Streuung zu erzielen. (Auch als »Donnerbüchse« oder Espingole bekannt.) - Radcliffe benutzt dafür das englische »trombone«; gewöhnlich wird die Waffe im Englischen ›Blunderbuss‹ genannt. – D.Hg., die Schedoni losschoß, als er das Portal erreichte, und der letzte, als er eine Pistole abfeuerte, da er Spalatro vom Hofe kommen sah.
»Wir haben Mühe genug gehabt, diesem Kerl nachzulaufen,« sagte der Führer, »und doch haben wir ihn am Ende nicht fangen können. Es ist sonderbar, daß, wenn er doch kam, um uns aufzuspüren, er davonlief, sobald er uns gefunden hatte. Ich glaube bei alle dem doch nicht, daß er uns etwas zu Leide thun wollte, sonst wäre es ihm in dem finstern Gange ein Leichtes gewesen, und er hätte nicht statt dessen die Fersen in die Hand genommen.«
»Stille,« sagte Schedoni; »nicht so viel Worte, Freund!«
»Ey, Signor, er ist jetzt gut gepfeffert, und wir brauchen ihn nicht mehr zu fürchten. Die Flügel sind ihm für's erste beschnitten, und er wird uns nicht einhohlen. Wir dürfen uns nicht so sehr übereilen, Signor, wir werden noch zeitig genug ins Wirthshaus kommen. Es liegt dort auf jenem Berge, dessen Spitze Sie auf dem rothen Strich in Westen sehen. Er kann uns nicht nachkommen; ich sah selbst, daß sein Arm verwundet war.«
»Saht Ihr das,« sagte Schedoni scharf; »ey sagt mir doch, wo waret ihr denn, als Ihr so viel sahet? Das ist mehr, als ich sah.«
»Ich war Ihnen dicht auf den Hacken, Signor, als Sie das Pistol abschossen.
»Ich erinnre mich nicht, Euch so nahe gehört zu haben,« bemerkte der Beichtvater, »und warum kamet Ihr denn nicht hervor, statt Euch zurückzuziehn? Und wo verbargt ihr Euch doch, als ich nach dem Kerl suchte, statt mir ihn verfolgen zu helfen?«
Der Mensch antwortete nicht; Ellena, die ihn während des ganzen Gesprächs aufmerksam beobachtet hatte, merkte, daß er in großer Verlegenheit war, und ihr voriger Verdacht wegen seiner Redlichkeit erwachte von neuem, ohngeachtet verschiedne Umstände zusammen getroffen waren, die ihn unwahrscheinlich machten. Für jetzt war indessen keine Gelegenheit, ihn schärfer zu beobachten. Schedoni hatte, gegen den Rath des Führers, seinen Schritt auf der Stelle beschleunigt, und die Pferde liefen in vollem Gallop, bis eine steile Anhöhe sie nöthigte, in ihrer Eile nachzulassen.
Schedoni schien jetzt, gegen eine sonstige Gewohnheit, sehr geneigt, sich mit diesem Manne zu unterhalten, und legte ihm, während sie langsam den Berg hinan ritten, verschiedne Fragen über die Villa vor, die sie verlassen hatten; es sey nun, daß ihn die Sache wirklich interessirte, oder daß er nur herauszubringen wünschte, ob der Mann ihn in einigen Dingen unrecht berichtet hätte, um daraus seinen Charakter überhaupt zu beurtheilen, genug et forschte mit einer so geduldigen Pünktlichkeit, daß es Ellenen einigermaaßen befremdete. Die tiefe Dämmerung erlaubte ihr während dieses Gesprächs nicht länger, Schedonis oder des Führers Gesicht zu beobachten; allein sie gab seht Acht auf den wechselnden Ton ihrer Stimmen, so wie verschiedne Umstände und Bewegungen sie zu rühren schienen. Man darf nicht unbemerkt lassen, daß bei dieser ganzen Unterhaltung der Führer stets Schedoni zur Seite ritt.
Während der Beichtvater über etwas nachzudenken schien, welches der Bauer von dem Baron di Cambrusca erzählt hatte, erkundigte sich Ellena nach dem Schicksal der andern Einwohner der Villa.
»Der Einsturz des alten Thurms war genug für sie,« erwiederte der Führer; »das Krachen weckte sie alle auf der Stelle, und sie behielten Zeit genug, sich aus dem neuen Gebäude zu machen, ehe der zweite und dritte Stoß auch dieses in Trümmern legte. Sie suchten Sicherheit in den Wäldern und fanden sie auch, da sie glücklicher Weise nach einer andern Richtung liefen. Keine Seele kam zu Schaden, außer dem Baron, und der hatte es wohl genug verdient. O ich könnte Dinge erzählen, die ich von ihm gehört habe!«
»Was wurde denn aus der übrigen Familie?« unterbrach Schedoni.
»Die wurde hie und da, und allenthalben zerstreut, Signor, und keiner kehrte jemals nach der alten Villa zurück. Nein, nein! Sie hatten schon genug da gelitten, und würden noch mehr gelitten haben, wäre das Erdbeben nicht dazwischen gekommen.«
»Wenn es nicht gekommen wäre,« wiederholte Ellena.
»Ja, Signora, denn das machte dem Baron ein Ende. Könnten diese Mauern nur sprechen, ach sie würden wunderbare Dinge erzählen, denn sie haben traurige Thaten mit angesehn; und was das Zimmer anbetrifft, welches ich Ihnen zeigte, Signora, so kam nie Jemand, als er, hinein, die Magd ausgenommen, die es reinigte, und auch das wollte er kaum zulassen und blieb immer die ganze Zeit über darin.«
»Er hatte wahrscheinlich Schätze darin verborgen,« sagte Ellena.
»Nein, Signora, Schätze nicht! Es brannte immer eine Lampe darin, und zuweilen hat man ihn in der Nacht gehört – einmal fügte sichs wirklich, daß sein Bedienter –«
»Kommt,« sagte Schedoni, ihn unterbrechend – »haltet doch Schritt mit mir. Was für närrische Träume erzählt Ihr jetzt?«
»Ich spreche von dem Baron di Cambrusca, Signor, dem nämlichen, über welchen Sie mich jetzt so viel befragt haben. Ich erzähle eben, was für seltsame Gewohnheiten er hatte, und wie einmal, in einer stürmischen Dezembernacht, wie mein Vetter Franz meinem Vater erzählte, der es mir wieder erzählt hat, und der damals in der Familie lebte –«
»Was geschah da,« sagte Schedoni hastig –
»Was ich eben erzählen will, Signor. Mein Vetter lebte damals dort, und so unglaublich es Ihnen auch scheinen mag, können Sie sich doch darauf verlassen, daß es die reine Wahrheit ist. Mein Vater weiß, daß ich es selbst nicht glauben wollte, bis –«
»Genug davon,« sagte Schedoni; »nichts weiter. Was für Familie hatte dieser Baron? hatte er zur Zeit dieses furchtbaren Erdbebens eine Frau? –«
»Ja, Signor, die hatte er, wie ich eben erzählen will, wenn Sie nur die Güte haben wollen, sich zu gedulden.«
»Der Baron hatte das nöthiger als ich, Freund; ich habe keine Frau.« –
»Des Barons Frau hatte es noch nöthiger, Signor, wie Sie hören werden. Eine gute Seele soll die Baronin gewesen seyn; allein zu gutem Glück starb sie viele Jahre zuvor. Er hatte auch eine Tochter, und so jung sie auch war, würde sie doch zu lange gelebt haben, hätte nicht das Erdbeben ihr die Freiheit verschafft.«
»Wie weit ist es noch bis zum Wirthshause,« sagte der Beichtvater rauh.
»Wenn wir auf die Spitze dieses Hügels kommen, so werden Sie es, wenn anders Licht darin ist, auf dem nächsten Berge liegen sehn, denn alsdann liegt nur noch das Thal zwischen uns. Allein fürchten Sie nichts, Signor, der Bursche, den wir zurück ließen, kann uns nicht einholen. Kennen Sie ihn genau, Signor?«
Schedoni fragte, ob das Gewehr geladen wäre, und da er fand, daß es nicht war, so befahl er dem Führer, es auf der Stelle zu laden.
»Wahrhaftig, Signor, wenn Sie ihn so gut kennten, als ich, so könnten Sie keine Furcht mehr haben!« sagte der Bauer; indem er still stand, um dem Befehl zu gehorchen.
»Ich glaubte, er wäre Euch unbekannt?« sagte der Beichtvater mit Befremdung.
