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Eilftes Kapitel.

Bring roses, violets and the cold snow-drop,
Beautiful in tears, to strew the path-way
Of our saintly sister. »Bringe Rosen, Veilchen und das kalte Schneeblümchen, um, schön in Thränen, unsrer heiligen Schwester Pfad zu bestreuen.«

Einige wenige Andächtige klimmten bereits den Berg hinan, und Vivaldi hielt sich auch von diesen ferne, und verfolgte einen einsamen Pfad, denn sein nachdenkendes Gemüth sehnte sich nach Einsamkeit. Das Morgenlüftchen säuselte zwischen dem Laube, das hoch über den Pfad wehte, und er hörte mit Wohlgefallen dem hohlen Rauschen des fernen Wassers zu, denn diese Töne harmonirten mit seiner melancholischen Stimmung und nährten sie; zu Zeiten stand er still, um die Scene rings umher anzustaunen, denn auch diese war in Einklang mit seinen Gefühlen.

Betrogne Hoffnung hatte die wildere Kraft seiner Leidenschaften überwunden, und ihn in eine feierliche und erhabne Stimmung des Gefühls gesetzt; er sah mit behaglicher Melancholie die dunkeln Felsen und Vorgebürge, die finstern Berge und weiten Einöden an, die sich rings um ihn ausbreiteten; auch das Kloster, dem er sich näherte, erhöhte nicht wenig das Feierliche der Szene, wenn seine grauen Mauern und Zinnen jenseits der dunkeln Wälder erschienen.

»Ach! wenn es sie einschlösse!« seufzte Vivaldi, als er den ersten Schimmer seiner Thürme sah. »Vergebne Hoffnung! ich will deinen Täuschungen nicht länger Gehör geben; ich will mich nicht der Qual neuer Vereitlung aussetzen; ich will suchen, aber nicht erwarten. Doch, wenn sie hier wäre!«

Nachdem er die Thore des Klosters erreicht hatte, gieng er mit eilfertigen Schritten in den Hof, wo seine Bewegung sich vermehrte, als er still stand, und sich in den einsamen Kreuzgängen umher sah. Nur der Thürsteher erschien; Vivaldi, besorgt, daß er seine Verkleidung merken würde, zog seine Kappe ins Gesicht, nahm sein Gewand noch dichter in seine gefaltnen Arme zusammen und gieng weiter, ohne etwas zu sagen, ob er gleich nicht wußte, welcher von den Gängen zu dem Schreine führte. Er näherte sich der Kirche, ein stattliches Gebäude, das abgerissen und in einer kleinen Entfernung von den andern Klostergebäuden stand. Die hochgewölbten Gänge streckten sich in dämmernder Perspektive hin, in welcher nur von Zeit zu Zeit ein Mönch oder ein Pilger, schweigend und in dunkle Kleider gehüllt, wie Schatten vorüber schlichen: die allgemeine Stille des Orts, der Schein der Fackeln vom Hochaltar und der Lampen, die jedem Schrein in der Kirche eine dunkle Pracht gaben – alles traf zusammen, um seinem Herzen eine heilige Ehrfurcht einzuprägen.

Er folgte einigen Andächtigen durch einen Seitengang nach einem Hofe, dem ein furchtsamer »tremendous«: gewaltiger. – Man kann es kaum glauben, dass in Maria Webers » Neubearbeitung« dieser Übersetzung (2016) ein so auffälliger Übersetzungsfehler nicht berichtigt wurde. – D.Hg. Felsen überhieng, in welchem eine Höhle war, die den Schrein Unsrer Frau vom Berge Carmel enthielt. Dieser Hof war von dem Felsen und von dem Chor der Kirche eingeschlossen, ausser, daß nach Süden eine kleine Oeffnung das Auge zu einem Schimmer auf die Landschaft unten leitete, welche zwischen den dunklen Spalten der Klippen, frei und licht, und bunt gefärbt in die blauen und fernen Berge hinschmolz.

Vivaldi trat in die Höhle, wo in einem goldnen Gitterschrein das Bild der Heiligen lag, mit Blumen geschmückt und von unzähligen Fackeln und Lampen erleuchtet. Auf den Stufen des Schreins drängten sich kniende Pilger und Vivaldi, um sich nicht auszuzeichnen, kniete auch; bis das hohe Schwellen der Orgel in der Ferne und die tiefen Stimmen der Choristen die erste Messe ankündigten. Er verließ die Höhle und gieng in die Kirche zurück, wo er am äußersten Ende eines Ganges verweilte und der feierlichen Harmonie zuhörte, die längs der gewölbten Decke hinschallte und in der Ferne hinweg schmolz. Es war eine volle Musik, womit oft die hohen Festen der Sicilianischen Kirche Mit ›Königreich Sizilien‹ werden historische Staaten in Süditalien bezeichnet, die von 1130 bis 1861 bestanden; auch Neapel und die benachbarten Regionen gehören dazu: insofern ist hier die Rede von ›sizilianischer Kirche‹. – D.Hg. anheben, und die dazu gemacht ist, die erhabne Begeistrung einzuflößen, welche zuweilen ihre Bekenner erhebt.

Vivaldi, nicht im Stande, das Uebermaaß von Gefühl, welches diese Harmonie erweckte, zu ertragen, wollte die Kirche verlassen, als sie plötzlich aufhörte und ein Geläut von Glocken statt ihrer ertönte. Dies schien der Laut des Todes zu seyn, und es fiel ihm ein, daß vielleicht ein Sterbender heran nahte, um das letzte Sakrament zu empfangen, als er ein fernes Wirbeln weiblicher Stimmen sich in die tiefern Töne der Mönche und in das dumpfe Läuten der Glocken mischen hörte. So süß, so klagend stieg diese Melodie in der Luft auf, daß die, welche zuhörten sowohl, als die Singenden, von Schmerz durchdrungen, auf gleiche Art um eine scheidende Freundin zu klagen schienen.

Vivaldi eilte aufs Chor, dessen Boden mit Palmenzweigen und frischen Blumen bestreut war. Eine Decke von schwarzem Sammt lag auf den Stufen des Altars, wo verschiedne Priester stillschweigend warteten. Allenthalben erschienen die Insignien von feierlichem Pomp und Pracht, und auf jedem Gesicht die Stille und Aufmerksamkeit der Erwartung. Indessen kamen die Töne näher, und Vivaldi sah eine Prozession von Nonnen aus einem fernen Flügel heran nahen.

So wie sie näher kamen, erkannte er die Aebtissin, die in ihrem feierlichen Ornat, mit der Bischofsmütze auf dem Kopfe, den Zug anführte: er bemerkte sehr gut ihren stattlichen Schritt, der sich nach dem langsamen Tact der Musik bewegte, und den Anstand voll stolzer, doch angenehmer, Würde, wodurch sie sich auszeichnete: dann folgten die Nonnen nach ihren verschiednen Orden, und endlich kamen die Novitzen mit brennenden Fackeln in der Hand und von andern Nonnen umgeben, die sich durch eine besondre Kleidung auszeichneten.

Nachdem sie einen Theil der Kirche, der zu ihrer Aufnahme eingerichtet war, erreicht hatten, stellten sie sich in Ordnung. Vivaldi fragte mit klopfendem Herzen nach dem Anlaß dieser Ceremonie und hörte, daß eine Nonne eingekleidet werden sollte.

»Sie wissen vielleicht nicht Ganz im Gegenteil heiß es im Original: »You are informed, no doubt …«! – D.Hg., Bruder »setzte der Prior hinzu, der ihm diese Nachricht gab, »daß es am Morgen unsers hohen Festes, am Tage Unsrer Frau für solche, die sich dem Himmel weihen, gewöhnlich ist, den Schleier zu nehmen. Stellen Sie sich ein wenig hieher, so werden Sie die Ceremonie sehn.«

»Wie ist der Name der Novitze, die jetzt den Schleier empfangen soll?« sagte Vivaldi mit einer Stimme, deren zitternde Töne seine Bewegung verriethen.

Der Mönch sah ihn mit einem forschenden Blick an, indem er antwortete: »Ich weiß ihren Namen nicht, aber wenn Sie ein wenig hieher treten wollen, so will ich sie Ihnen zeigen.«

Vivaldi zog die Kappe ins Gesicht, und folgte ihm stillschweigend.

»Sie geht der Aebtissin zur Rechten,« sagte der Mönch; »und lehnt sich auf den Arm einer Nonne; sie ist mit einem weißen Schleier bedeckt und schlanker als ihre Begleiterinnen.«

Vivaldi sah sie mit ängstlichem Blicke an, und ob er gleich Ellenas Person nicht erkannte, so war doch seine Phantasie von ihrem Bilde so voll, daß er eine Aehnlichkeit mit ihr zu entdecken glaubte. Er fragte, wie lange die Novitze schon im Kloster gewesen sey, und nach manchen andern Dingen, die der Mönch entweder nicht wußte, oder nicht zu beantworten für gut fand.

Wie ängstlich bemühte sich Vivaldi, durch die Schleier der verschiednen Nonnen hindurch zu blicken, um Ellena aufzusuchen. Er glaubte, daß die barbarische Politik seiner Mutter sie bereits dem Kloster geweiht haben könnte. Mit noch größrerer Aemsigkeit bemühte er sich, einen Schimmer von den Zügen der Novitzen zu erhaschen; allein ihre Gesichter waren von den Kappen und weißen Schleiern beschattet, die zwar halb zurückgeschlagen, aber doch in solche künstliche Falten geordnet waren, daß sie ihre Züge eben so sehr versteckten, als der herunter gelaßne Schleier der Nonnen.

Die Ceremonie fieng mit einer Rede des Abtes an, die mit feierlichem Nachdruck gehalten wurde; die Novitze kniete darauf vor ihm nieder, und legte ihr Bekenntniß ab, dem Vivaldi mit äusserster Aufmerksamkeit zuhorchte; allein es wurde so leise und zitternd gesprochen, daß er nicht einmal den Ton der Stimme erkennen konnte. In dem Wechselchore aber, das zuweilen den folgenden Gottesdienst unterbrach, glaubte er Ellenas Stimme zu unterscheiden; die rührende, wohlbekannte Stimme, welche in der Kirche San Lorenzo zuerst seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er horchte, und wagte kaum Athem zu schöpfen, um nicht eine Note zu verlieren: und bildete sich aufs neue ein, daß ihre Stimme in einem Theile der klagenden Antwort spräche, welche das Chor der Nonnen gab.

Vivaldi suchte seine Bewegung zu unterdrücken und mit Geduld die weitere Enthüllung der Wahrheit zu erwarten; als sich aber der Priester anschickte, den weißen Schleier vom Gesichte der Novitze zu ziehn, und ihr den schwarzen überzuwerfen, ergriff ihn eine schreckliche Erwartung, daß es Ellena sey, und er hielt sich mit Mühe zurück, hervorzutreten, und sich in dem Augenblicke zu erkennen zu geben.

Der Schleier wurde endlich weggenommen, und es erschien ein sehr liebenswürdiges, aber nicht Ellenas Gesicht. Vivaldi holte wieder Athem und wartete mit leidlicher Fassung auf den Schluß der Ceremonie; bis er in der feierlichen Melodie, die auf das Anlegen des schwarzen Schleiers folgte, aufs neue die Stimme hörte, die er für die ihrige hielt. Ihre Töne waren leise, klagend und zitternd, doch erkannte sein Herz sogleich ihren zauberischen Einfluß an.

Als diese Ceremonie zu Ende war, fieng eine andre an, und man sagte ihm, es wäre die Einweihung einer Novitze. Ein junges Frauenzimmer, von zwo Nonnen unterstützt, näherte sich dem Altar, und Vivaldi glaubte, Ellena zu sehn. Der Priester fieng die gewöhnliche Ermahnung an, als sie ihren halben Schleier zurück schlug, und ein Gesicht zeigte, wo sanfter Kummer mit himmlischer Sanftheit gemischt war: sie schlug ihre blauen Augen auf, die ganz in Thränen gebadet waren, und winkte mit der Hand, als wünschte, sie zu sprechen. – Es war Ellena selbst.

Der Priester versuchte fortzufahren.

»Ich betheure in der Gegenwart dieser Gemeinde,« sagte sie feierlich, »daß ich hieher gebracht bin, um Gelübde auszusprechen, denen mein Herz widerspricht. Ich betheure –«

Ein Gewühl von Stimmen unterbrach sie, und in demselben Augenblicke sah sie Vivaldi nach dem Altare dringen. Ellena staunte einen Augenblick, streckte dann ihre flehenden Hände nach ihm aus, schloß die Augen, und sank in die Arme einiger Personen, die um sie standen, und sich vergebens bemühten ihn abzuhalten, sich ihr zu nähern, und ihr beizustehn. Der Schmerz, womit er über ihrer leblosen Gestalt hieng, und ihren Nahmen ausrief, erregte sogar das Mitleid der Nonnen, und besonders Oliviens, die sich am eifrigsten bemühte, ihre junge Freundin ins Leben zurück zu rufen.

Als Ellena die Augen aufschlug, und noch einmal Vivaldi sah, sagte ihm der Ausruf, womit sie ihn betrachtete, daß ihr Herz noch unverändert sey, um das sie, so lange er um sie war, keine Schrecken der Gefangenschaft fühlte. Sie wollte sich zurückziehn, und von Vivaldi und Olivien unterstützt, die Kirche verlassen, als die Aebtissin befahl, daß blos die Nonne sie begleiten sollte – sie selbst verließ den Altar, und gab den Auftrag, den jungen Fremden ins Sprachzimmer des Klosters zu führen.

So wenig Vivaldi auch geneigt war, einem gebieterischen Befehl zu gehorchen, gab er doch Ellena's Bitten und Oliviens sanften Vorstellungen nach – er sagte Ellenen auf einige Zeit Lebewohl und verfügte sich ins Sprachzimmer der Aebtissin. Er schmeichelte sich mit der Hoffnung, sie zu einem Gefühl der Gerechtigkeit oder des Mitleids zu erwecken; allein er fand, daß ihre Begriffe von Recht unerbittlich gegen ihn waren, und daß Stolz und beleidigte Empfindlichkeit den Einfluß jedes andern Gefühls vernichteten. Sie fing ihre Ermahnung damit an, daß sie von der warmen Freundschaft sprach, die sie so lange für die Marquise gehegt hätte, schritt dann zu Klagen, daß der Sohn einer Freundin, die sie so sehr schätzte, seine Pflicht gegen seine Eltern, und die Rücksicht, welche er der Würde seines Hauses schuldig sey, so weit vergessen hätte, die Verbindung einer Person von Ellena di Rosalba's geringem Stande zu suchen, und schloß mit einem strengen Verweise, daß er die Ruhe ihres Klosters und den Anstand der Kirche durch sein Hervordrängen gestört hätte.

Vivaldi hörte mit unterwürfiger Geduld dieses Gespräch von Moral und Anstand aus dem Munde einer Person, die mit der vollkommensten Selbstbilligung die einfachsten Verpflichtungen der Menschlichkeit und Gerechtigkeit verletzte, die sich in eine Verschwörung eingelassen hatte, um eine Waise aus ihrer Heimath zu reissen, und sie auf Lebenszeit der Freiheit und alles Segens, der ihr Erbtheil ist, zu berauben suchte. Als sie aber mit der Schärfe strengen Tadels von Ellena zu sprechen fortfuhr, und Winke von der Strafe fallen ließ, die ihre öffentliche Verwerfung der Gelübde ihr zuziehn würde, stiegen Unwillen und Verachtung gegen die Priorin hoch in ihm auf, und er hielt ihr ein Gemählde von ihr selbst in den starken Farben der Wahrheit vor. Allein die Seele, welche kein Mitleid zu rühren vermochte, konnte auch durch keine Vernunft besiegt werden. Selbstsucht hatte sie gegen den Einfluß beyder gleich sehr verhärtet; blos ihr Stolz wurde angegriffen, und sie vergalt die Kränkung, welche sie erlitt, durch Drohungen und Beschuldigungen.

Vivaldi blieb nichts übrig, als er ihr Zimmer verließ, als sich an den Abt zu wenden, dessen Einfluß wenigstens, wenn auch nicht seine Macht, die Strenge der ihrigen mildern konnte. Bei diesem Abte waren Sanftmuth des Charakters und milde Sitten Eigenschaften von weniger Werth, als man ihnen gewöhnlich und verdientermaßen zuschreibt: sie waren blos das angenehme Verdienst guter Zeiten, die in der Stunde der Noth nie den Charakter von Tugenden annahmen, ihn nie bewegten, denjenigen beizustehn, für die er fühlte. Auf solche Art war er bei einem Charakter, der ganz das Gegentheil von der strengen und heftigen Aebtissin war, eben so selbstsüchtig und beinahe eben so strafbar, weil er durch Zulassung des Uebels beinahe eben so viel Unrecht that, als diejenigen, welche es aussannen. Indolenz und Furchtsamkeit, die Folge eines Mangels klarer Begriffe, raubten ihm alle Energie des Charakters, er war vielmehr klug als weise, und fürchtete so sehr, in den Verdacht des Unrechts zu gerathen, daß er selten recht that.

Vivaldis gemäßigte Vorstellungen und inständige Bitten, daß er seine Autorität anwenden möchte, um Ellena zu befreien, hörte er mit Geduld an; gestand, daß ihre Lage hart sey; beklagte das unglückliche Mißverständniß zwischen Vivaldi und seiner Familie, und lehnte es ab, in einer so kitzlichen Sache einen Schritt zu thun. Signora di Rosalba, sagte er, stände unter der Aufsicht der Aebtissin, der er in ihren häuslichen Angelegenheiten nichts zu sagen hätte. Vivaldi flehte ihn darauf an, wenn er auch keine Gewalt hätte, so möchte er doch wenigstens sich ins Mittel legen, und Vorstellungen gegen die Ungerechtigkeit machen, Ellena im Gefängniß zu behalten, und behülflich seyn, sie wieder in die Heimath zu bringen, aus der man sie gewaltsam gerissen hätte.

»Auch dieses,«, erwiederte der Abt, »gehört nicht in mein Gebiet, und ich habe es mir zur Regel gemacht, nie Eingriffe in die Jurisdiction anderer Personen zu thun.«

»Und können Sie es ertragen, hochwürdiger Herr!« fuhr Vivaldi fort, »Zeuge von einer schreienden Ungerechtigkeit zu seyn, und nichts zu thun, um sie zu hindern, nicht einmal einen Schritt zu thun, um das Schlachtopfer zu befreien, wenn Sie die Zurüstungen zum Opfer ansehn?«

»Ich wiederhole es Ihnen,« erwiederte der Abt, »daß ich mich nie in die Autorität Anderer mische; wenn ich die meinige behauptet habe, so räume ich einem Jeden in seinem Kreise den Gehorsam ein, den ich in dem meinigen verlange.«

»Ist also Macht,« sagte Vivaldi, »der unfehlbare Beweis von Recht? Ist es der Moral gemäß, zu gehorchen, wo der Befehl sträflich ist? Die ganze Welt hat einen Anspruch auf die Kraft, auf die thätige Verwendung derjenigen, die so, wie Sie, zwischen die Wahl gestellt sind, entweder durch ihre Einwilligung ein Unrecht zu bestätigen, oder es durch ihre Entgegenwürkung zu verhindern. Möchte sich Ihr Herz gegen diese Welt neigen, höchwürdiger Herr!«

»Möchte doch die ganze Welt Unrecht haben, damit Sie den Ruhm genössen, sie auf den rechten Weg zu bringen,« sagte der Abt lächelnd: »Junger Mann, Sie sind ein Schwärmer, und ich verzeihe Ihnen. Sie sind ein irrender Ritter, der die ganze Erde durchwandern möchte, um Jedermann mit dem Degen in der Hand sein Recht, Gutes zu stiften, zu beweisen: es ist ein Unglück, daß Sie etwas zu spät gebohren sind.«

»Schwärmerei für die Sache der Menschheit –« sagte Vivaldi – allein er hielt sich zurück; und da er daran verzweifelte, ein durch selbstsüchtige Klugheit so verhärtetes Herz zu rühren, und seinen Unwillen durch eine in ihren Folgen so gehässige Indolenz erregt fühlte, so verließ er den Abt, ohne weiter einen Versuch zu machen. Er merkte, daß er jetzt seine Zuflucht zu andern Mitteln nehmen mußte; sein freies, edles Gemüth verabscheute alle List, aber er hatte bereits ohne Erfolg jede andre Möglichkeit, das unschuldige Schlachtopfer von den Vorurtheilen und dem Stolze der Marquise zu befreien, versucht.

Ellena hatte sich indessen, von mancherlei Rücksichten und einander entgegen laufenden, Bewegungen erschüttert, in ihre Zelle zurückgezogen. Lange blieben Freude und Zärtlichkeit die herrschenden Regungen ihrer Seele: dann aber kamen Angst, Besorgnisse, Stolz und Zweifel, um ihr Herz zu zerreissen und zu quälen. Vivaldi hatte freilich ihr Gefängniß entdeckt, aber wenn es möglich war, daß er sie daraus befreien konnte, so mußte sie einwilligen, es mit ihm zu verlassen: ein Schritt, vor dem eine Seele, die ein so zartes Gefühl des Schicklichen besaß, erschrocken zurückfuhr, wenn er sie gleich aus der Gefangenschaft befreite. Und wie, wenn sie den stolzen Charakter des Marchese di Vivaldi, die gebieterische und rachsüchtige Natur der Marquise, und noch mehr ihre gemeinschaftliche Abneigung, sie in ihre Familie aufzunehmen, bedachte, wie konnte sie denn nur einen Augenblick den Gedanken ertragen, sich in eine solche Familie einzudringen! Stolz, Delikatesse und gesunde Vernunft schienen sie vor einem so demüthigenden und in seinen Folgen unangenehmen Schritte zu warnen, und sie zu ermahnen, ihre eigne Würde durch Unabhängigkeit zu behaupten; allein die Achtung, die Freundschaft, die zärtliche Liebe, die sie für Vivaldi gehegt hatte, machten, daß sie inne hielt, und beinahe mit Empfindungen des Entsetzens vor der ewigen Trennung erbebte, welche eine durch das Gefühl ihrer Würde bestimmte Wahl ihr auflegte.

Obgleich die Begünstigung ihrer verstorbnen Tante dieser Verbindung eine gewisse Heiligkeit zu ertheilen schien, welche Ellena's beunruhigte Delikatesse sehr besänftigte, so hatte doch dieser Beifall nicht die Kraft, ihre eignen Einwendungen zu besiegen, und sie würde den irrigen Eifer beklagt haben, der so viel beigetragen hatte, sie in die gegenwärtige peinliche Lage zu bringen, wenn sie nicht das Gedächtniß ihrer Tante so sehr geehrt, oder Vivaldi weniger geliebt hätte.

Die Freude über seine Gegenwart, welche die Ueberzeugung, daß er ihr noch nahe sey, verlängerte, war durch diese ängstlichen Rücksichten noch nicht vernichtet, wenn sie auch zuweilen dadurch verdunkelt wurde. Unbesonnen rief sie sich, mit sorgfältigem Bemühn, jeden Blick, den Ton jedes Wortes zurück, welches ihr gesagt hatte, daß seine Liebe noch unvermindert sey, und suchte mit aller Inconsequenz der Leidenschaft, sich von der Fortdauer eben dieser Zärtlichkeit zu überzeugen, die es ihr noch vor einem Augenblicke der Klugheit gemäß schien, zu beklagen, und beinahe nothwendig aufzugeben.

Sie erwartete mit äusserster Ungeduld den Besuch Oliviens, die wahrscheinlich den Ausgang von Vivaldis Gespräch mit der Aebtissin wußte, und ihr sagen konnte, ob er noch im Kloster sey.

Gegen Abend kam Olivia, eine Bothschafterin des Uebels: und Ellena fühlte bei der Nachricht von dem Betragen der Aebtissin und der darauf erfolgten Abreise Vivaldi's all ihren Muth, alle halb gefaßten Entschließungen, welche Rücksicht für seine Familie ihr eingegeben hatte, schwanken, und erlöschen. Fühlbar nur für Schmerz und Niedergeschlagenheit, empfand sie zum erstenmale ganz den Umfang ihrer Zärtlichkeit und der Härte ihrer Lage. Es schien ihr, daß die Ungerechtigkeit, welche seine Familie gegen sie ausgeübt hatte, sie von allen Rücksichten auf ihr Mißfallen, ausser solchen, die sie sich selbst schuldig war, entbinde; allein diese Ueberzeugung konnte ihr jetzt zu nichts helfen.

Olivia äusserte nicht nur den zärtlichsten Antheil an ihrem Wohl, sondern schien auch tief gerührt von ihrer Lage; und es sey nun, daß ihr eignes Unglück einige Aehnlichkeit mit Ellenas Lage hatte, oder daß eine andre Ursache sie bewegte, genug, es war auffallend, daß ihre Augen sich oft mit Thränen füllten, wenn sie ihre junge Freundin ansah, und sie verrieth eine Bewegung, die Ellena selbst in Verwundrung setzte. Doch hatte diese letzte ein zu zartes Gefühl, um einige Neugierde merken zu lassen, und ein näheres Interesse beschäftigte ihr Herz zu sehr, als daß sie bei dem Umstande lange hätte verweilen können.

Sobald Olivia fort war, begab sich Ellena auf ihren Thurm, um ihre Seele durch einen Blick auf die heitre und majestätische Natur zu stärken, ein Mittel, welches selten fehlte, ihr Gemüth zu erheben, und das Bittre ihres Kummers zu mildern. Es war ihr wie eine süße und feierliche Musik, die Frieden über die Seele haucht, gleich Miltons Geiste.

Who with his soft pipe and smooth dittied song
Well knew to still the wild winds when they roar
And hush the waving woods.
Der mit seiner sanften Flöte und seinem süßen harmonischen Gesang das Brausen der wilden Stürme zu stillen, die rauschenden Wälder in Ruhe zu wiegen wußte. [Aus John Miltons »Comus« (1634), V. 86-88. – D.Hg.]

Während sie am Fenster saß, und das Abendlicht auf das Thal strahlen und alle fernen Berge in neblichten Purpur tauchen sah, tönte ein Echo, das eben so süß, wenn auch nicht so phantastisch war, aus den Felsen herauf. Das Instrument und die Melodie waren so, wie in den Mauern der San Stefano, nicht mehr gewohnt zu hören »The instrument and the character of the strain were such as she had been unaccustomed to hear within the walls of San Stefano«: ›Das Instrument und der Charakter der Melodie war sie so innerhalb der Mauern von San Stefano nicht gewohnt‹. – D.Hg., und der Ton goß eine süße Melancholie über ihre Lebensgeister aus, die ihre ganze Aufmerksamkeit fesselte. Die fließende Cadenz schien, indem sie zitternd erstarb, das Trauern eines nicht gemeinen Gefühls »dejection of no vulgar feelings«: ›der Niederschlag von keineswegs ordinären Gefühlen‹. – D.Hg. zu verrathen, und die geschmackvolle Kunst, womit die Noten aufs neue schwollen, überzeugten sie beinahe, daß der Musikus kein andrer als Vivaldi sey. Als sie zum Fenster heraus Hier und an allen übrigen Stellen: Liebeskind kennt nicht den Unterschied der Richtungen bei Bildungen mit hin-/her-: hinaus, heraus, herein, hinein usw.: Wer drinnen ist, schaut hinaus. Wer draußen steht, sieht, dass jemand heraus schaut usw. – D.Hg. sah, bemerkte sie Jemanden auf der Spitze eines untern Felsens, den beinahe kein menschlicher Fuß erklimmen zu können schien, und den nur einiges Strauchwerk, das seine Spitze einfaßte, vor dem Abgrunde unten zu verwahren schien. Die Dämmerung ließ sie nicht sogleich erkennen, ob es Vivaldi war, und die Lage schien so gefährlich, daß sie wünschte, er möchte es nicht seyn. Ihre Zweifel verschwanden, als er herauf sah, Ellena erkannte, und sie seine Stimme hörte.

Vivaldi hatte von einem Layenbruder im Kloster, den Paulo bestach, und der, wenn er im Garten arbeitete, Ellena zuweilen am Fenster gesehn hatte, gehört, daß sie diesen entlegnen Thurm oft besuchte, und hatte sich jetzt mit Gefahr seines Lebens in der Hoffnung, mit ihr reden zu können, dahin gewagt.

Ellena, die für seine Gefahr zitterte, weigerte sich, ihn anzuhören; allein er wollte den Ort nicht verlassen, bis er ihr einen Plan zur Flucht vorgelegt, und sie mit der Versicherung, daß er sie bringen würde, wohin sie wollte, inständig gebeten hatte, sich seiner Sorge anzuvertrauen. Es schien, daß der Layenbruder sich durch die Hoffnung einer reichen Belohnung hatte bewegen lassen, ihn in seinen Absichten zu unterstützen, und ihn diesen Abend in seinem Pilgerkleide in die Mauern des Klosters einzulassen, damit er Gelegenheit haben könnte, Ellenen wieder zu sehn. Er beschwor sie, wo möglich während des Abendessens in das Sprachzimmer des Klosters zu kommen und erklärte ihr in wenig Worten die Ursache seiner Bitte, und folgende nähere Umstände.

Die Aebtissin gab, wie es bei hohen Festen Observanz ist, dem Abt und den Priestern, die der Vesper beigewohnt hatten, eine Mahlzeit. Einige Fremde von Stande und einige Pilger sollten an den Zeitvertreiben dieses Abends Theil nehmen, unter welchen auch ein Concert der Nonnen begriffen war. Bei dieser Bewirthung wurden viele Delikatessen aufgetragen, womit die Schwestern, die in der Pasteten- und Kuchenbäckerei nicht weniger, als im Sticken und in andern sinnreichen Künsten, sich hervorthaten, bereits seit mehrern Tagen beschäftigt gewesen waren. Dieses Souper sollte an dem äussern Sprachzimmer der Aebtissin gegeben werden, während sie selbst in Gesellschaft einiger Nonnen vom hohen Rang, und einiger wenigen Günstlinginnen, an einem Tische im innern Zimmer speiste, wo sie, nur durch das Gitter getrennt, am Gespräch der ehrwürdigen Herren Theil nehmen konnte. Die Tische sollten mit künstlichen Blumen und einer Menge andrer phantastischer Erfindungen ausgeschmückt werden, womit der Scharfsinn der Nonnen sich lange beschäftigt hatte, die sich auf diese Festlichkeit mit eben so vieler Eitelkeit bereiteten, und mit eben so begierigem Entzücken die trübe Eintönigkeit ihres gewöhnlichen Lebens dadurch erheitert zu sehn hofften, als eine junge Schöne bei der Erwartung des ersten Balles voraus genießt.

Da also diesen Abend so viele Personen im Kloster mit Zurüstungen oder mit dem Vergnügen selbst beschäftigt waren, so konnte es Vivaldi nicht schwer werden, sich mit Hilfe des Bruders Eingang zu verschaffen und sich, in sein Pilgerkleid verhüllt, unter die Zuschauer zu mischen. Er bat also Ellena, es so einzurichten, daß sie diesen Abend in der Aebtissin Zimmer seyn könnte, wo er ihr die nähern Umstände über den Plan ihrer Flucht mittheilen und Maulthiere am Fuße des Berges bereit halten wollte, um sie nach der Villa Altieri, oder in das benachbarte Kloster der Santa del Pieta zu bringen. Vivaldi hoffte insgeheim, daß er sie bewegen würde, ihm ihre Hand zu geben, wenn sie San Stefano verließe; allein er enthielt sich, dieser Hoffnung zu erwähnen, damit Ellena es nicht für eine Bedingung halten und sich entweder seinen Beistand anzunehmen, weigern, oder wenn sie ihn annähme, verbunden glauben möchte, eine eilfertige Einwilligung zu geben.

Sie hörte ihn mit mancherlei Bewegung von einer Flucht reden: in einem Augenblick erfüllte es sie mit Hoffnung und Freude, als die einzige Möglichkeit, aus einem Gefängnisse, welches wahrscheinlich für ihre ganze Lebensdauer bestimmt war, befreit und Vivaldi wieder gegeben zu werden; im andern schrack sie vor dem Gedanken zurück, mit ihm davon zu gehen, da seine Familie ihrer Verbindung so durchaus entgegen war. Unfähig, sich in diesem Augenblick zu entschließen, bat sie ihn nur, seine gefährliche Stellung zu verlassen, ehe die zunehmende Dämmerung die Gefahr seines Heruntersteigens vermehrte, und setzte hinzu, sie wollte sich bemühn, Zutritt in der Aebtissin Zimmer zu erhalten, und ihm dann ihren bestimmten Entschluß sagen. Vivaldi verstand alle Feinheit ihrer Bedenklichkeiten, und ohngeachtet sie ihn schmerzten, ehrte er doch das richtige Gefühl und den edeln Stolz, der sie eingab.

Er zögerte bis zu den letzten Augenblicken des scheidenden Lichtes auf dem Felsen und sagte dann mit einem zwischen Hoffnung und Furcht klopfendem Herzen, Ellenen Lebewohl. Sie sah ihm nach, wie er durch das stumme Dunkel hinabstieg, erkannte nur undeutlich, wie er am Rande des Abgrundes hinunter glitt, und seinen kühnen Weg von Klippe zu Klippe bahnte, bis die verschlungnen Gebüsche ihn ihrem Blick entzogen. Noch immer besorgt, blieb sie am Fenster; allein sie sah ihn nicht mehr; keine Stimme verkündigte einen Unfall und sie kehrte endlich in ihre Zelle zurück, um über seinen Vorschlag nachzudenken.

Olivia, deren Wesen etwas Außerordentliches ankündigte, unterbrach ihre Betrachtungen. Die gewöhnliche Ruhe war von dem Gesichte der Nonne geschwunden und Schmerz und Besorgniß sprachen daraus. Ehe sie redete, sah sie sich sorgfältig im Gange und in der Zelle um.

»Es ist, wie ich fürchtete,« sagte sie, »mein Verdacht hat sich bestätigt; Sie werden aufgeopfert, mein Kind, wofern es nicht eine Möglichkeit ist, daß Sie noch heute das Kloster verlassen.«

»Was meinen Sie?« sagte die erschrockne Ellena.

»Ich habe eben erfahren,« fuhr die Nonne fort, »das Ihr Betragen diesen Morgen, welches man als eine vorausbedachte Beleidigung gegen die Aebtissin aufgenommen hat, mit so genannter Gefangenschaft gestraft werden soll, ach, warum soll ich die Wahrheit mildern! mit dem, was ich für den Tod selbst halte: denn wer kam wohl je aus dieser scheuslichen Kammer lebendig zurück!«

»Mit dem Tode!« rief Ellena leichenblaß. »O Himmel, womit habe ich den Tod verdient!«

»Davon ist nicht die Rede, meine Tochter, sondern wie Sie ihm entgehn können. In den tiefsten Höhlen unsers Klosters ist eine mit eisernen Thüren verwahrte steinerne Kammer, wohin zu Zeiten die Unglücklichen aus der Schwesterschaft, die sich eines abscheulichen Verbrechens schuldig machten, gebracht worden sind. Diese Verurtheilung läßt keine Milderung zu. Die unglückliche Gefangne muß in Ketten und Dunkelheit schmachten, und erhält nur so viel Wasser und Brod, als gerade hinreicht, ihr Leiden zu verlängern, bis endlich die Natur dem unerträglichen Drucke erliegt und im Tode Zuflucht sucht. Unsre Geschichtsbücher erzählen verschiedne Beispiele solcher schrecklichen Strafen, die gewöhnlich Nonnen auferlegt wurden, welche des Lebens müde, das sie in den ersten Täuschungen der Einbildungskraft wählten, oder durch die Strenge ihrer Eltern gezwungen, annehmen mußten, auf einer Flucht aus dem Kloster ertappt wurden.«

Die Nonne schwieg; da aber Ellena in stummes Nachdenken versunken blieb, fuhr sie fort:

»Ein klägliches Beispiel dieser Härte ist zu meiner Zeit geschehn. Ich sah das elende Schlachtopfer in jene Höhle treten, um sie nie wieder lebendig zu verlassen! Ich sah auch ihre armseligen Ueberreste im Klostergarten begraben! Zwei Jahre lang schmachtete sie auf einem Strohlager, wo ihr sogar der elende Trost versagt wurde, mit denjenigen Schwestern zu sprechen, die Mitleid für sie fühlten, und ach! wer hätte es nicht fühlen sollen! Eine harte Strafe wurde den Nonnen gedroht, die sich in irgend einer erbarmenden Absicht ihr nahten! Gott sey Dank, ich setzte mich dieser Strafe aus und ertrug sie mit geheimem Triumph!«

Ein Strahl von Zufriedenheit fuhr über Oliviens Gesicht, als sie dies sagte; es war der süßeste Ausdruck, den Ellena noch je darauf gesehn hatte. Mit sympathetischer Rührung warf sie sich an den Busen der Nonne und weinte. Beide schwiegen einige Augenblicke. Endlich sagte Olivia:

»Glauben Sie nicht, mein Kind, daß die dienstfertige und beleidigte Aebtissin Ihren Ungehorsam bereitwillig zum Vorwande nehmen wird, Sie in diesem unglücklichen Zimmer einzusperren? Die Wünsche der Marquise werden dadurch aufs sicherste erfüllt werden, ohne daß man sich die Mühe zu geben braucht, Sie zur Ablegung des Gelübdes zu zwingen. Ach! ich habe nur zu bestimmte Beweise von ihrer Absicht erfahren; der morgende Tag ist zu ihrem Opfer bestimmt, und vielleicht haben Sie es nur der Unruhe des Festes zu verdanken, daß man die Ausführung des Urtheils bis Morgen verschoben hat.«

Ellena antwortete nur mit Schluchzen; ihr Kopf lag noch immer am Halse der Nonne; sie überlegte jetzt nicht mehr, ob sie Vivaldis Beistand annehmen sollte, sondern fürchtete nur trostlos, daß sein äußerstes Bemühn, sie zu befreien, vergebens seyn würde.

