Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Im Jahr 1764 kamen ein Paar Engländer, die Italien durchreisten, auf einem ihrer Spaziergänge um Neapel zufällig an die Kirche Santa Maria del Pianto, die zu einem sehr alten Kloster vom Orden der Schwarzen Büßenden gehört. So viel auch die Pracht des Portico's, vor dem sie stehn blieben, durch die Zeit gelitten hatte, erregte es doch ihre Bewunderung so sehr, daß sie, voll Neugierde, das Gebäude selbst zu sehn, die Marmorstufen, die dahin führten, hinabstiegen.
Im Schatten des Portico's sahn sie jemand mit übereinander geschlagenen Armen und zur Erde gesenktem Blick hinter den Pfeilern an der Mauer hingehn; er schien so in Gedanken vertieft, daß er die Annäherung der Fremden gar nicht merkte; plötzlich aber schien der Schall ihrer Fußtritte ihn aufzuschrecken; er drehte sich um und entschlüpfte schnell durch eine Thüre, die in die Kirche führte, ihren Augen.
In der Gestalt dieses Mannes lag etwas zu Außerordentliches und sein Betragen war zu sonderbar, um den Fremden nicht aufzufallen Er war lang und hager von Figur und trug sich vorn übergebogen; seine Farbe war bleich und seine Züge stark; sein Auge sah mit wildem Ausdruck unter dem Mantel hervor, der den untern Theil seines Gesichtes einhüllte.
Als die Reisenden in die Kirche traten, sahn sie sich allenthalben nach dem Fremden um, der vor ihnen hereingegangen war, allein sie konnten ihn nirgends erblicken und nur eine einzige andre Person erschien im ganzen Schatten der langen Gänge. Es war ein Mönch aus dem benachbarten Kloster, der zuweilen Fremden die Kirche zu zeigen pflegte, und sich auch jetzt in dieser Absicht der Gesellschaft näherte.
Das Innere dieses Gebäudes hatte nichts von den prächtigen Zierrathen und dem überall verbreiteten Glanze, wodurch die Kirchen in Italien und besonders in Neapel sich auszeichnen; allein die Anlage hatte etwas Einfaches und Großes, das für Personen vom Geschmack weit anziehender ist, und die Vertheilung von Licht und Schatten verbreitete eine Feierlichkeit, die weit wirksamer ist, den erhabenen Schwung der Andacht zu befördern.
Als die Gesellschaft die Heiligenschreine und andern Merkwürdigkeiten besehn hatte, und durch einen dunkeln Gang nach dem Portico zurückkehren wollte, sahn sie den Unbekannten nach einem Beichtstuhle zur Linken gehn; einer von den Fremden zeigte ihn dem Mönch, als er eben hinein trat, und fragte, wer es wäre? Der Mönch sah sich nach ihm um, ohne die Frage sogleich zu beantworten; da sie aber wiederholt wurde, neigte er mit einem gewissen Gehorsam den Kopf und sagte ganz ruhig: »es ist ein Mörder.«
» Ein Mörder!« rief einer von den Engländern, »ein Mörder! und geht frei umher!
– Ein Italiener von ihrer Gesellschaft lächelte über seines Freundes Verwunderung.
»Er hat Zuflucht hier gesucht,« erwiederte der Mönch; »innerhalb dieser Mauern ist er unverletzlich gesichert.«
»Eure Altäre beschützen also Mörder!« sagte der Engländer.
»Er konnte sonst nirgends Zuflucht finden,« antwortete der Mönch gelassen.
»Das ist doch erstaunlich!« sagte der Engländer. »Was helfen Eure Gesetze, wenn der abscheulichste Verbrecher auf solche Art Schutz vor ihnen finden kann! Aber wie kann er sich hier erhalten? Wenigstens setzt er sich doch der Gefahr aus, Hungers zu sterben.«
»Verzeihen Sie,« sagte der Mönch; »es finden sich immer Personen, die geneigt sind, denjenigen zu helfen, die sich selbst nicht helfen können. Weil der Verbrecher die Kirche nicht verlassen darf, um sich Essen zu holen, so bringen sie es ihm hierher.«
»Ist es möglich« sagte der Engländer, und wandte sich zu seinem italienischen Freunde.