»Das ist er, und ist es auch nicht, Signor. Ich weiß mehr von ihm, als er sich einfallen läßt.«
»Ihr scheint überhaupt viel von andrer Leute Angelegenheiten zu wissen,« sagte Schedoni in einem Ton, der ihm Stillschweigen auflegen sollte.
»Das ist's gerade, was er auch sagen würde, Signor: aber böse Thaten kommen immer an den Tag, die Leute mögen sie bekannt haben wollen oder nicht. Dieser Mann kommt zuweilen an Markttagen nach der Stadt, und eine lange Zeit wußte Niemand, woher er kam; nun legten sie sich auf Kundschaft und brachten es endlich heraus.
»Wir werden die Spitze dieses Hügels in alle Ewigkeit nicht erreichen,« sagte Schedoni mürrisch.
»Und sie brachten auch sonst noch manche seltsame Dinge, von ihm heraus,« fuhr der Führer fort.
Ellena, die mit ordentlich peinlicher Neugier diesem Gespräch zugehört hatte, wartete jetzt ungeduldig, was man noch weiter von Spalatro sagen würde, wagte aber nicht, durch eine Frage die Entdeckung einer Sache herbei zu führen, die Schedoni so nahe anzugehn schien.
»Es sind schon viele Jahre,« fieng der Führer wieder an, daß dieser Mann sich in dem seltsamen Hause am Seeufer niederließ. Es ist seitdem immer verschlossen gewesen –«
»Was schwatzt Ihr doch da?« unterbrach ihn der Beichtvater.
»Ey, Signor, Sie wollen mich auch niemals ausreden lassen. Sie unterbrechen mich immer so kurz beim Anfang und fragen dann, was ich schwatze! Ich wollte eben die Geschichte anfangen, und sie ist ziemlich lang. Allein vor allen Dingen, Signor, wozu glauben Sie, daß dieser Mann gehörte? Und was denken Sie, was die Leute zu thun beschlossen, als das Gerücht zuerst auskam? Sie konnten sich nur nicht überzeugen, ob es wirklich wahr sey, und Niemand war geneigt, eine so abscheuliche –«
»Ich bin gar nicht neugierig auf die Sache,« antwortete der Beichtvater, ihn finster unterbrechend, »und verlange nichts mehr davon zu hören.«
»Ich meinte nichts Böses, Signor,« sagte der Mann, »und wußte auch nicht, daß es Sie angienge.«
»Und wer sagt euch, daß es mich angeht?«
»Niemand, Signor! Sie schienen nur in Hitze zu gerathen, und so dachte ich – Aber wie gesagt, ich meinte es nicht böse, Signor, ich dachte nur, weil er einen Theil des Weges Ihr Führer war, so dürfte es Ihnen lieb seyn, etwas von ihm zu erfahren.«
»Alles, was ich von meinem Führer zu wissen wünsche, ist, daß er seine Pflicht thut,« versetzte Schedoni, »daß er mich sicher führt, und mich versteht, wenn er schweigen soll.«
Der Mann antwortete nichts hierauf, verzögerte seinen Schritt, und begab sich hinter den unwilligen Beichtvater.
Bald darauf erreichten die Reisenden den Gipfel dieses langen Hügels und sahen sich nach dem Wirthshause um, wovon man ihnen gesagt hatte: allein die Dunkelheit verwirrte jetzt alle Gegenstände, und kein schimmerndes häusliches Licht gab, wenn auch noch so fern – ein Zeichen von Sicherheit und Heimath. Niedergeschlagen ritten sie in das Thal unter dem Berge herab, und fanden sich aufs neue von Waldung umgeben.
Schedoni rief den Bauer wieder an seine Seite, und hieß ihn neben ihm bleiben; allein er sprach nicht, und Ellena war zu gedankenvoll, um ein Gespräch anzufangen. Die Winke, die der Führer von Spalatro fallen ließ, hatten ihre Neugierde nur erhöht: allein Schedonis Betragen, seine Ungeduld, seine Verlegenheit, und die entscheidende Art, wie er dem Geschwätz des Führers ein Ende gemacht hatte, erregten eine Befremdung, die an Erstaunen gränzte. Da sie indessen keinen Faden hatte, um ihre Vermuthungen nach einem Punkte zu leiten, so verwirrte sie sich ganz in Zweifeln, und sah nur so viel, daß Schedoni in weit genauerm Zusammenhang mit Spalatro stand, als sie bisher geglaubt hatte.
Die Reisenden waren in das Thal herab gekommen, und da sie den gegenüber liegenden Hügel hinan ritten, ohne eine Spur von einer benachbarten Stadt zu entdecken, so fürchteten sie aufs neue, daß ihr Führer sie hintergangen hatte. Es war nun so dunkel, daß sie den Weg kaum unterscheiden konnten; die Wälder an jeder Seite bildeten einen dichten Kerker von unzähligen Zweigen, der das Dämmerlicht der Sterne gänzlich ausschloß.
Während der Beichtvater mit einiger Härte in den Mann drang, hörte man ein schwaches Jauchzen in der Ferne, und er hielt die Pferde an, um zu horchen, von welcher Seite es kam.
»Es kommt den Weg, den wir gehen Signor,« sagte der Führer.
»Horcht,« rief Schedoni, das sind Töne nächtlicher Schwärmerei!«
Man hörte ein verworrnes Gewühl von Stimmen, Gelächter und musikalischen Instrumenten; und so wie der Wind stärker blies, unterschied man Tambouret und Flöten.
»O, wir sind nahe am Ziel unsrer Reise!« sagte der Bauer: »alles das kommt aus der Stadt, wohin wir gehen. Aber ich wundre mich nur, was die Leute so lustig macht.«
Ellena, durch diese Nachricht wieder belebt, folgte mit Schnelligkeit der plötzlichen Eile des Beichtvaters, und da sie sogleich eine Spitze des Berges, wo die Wälder sich öffneten, erreichten, verkündigte ein Haufen Lichter auf einem andern Hügel, ein wenig höher, die Stadt noch gewisser.
Sie kamen bald darauf vor den verfallnen Thoren an, welche ehemals in eine starke Festung führten, und gelangten auf einmal aus der Dunkelheit und öden Mauern auf einen Marktplatz, der von Licht flammte, und vom Geräusch der Menge wiederhallte. Buden, phantastisch mit Lampen behangen, und mit bunten Waaren von aller Art angefüllt, waren auf allen Seiten aus gebreitet, und Bauern im ihrem Festtagsstaat, und Gesellschaften von Masken besetzten alle Eingänge. Hier war eine Bande Musikanten, dort eine Gruppe von Tänzern; an einem Orte reizte die ausschweifende Laune des Hanswursten das nie fehlende Gelächter eines italienischen Pöbels, und an einem andern hielt der Improvisatore Der »improvvisatore« war in Italien ein Künstler, der aus dem Steggreif auf Publikumszuruf Gedichte, Lieder oder Geschichten dichtete und vortrug. Hans Christian Andersen hat einen solchen zum Gegenstand eines Romans gemacht: »Der Improvisator« (1835). – D.Hg. durch das Pathos seiner Geschichte, die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer, wie an magischen Banden fest. Weiter hin war eine Bühne, zu Darstellung eines Feuerwerks, und neben dieser ein Theater errichtet, wo eine mimische Oper, der Schatten eines Schattens Aus diesem Thema hat der Karikaturist und Schriftsteller Tom Hood 1869 die Geistergeschichte »The Shadow of a Shade« gemacht. – D.Hg., vorgestellt wurde, und von wo aus ein schallendes Gelächter, durch den Hauptbuffo. von innen erregt, sich mit den heterogenen Stimmen der Verkäufer von Eis, Maccaroni, Sorbet und Diavolonis Diavolini (dies ist bereits der Plural!) sind die Chili der Abruzzen. – D.Hg. von außen vermischte.
Der Beichtvater sah dieses Schauspiel mit Verdruß und übler Laune an, und befahl dem Führer, voraus zu gehen und den Weg zum besten Gasthofe zu zeigen; ein Geschäft, das dieser mit großer Freude übernahm, ob es ihm gleich schwer wurde, sich einen Weg zu bahnen:
»Denk einer mal an, ich habe nicht gewußt daß heute Markt ist! Allein die Wahrheit zu sagen, ich bin erst einmal in meinem Leben in dieser Stadt gewesen, und so ist es eben nicht zu verwundern, Signor!«
»Macht, daß wir durch das Gedränge kommen,« sagte Schedoni.
»Wenn man sich so lange im Dunkeln umgetrieben hat, Signor, wo nichts auf der Welt zu sehen ist,« fuhr der Mann fort, ohne auf die Erinnerung zu achten, »und dann auf einmal an einen Ort wie diesen kommt, so ist es einem, als käme man aus dem Fegefeuer ins Paradies! Aber, Signor, Sie haben doch jetzt alle Ihre Beängstigungen vergessen! Sie denken doch jetzt nicht mehr an den alten verfallenen Ort, wo wir eine solche Jagd nach dem Manne anstellten, der uns nicht ermorden wollte: allein der Schuß, den ich abfeuerte, that seinen Dienst.«
»Ihr schosset!« sagte Schedoni, durch diese Worte aufmerksam gemacht.
»Ja, Signor, als ich Ihnen über die Schulter sah; ich dächte, Sie müßten gehört haben!«
»Ich hätte es auch gedacht, Freund!«
»Ey, Signor, ich wette, dieser schöne Ort hat Ihnen alles das aus dem Kopfe gebracht, sowohl als was ich von dem bewußten Kerl erzählte: allein in der That, Signor, ich wußte nicht, daß er Sie etwas angienge, als ich so von ihm sprach. Vielleicht aber wissen Sie dem allen ohngeachtet den Theil seiner Geschichte doch nicht, den ich Ihnen eben erzählen wollte, als Sie mich so kurz abschnitten, ohngeachtet Sie weit besser mit einander bekannt seyn mögen, als ich geglaubt hatte; also will ich es Ihnen erzählen, wenn ich vom Markte zu Haus komme, Signor, und es ist eine sehr lange Geschichte, denn zufälliger Weise ist mir der ganze Zusammenhang bekannt, ob ich gleich, als Sie mich in einer Ihrer Beängstigungen so kurz weg unterbrachen, erst beim Anfange war – allein das hat nichts zu sagen, ich kann wieder von vorn anfangen, denn –«
»Was soll doch das alles!« sagte Schedoni, der wieder von einem der tiefsinnigen Anfälle zu sich kam, die ihm so zur Gewohnheit geworden waren, daß nicht einmal das Geräusch um ihn her den Lauf seiner Gedanken hatte unterbrechen können. Er geboth dem Bauer zu schweigen; allein dieser Mensch fühlte sich zu glücklich, um sich bedeuten zu lassen »to happy to be tractable«: ›zu glücklich, um folgsam zu sein‹. – D.Hg., und fuhr fort alles, was er empfand, zu äußern, indem sie sich langsam durch das Gedränge hinarbeiteten. Jeder Gegenstand hier war ihm neu und entzückend, und da er nicht zweifelte, daß es Jedermann eben so seyn müßte, machte er den stolzen und finstern Beichtvater unaufhörlich auf die nichtsbedeutenden Gegenstände seiner Verwundrung aufmerksam.
»Sehn Sie, Signor, hier den Punchinello Der Pulcinella (neapolitanisch Pulecenella, italienisch Policinello) ist ursprünglich eine Figur des süditalienischen und neapolitanischen Volkstheaters, zumeist ein schlauer, listiger, grober und zugleich einfältiger und tölpelhafter, gefräßiger Diener bäuerlicher Herkunft mit einer halben Vogelmaske. – D.Hg.; sehn Sie, wie er die heißen Maccaroni verschlingt. Und sehn Sie einmal hier, Signor, da ist ein Taschenspieler! O bester Signor, halten Sie noch einen Augenblick still, um seinen Possen zuzusehn. Sehn Sie, da hat er, indeß ich nur mit dem Auge blinke, einen Mönch in einen Teufel verwandelt!«
»Schweigt und macht vorwärts,« sagte Schedoni.
»Das ist's eben, was ich sage, Signor; die Leute machen einen solchen Lärm, daß ich Sie kein Wort kann sprechen hören. Schweigt doch!«
»Dafür, daß Ihr nicht hören könnt, habt Ihr wunderbar passend geantwortet,« sagte Ellena.
»Ach, Signora, ist dies nicht besser, als die dunkeln Wälder und Berge? Aber was giebt es hier? Seht, Signor, hier ist ein schöner Anblick!«
Die Menge, die sich rings um eine Bühne versammlete, auf welcher verschiedne grotesk gekleidete Personen spielten, hemmte jetzt allen weitern Fortschritt, und die Reisenden sahn sich genöthigt, am Fuße des Gerüstes stehn zu bleiben. Die Leute oben führten etwas auf, das zu einer Tragödie bestimmt gewesen zu seyn schien, aber durch ihre seltsamen Gebährden, ungeschickte Deklamation und verkehrten Gesichter in ein Lustspiel verwandelt wurde.
Schedoni, der sich auf solche Art genöthigt sah, stille zu halten, zog seine Aufmerksamkeit von der Scene ab; Ellena ließ es sich gefallen, sie auszuhalten, und der Bauer, mit offnem Mund und starren Augen stand wie eine Bildsäule und wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte, bis er sich plötzlich nach dem Beichtvater umdrehte, dessen Pferd natürlich dicht neben dem seinigen war, ihn beim Arm ergriff, auf die Bühne zeigte, und ausrief:
»Sehn Sie, Signor, sehn Sie! welch ein Bösewicht! Sehn Sie, er hat seine eigne Tochter ermordet!«
Bei diesen schrecklichen Worten wurde Schedonis Unwillen von andern Regungen verdrängt: er richtete seine Augen nach der Bühne, und nahm wahr, daß die Schauspieler die Geschichte der Virginia Fiktive, legendenhafte Geschichte aus den Ständekämpfen der frühen römischen Republik, die der römische Geschichtsschreiber Livius erwähnt, um den bösartigen Charakter des Decemvir Appius Claudius zu illustrieren. Dieser streckte begehrlich seine Arme nach Virginia aus. Ihr Vater erstach sie mit den Worten: »Auf diese einzige Weise, die mir möglich ist, Tochter, bewahre ich Dir die Freiheit.« Dies führte zum Aufstand und zur Abschaffung der Herrschaft der Decemvirn. Lessing greift dieses Motiv in »Emilia Galotti« (1772) wieder auf. – D.Hg. aufführten. Es war in dem Augenblick, als sie in den Armen ihres Vaters starb, der den Dolch empor hielt, womit er sie durchstochen hatte. Schedonis Gefühle legten ihm in diesem Augenblick eine Strafe auf, die beinahe des Verbrechens würdig war, das er im Sinn geführt hatte.
Elena, von der Handlung und von dem Contrast betroffen, den sie mit Schedonis vermeintem Betragen gegen sie zu machen schien, sah ihn mit ausdrucksvoller Zärtlichkeit an, und als sein Blick den ihrigen traf, bemerkte sie mit Erstaunen die wechselnden Bewegungen seiner Seele und den unerklärlichen Ausdruck seines Gesichts. Tief ins Herz getroffen, spornte der Beichtvater wüthend sein Pferd, um diesem Schauspiel zu entfliehen; allein das arme Thier war zu muthlos und abgemattet, um sich einen Weg durchs Gedränge zu bahnen, und der Bauer, voll Verdruß von einem Orte vertrieben zu werden, wo er beinahe zum erstenmal in seinem Leben das ihm fremde süße Gefühl eines künstlichen Schmerzes empfand, und halb aufgebracht, ein Thier, das unter seiner Aufsicht stand, übel behandeln zu sehn, machte laute Vorstellungen und ergriff den Zügel des Beichtvaters, der, noch wüthender gemacht, die Peitsche auf den Schultern des Führers versuchte, als die Menge plötzlich zurückwich und einen Weg öffnete, durch welchen die Reisenden drangen, und ohne weitere Störung die Thüre des Wirtshauses erreichten.
Schedoni war nicht in der Laune, Schwierigkeiten zu überwinden, und noch weniger, das gemeine Gewäsch eines Ortes zu ertragen, der bereits mit Gästen überhäuft war; und doch mußte er sich viele Mühe geben, sich nur ein Logis für die Nacht zu verschaffen. Der Bauer war nicht minder besorgt für die Bequemlichkeit seiner Pferde, und als Ellena ihn erklären hörte, daß das Thier, welches der Beichtvater so grausam gespornt hatte, ein doppeltes Futter und ein Bette von Stroh, so hoch als sein Haupt haben sollte, wenn er selbst auch keines bekäme, gab sie ihm, ohne daß Schedoni es bemerkte, den einzigen Dukaten, der noch in ihrem Vermögen war.