Olivia, welche die Ursache ihres Stillschweigens mißverstand, setzte hinzu:

»Ich könnte Ihnen noch andre Winke geben, die eben so stark als schrecklich sind, aber ich will mich enthalten. Sagen Sie mir nur, auf welche Art ich Ihnen beistehn kann? Ich will mich gerne einer zweiten Züchtigung aussetzen, wenn ich mich bemühe, ein zweites Schlachtopfer zu retten.«

Ellenas Thränen flossen reichlich über diesen neuen Beweis der Großmuth.

»Aber wenn man entdeckte, daß Sie mir geholfen hätten, das Kloster zu verlassen,« sagte sie mit einer von Dankbarkeit bebenden Stimme – »O! wenn man Sie entdeckte –«

»Ich kann die Strafe voraus bestimmen,« antwortete Olivia mit Festigkeit, »und fürchte nicht, mich ihr auszusetzen.«

»Edle, großmüthige Seele!« sagte die weinende Ellena; »ich sollte nicht zugeben, daß Sie so unbekümmert um sich selbst sind!«

»Mein Betragen ist nicht ganz uneigennützig,« erwiederte die Nonne bescheiden: »denn mich dünkt, ich könnte mit mehr Stärke jede Strafe ertragen, als den schneidenden Schmerz, solches Leiden, wovon ich Zeuge war, noch einmal anzusehn. Was sind körperliche Strafen in Vergleich mit den feinern, durchdringendern Quaalen der Seele! Der Himmel weiß, ich kann mein eignes Leiden, aber nicht den Anblick fremder Quaal, wenn sie alle Gränzen übersteigt, ertragen. Ich glaube, ich könnte die Folter überstehn, wenn mein Geist durch das Bewußtseyn eines edeln Zweckes gestärkt würde: das Mitleid aber berührt eine Nerve, die augenblicklich zum Herzen zittert und allen Widerstand niederreißt. Ja, mein Kind, der Schmerz des Mitleids ist schärfer als jeder andre, Gewissensbisse ausgenommen; und selbst bei Gewissensbissen ist es vielleicht dasselbe fruchtlose Mitleid, welches den Stachel schärft. Aber während ich diesem Egoismus nachhänge, vermehre ich vielleicht Ihre Gefahr des Leidens, das ich herabsetze.«

Durch Oliviens großmüthiges Mitleid aufgemuntert, erzählte ihr Ellena den Inhalt ihres Gesprächs mit Vivaldi und zog sie zu Rathe, ob es wohl angienge, daß sie sich Zutritt in der Aebtissin Sprachzimmer verschaffte.

Neu belebt durch diese Nachricht, rieth ihr Olivia, sich nicht nur zum Abendessen in das Zimmer zu begeben, sondern auch vorher dem Concerte beizuwohnen, wo verschiedne Fremde würden zugelassen werden, unter welche Vivaldi sich wahrscheinlich mischen würde. Ellena wandte nur ein, daß sie von der Aebtissin bemerkt zu werden und sogleich herausgewiesen zu werden fürchtete; allein Olivia stillte ihre Besorgniß; sie both ihr an, sie in einen Nonnenschleier zu verkleiden und sie nicht nur ins Zimmer zu führen, sondern ihr auch auf alle Art zu ihrem Fortkommen behülflich zu seyn.

»Es ist nicht wahrscheinlich, daß man Sie unter den vielen Nonnen erkennen würde,« setzte Olivia hinzu; »wenn auch »even if«: ›auch dann, wenn …‹ – D.Hg. die Schwestern weniger mit dem Vergnügen beschäftigt wären und die Aebtissin Zeit hätte, zu forschen. Allein Dem Original ist diese Formulierung fremd. »As it is« setzt im Gegenteil die Unterstreichung der Gefahrlosigkeit nur fort. Statt »Allein« müsste der Anschluss also richtiger »Jedenfalls« o.ä. lauten. – D.Hg. unter den heutigen Umständen haben Sie keine Entdeckung zu fürchten; die Aebtissin, wenn sie überhaupt an Sie denkt, wird glauben, daß Sie noch immer in Ihrer Zelle gefangen sitzen; allein dieser Abend ist zu wichtig für ihre Eitelkeit, als daß irgend eine Rücksicht, die nicht mit diesem Gefühl in Zusammenhang steht, ihre Aufmerksamkeit beschäftigen sollte. Lassen Sie sich also durch Hoffnung aufrichten, mein Kind, und halten Sie einige Zeilen bereit, um Vivaldi mit ihrer Einwilligung in seinen Vorschlag und mit den dringenden Umständen bekannt zu machen. Vielleicht finden Sie Gelegenheit, sie ihm durchs Gitter zu geben.«

Sie waren noch im Gespräch begriffen, als eine besondre Glocke läutete, die, wie Olivia sagte, die Nonnen in den Concertsaal rufen sollte. Sie eilte sogleich, einen schwarzen Schleier zu holen, während Ellena ein paar Zellen für Vivaldi schrieb.

 

Ende des ersten Bandes.

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