»Nun, der arme Kerl darf doch nicht gerade Hungers sterben,« versetzte sein Freund, »und das müßte er ohnfehlbar, wenn man ihm nichts zu essen brächte. Aber sollten Sie seit Ihrem Aufenthalt in Italien noch nie einen Menschen in ähnlicher Lage gesehn haben? Das ist ja gar nichts ungewöhnliches!«
»Noch nie in meinem Leben,« sagte der Engländer, »und ich kann auch jetzt kaum meinen Augen trauen.«
»Mein Freund,« merkte der Italiener an, »Mordthaten geschehen so häufig unter uns, daß unsre Städte halb entvölkert seyn würden, wenn wir kein Mitleid mit solchen unglücklichen Menschen haben wollten.«
– Eine ernsthafte Verbeugung war alles, was der Engländer auf diese gründliche Bemerkung zu sagen hatte. –
»Aber bemerken Sie doch einmal jenen Beichtstuhl hinter den Pfeilern zur Linken des Ganges, unter dem gemahlten Fenster dort,« setzte der Italiener hinzu. »Haben Sie ihn bemerkt? Das bunt gemahlte Glas wirft statt des Lichtes einen Schatten auf den Theil der Kirche, der Sie vielleicht hindert zu erkennen, was ich meine.«
Der Engländer sah hin und bemerkte einen Beichtstuhl von Eichen- oder anderm dunkeln Holz dicht an der Mauer; zugleich bemerkte er, daß es derselbe war, in welchen der Mörder sich eben begeben hatte. Er bestand aus drei Abtheilungen, von einem schwarzen Thronhimmel bedeckt. In der mittlern befand sich der Stuhl des Beichtvaters, einige Stufen hoch über den Boden erhaben; und an jeder Seite war ein kleines Behältniß mit Stufen, die zu einem Gitter führten, wo der Büßende knien, und der Beobachtung entzogen, das Bewußtseyn von Verbrechen, die schwer auf seinem Herzen lagen, in das Ohr des Beichtvaters ausgießen konnte.
»Sie bemerken ihn?« sagte der Italiener.
»Ja,« erwiederte der Engländer, »es ist derselbe in welchen der Mörder gieng, und es scheint mir der dunkelste Ort, den ich je sah. Der bloße Anblick ist schon genug, einen Verbrecher in Verzweiflung zu stürzen.«
»In Italien sind wir nicht so geneigt zum Verzweifeln,« versetzte der Italiener lächelnd.
»Nun aber was wollen sie mit diesem Beichtstuhl?« fragte der Engländer – »Der Mörder gieng hinein!«
»Das, was ich weine, geht diesen Menschen nichts an,« sagte der Italiener; »ich wünschte nur Ihnen den Ort bemerklich zu machen, weil man sehr sonderbare Dinge davon erzählt.«
»Wie so?« sagte der Engländer.
»Es sind nun verschiedne Jahre, daß die Beichte, die mit diesen Umständen zusammenhängt, hier in diesem Beichtstuhle abgelegt wurde;« setzte der Italiener hinzu. »Der Anblick desselben, dieser Mörder, und ihre Verwunderung über die Freyheit, die man ihm vergönnt, erinnerte mich an die Geschichte. Wenn Sie in Ihren Gasthof zurück kehren und nichts bessers zu thun haben, will ich sie Ihnen mittheilen.«
»Ich bin sehr neugierig darauf,« erwiederte der Engländer, »können Sie es nicht gleich erzählen?«
»Es ist zu lang – die Erzählung würde eine ganze Woche erfordern; ich habe sie im Manuscript und will sie Ihnen schicken. Ein junger Student aus Padua, der kurz darauf, als diese schreckliche Beichte bekannt wurde, nach Neapel kam –«
»Um Verzeihung.« unterbrach ihn der Engländer, »das klingt allerdings etwas auffallend. Ich glaubte, jeder Priester müßte eine Beichte als ein heiliges Geheimniß bey sich behalten.«
»Sie haben ganz Recht,« versetzte der Italiener; »der Priester darf nie seine Treue verletzen; es sey denn auf besondern Befehl einer höhern Macht; und selbst dann müssen die Umstände ganz außerordentlich seyn, um eine solche Abweichung vom Gesetz zu rechtfertigen. Sobald Sie die Erzählung lesen, wird Ihre Verwunderung aufhören. – Ich wollte sagen, daß diese Sache auf einen Studenten aus Padua, der kurz nachher hier war, einen solchen Eindruck machte, daß er theils zu seiner eignen Uebung, theils aus Erkenntlichkeit für einige kleine Gefälligkeiten, die ich ihm erzeigt hatte, sie für mich zu Papier brachte. Sie werden finden, daß er in der Kunst der Zusammenfügung noch ein Stümper war; allein es wird Ihnen nur um die Sache selbst in thun seyn, und dieser ist er treu geblieben. Aber kommen Sie, lassen Sie uns aus der Kirche gehn!«
»Sobald ich noch einmal dieses feierliche Gebäude, und besonders den Beichtstuhl, auf den Sie mich aufmerksam machten, werde betrachtet haben.«
Während der Engländer mit seinem Auge die hoch gewölbten Decken und feierlichen Perspektiven der Santa del Pianta durchlief, sah er den Mörder aus dem Beichtstuhl quer über das Chor schleichen; es machte ihm einen unangenehmen Eindruck, diesen Menschen wieder zu sehn, er wandte die Augen ab und verließ eilends die Kirche.
Die Freunde trennten sich, und der Engländer war noch nicht lange in seinem Gasthofe angekommen, als er den Band erhielt, worin er folgendes las: