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Achtes Kapitel.

Who may she be that steals through yonder cloister,
And, as the beam of evening tints her veil,
Unconsciously discloses faintly, features
Inform'd with the high soul of saintly virtue? »Wer mag sie seyn, die sich durch jenen Klostergang schleicht? deren Schleier vom Abendlichte gefärbt ist, während sie, sich selbst unbewußt, die Züge einer Heiligen, beseelt vom hohen Geiste überirrdischer Andacht enthüllt!«

Verschiedne Tage nach Ellenas Ankunft im Kloster San Stefano erlaubte man ihr nicht, das Zimmer zu verlassen. Die Thüre wurde hinter ihr zugeschlossen und Niemand erschien, außer der Nonne, die sie zuerst ins Zimmer der Aebtissin geführt hatte, und die ihr jetzt täglich eine sparsame Mahlzeit brachte.

Am vierten Tage, wo man wahrscheinlich glaubte, daß ihr Muth durch ihre Gefangenschaft und durch die Betrachtung des Leidens, das sie vom Widerstande zu erwarten hatte, etwas gedämpft sey, wurde sie ins Sprachzimmer gerufen. Die Aebtissin war allein und der strenge Blick, den sie auf Ellena warf, bereitete diese vor, sich auf alles gefaßt zu machen.

Nach einer Strafpredigt über die Abscheulichkeit ihres Verbrechens und einer weitläuftigen Erörterung, wie nothwendig es sey, die Ruhe und Würde eines edeln Hauses zu sichern, die durch ihre Unbesonnenheit hätte zu Grunde gerichtet werden können; benachrichtigte die Aebtissin Ellenen, daß sie sich entweder entschließen müßte, den Schleier, oder den Mann zu nehmen, den die Marquise di Vivaldi die große Güte gehabt hätte, für sie zu wählen.

»Sie können der Marquise nie dankbar genug für die Großmuth seyn,« setzte die Aebtissin hinzu, »die sie Ihnen dadurch beweist, daß sie Ihnen diese Wahl erlaubt. Nach der Schmach, die Sie ihr und ihrer Familie anthun wollten, konnten Sie nicht erwarten, daß man irgend eine Nachsicht gegen Sie haben würde. Es war natürlich zu vermuthen, daß die Marquise Sie mit Strenge strafen würde; statt dessen erlaubt sie Ihnen, in unsre geheiligte Gesellschaft zu treten; oder wenn Sie nicht Stärke der Seele genug besitzen, um einer sündigen Welt zu entsagen, so verstattet sie Ihnen in dieselbe zurück zu kehren, und giebt Ihnen einen angemessenen Gefährten, um Ihnen die Sorgen und Mühseligkeiten darin tragen zu helfen – ein Gefährter, der Ihren Umständen weit angemeßner ist, als derjenige, auf welchen Sie die Verwegenheit hatten, Ihr Auge zu richten.«

Ellena erröthete über diese plumpe Kränkung ihres Stolzes und beobachtete ein verächtliches Stillschweigen. Es erregte ihren gerechten Unwillen, daß man auf solche Art der Ungerechtigkeit die Farbe des Mitleids, und der abscheulichsten Tyranney den sanften Anstrich von Großmuth gab. Indessen befremdete diese Eröffnung der Absichten, die man mit ihr hatte, sie nicht; denn sie hatte vom Augenblick ihrer Ankunft zu San Stefano an, etwas schrecklich Strenges erwartet, und sich darauf gefaßt gemacht: sie hoffte, durch Standhaftigkeit die Bosheit ihrer Feinde zu ermüden und endlich ihr Mißgeschick zu besiegen. Nur wenn sie an Vivaldi dachte, verlor sie den Muth und fühlte ihr Leiden zu bitter, um es lange zu ertragen.

»Sie schweigen!« sagte die Aebtissin, nach einer Pause der Erwartung. »Ist es möglich, daß Sie undankbar gegen die Großmuth der Marquise seyn können! Allein wenn Sie gleich jetzt fühllos gegen ihre Güte sind, so will ich mich doch enthalten, Ihre Unbesonnenheit zu benutzen und will Ihnen die Wahl noch frei lassen. Sie können sich in Ihr Zimmer begeben, um zu überlegen und zu entscheiden. Allein erinnern Sie sich, daß es bei dem Entschluß, den Sie erklären, bleiben muß, und daß Ihnen kein Ausweg von der Wahl, die man Ihnen vorlegt, erlaubt werden wird. Wenn Sie den Schleier verwerfen, so müssen sie den Mann nehmen, den man Ihnen anträgt.«

»Es wäre unnöthig,« sagte Ellena mit ruhiger Würde, »mich fortzubegeben, um zu überlegen und zu entscheiden. Mein Entschluß ist bereits gefaßt; ich verwerfe jede der dargebothnen Wahlen. Ich will mich weder zu einem Kloster, noch zu der Herabwürdigung, die mir auf der andern Seite gedroht wird, verdammen. Nach dieser Erklärung bin ich gefaßt, alles Leiden zu ertragen, was Sie mir auflegen werden; aber seyn Sie versichert, daß meine eigne Stimme nie die Uebel bekräftigen wird, die mir bevorstehn können; und daß die unsterbliche Liebe der Gerechtigkeit, die mein ganzes Herz erfüllt, meinen Muth nicht weniger mächtig unterstützen wird, als das Gefühl dessen, was ich mir selbst schuldig bin. Sie wissen nun meine Gesinnungen und meine Entschlüsse; ich werde sie nicht mehr wiederholen.«

Die Aebtissin, deren Erstaunen Ellena so lange hatte reden lassen, heftete einen finstern Blick auf sie, indem sie sagte:

»Wo haben Sie diese heroischen Reden und die Raschheit gelernt, die Sie so schnell macht, sie zu erklären! – die Kühnheit, welche Sie fähig macht, Ihre Priorin, eine Priesterin der heiligen Religion, die Sie ebenfalls bekennen, sogar in ihrem Heiligthume zu beleidigen?«

»Das Heiligthum ist entweiht,« sagte Ellena sanft, aber mit Würde: »es ist ein Gefängniß geworden. Nur dann, wenn die Priorin aufhört, die Vorschriften der heiligen Religion zu ehren, welche ihr Gerechtigkeit und Wohlwollen lehren, wird sie nicht länger geehrt. Dasselbe Gefühl, welches uns vorschreibt, ihre sanften und wohlthätigen Gesetze zu verehren, gebiethet uns auch, die Uebertreter derselben zu verachten; wenn Sie mir befehlen, meine Religion zu verehren, so sprechen Sie sich selbst das Urtheil.«

»Fort,« sagte die Aebtissin, die aufgebracht vom Stuhle aufstand. »Ihre so schicklich gewählte Ermahnung soll nicht vergessen werden.«

Ellena gehorchte willig und wurde in ihre Zelle zurückgeführt, wo sie sich nachdenkend niedersetzte, und ihr Betragen durchgieng. Ihr Urtheil billigte die Freimüthigkeit, womit sie ihre Rechte behauptet hatte, und die Festigkeit, womit sie einer Frau Vorwürfe machte, die es wagte, von dem Schlachtopfer ihrer Grausamkeit und Unterdrückung selbst noch Achtung zu fordern. Sie war um so zufriedner mit sich selbst‚ weil sie keinen Augenblick ihre eigne Würde so weit vergessen hatte, in Zorn zu gerathen, oder aus furchtsamer Schwäche zu stammeln. Ellena hatte eine zu volle Ueberzeugung von dem unwürdigen Charakter der Aebtissin, um sich in ihrer Gegenwart erniedrigt zu fühlen: sie achtete nur den Tadel der Guten, wofür sie stets eine eben so zarte Fühlbarkeit gehabt hatte, als gleichgültig sie gegen das Urtheil der Lasterhaften war.

Da Ellena nunmehr ihren Entschluß erklärt hatte, beschloß sie, wo möglich, alle Wiederholung ähnlicher Auftritte zu vermeiden, und alle Unwürdigkeiten, die man ihr noch anthun konnte, blos mit Stillschweigen zu beantworten. Sie wußte, daß sie leiden mußte, und war entschlossen zu leiden. Von den drei Uebeln, die sie vor sich sah, schien Gefangenschaft mit allen ihren traurigen Begleitern, ihr weit weniger hart, als die angedrohte Heirath, oder eine förmliche Entsagung der Welt; beides mußte sie lebenslänglich zum Elend und zwar durch ihre eigne Mitwürkung verdammen. Ihre Wahl war also leicht gefaßt, und der Weg lag deutlich vor ihr. Wenn sie mit Gleichmuth die Härte, der sie nicht entgehen konnte, ertrug, so konnte sie ihr Gewicht nur halb fühlen; und sie bemühte sich aufs ernstlichste, die Stärke der Seele zu erlangen, deren sie bedurfte, um diesen Gleichmuth zu unterstützen.

Sie wurde verschiedne Tage nach der letzten Zusammenkunft mit der Aebtissin in enger Gefangenschaft gehalten, am fünften Abend aber erlaubte man ihr, die Vesper zu besuchen. Als sie durch den Garten nach der Kapelle gieng, war die wohlthätige Kühle der freien Luft und das Grün der Bäume und Gesträuche ein festlicher Genuß für sie, der man den gewöhnlichen Segen der Natur so lange entzogen hatte. Sie folgte den Nonnen in eine Kapelle, wo sie gewöhnlich ihre Andacht hielten und bekam ihren Platz unter den Novitzen. Das Feierliche des Gottesdienstes, und vorzüglich der Theil desselben, welchen die Musik begleitet, bewegte ihr ganzes Herz und besänftigte und erhub ihren Geist.

Unter den Stimmen des Chors war eine, deren Ausdruck sogleich ihre Aufmerksamkeit fesselte: sie schien höhere Gefühle der Andacht zu athmen als die übrigen, und von der Schwermuth eines Herzens modulirt zu werden, das längst Abschied von dieser Welt genommen hatte. Wenn sie mit den hohen Accorden der Orgel schwoll oder sich in leisen und zitternden Tönen mit dem sinkenden Chor verlor, so fühlte Ellena, daß sie alle Empfindungen der Brust, aus welcher sie quoll, verstand; sie sah nach der Gallerie, wo die Nonnen versammlet waren, um ein Gesicht zu entdecken, das mit der Fühlbarkeit dieser Stimme überein zu stimmen schien.

Da keine Fremde in der Kapelle zugelassen waren, hatten einige von den Schwestern ihren Schleier zurück geworfen, aber sie sah auf ihren verschiednen Gesichtern wenig, das sie interessirte: nur die Gestalt und Stellung einer Nonne, die in einer fernen Ecke der Gallerie unter einer Lampe kniete, die ihre Strahlen um ihr Haupt warf, kam vollkommen mit dem Bilde überein, das sie sich von der Sängerin gemacht hatte, und der Ton schien unmittelbar von der Seite zu kommen. Ihr Gesicht war in einen schwachen Schleier gehüllt, dessen Klarheit ihre schöne Gesichtsfarbe durchschimmern ließ; allein die Haltung ihres Kopfes und das Auszeichnende ihrer Stellung – denn sie war die einzige Knieende – verrieth hinlänglich den hohen Grad von Inbrunst und Buße, den die Stimme ausgedrückt hatte.

Als die Hymne geendigt war, stand sie von ihren Knien auf und Ellena entdeckte bald darauf, da sie ihren Schleier zurückwarf, bei der Lampe, die ihr volles Licht über ihre Züge ausströmte, ein Gesicht, das ihre Vermuthung sogleich bestätigte. Eine melancholische Ergebung bezeichnete es; doch schien der Kummer noch immer die Blässe und den schmachtenden Ausdruck zu verursachen, der sich darüber verbreitete, und nur in solchen Augenblicken verschwand, wenn die Gluth der Andacht ihren Geist über diese Welt hinaus zu heben und ihm etwas von Seraphsgröße mitzutheilen schien. Ihre blauen Augen waren jetzt mit einer so sanften und doch innigen Liebe, mit einem so erhabnen Enthusiasmus zum Himmel gerichtet, als man auf Guido's Guido Reni, genannt ›il Guido‹ (1575-1642), bedeutender italienischer Maler des Barock. Köpfen ausgedrückt sieht, und erneuerten bei Ellena alle bezaubernde Wirkung der Stimme, die sie eben gehört hatte.

Während sie die Nonne mit einem Antheil betrachtete, der sie für alle andern Gegenstände in der Kapelle unempfindlich machte, glaubte sie zu entdecken, daß die Ruhe auf ihrem Gesicht mehr Verzweiflung als Ergebung war: wenn das Gebeth nicht ihre Gedanken erhob, war oft in ihrem Blick etwas Starres, zu stark für gewöhnliches Leiden oder für die Stimmung eines Gemüthes, das zu vollkommner Ergebung gebracht ist. Dieser Blick hatte so viel, was Ellenas Mitgefühl rege machte, so viel, was eine Gleichheit der Empfindung zu verrathen schien, daß sie sich getröstet und gewissermaßen gestärkt fühlte, wenn sie darauf verweilte: eine Selbstsüchtigkeit, die vielleicht verzeihlich ist, wenn man bedenkt, daß sie doch jetzt wußte, es sey wenigstens ein menschliches Wesen im Kloster, das fähig seyn müßte, Mitleid zu fühlen, und Trost zu ertheilen. Ellena suchte ihrem Auge zu begegnen, um ihr die Empfindung, die sie ihr eingeflößt hatte, und ihr eignes Unglück zu erkennen zu geben; allein die Nonne war so ganz mit Andacht beschäftigt, daß es ihr nicht gelang.

Als sie aber die Kapelle verließen, kam die Nonne dicht an Ellena vorbei, die ihren Schleier zurückschlug und einen so flehenden und ausdrucksvollen Blick auf sie heftete, daß die Nonne still stand und die Novitze ihrer Seits wiederum nicht nur mit Verwundrung, sondern mit einer Mischung von Neugier und Mitleid betrachtete. Ein schwaches Erröthen zitterte über ihre Wangen, ihre Lebensgeister schienen zu wanken, und es wurde ihr schwer, den Blick von Ellena abzuziehn; allein sie mußte in der Prozession bleiben, und gieng mit einem Scheideblick ohnmächtigen Mitleids dem Hofe zu. Ellena folgte mit immer auf die Schwester gerichteter Aufmerksamkeit, die bald unter dem Thorwege von der Aebtissin Zimmer verschwand; Ellena hatte beinahe das ihrige erreicht, ehe sie ihrer Gedanken mächtig genug war, um sich nach dem Namen der Nonne zu erkundigen.

»Sie meinen vielleicht die Schwester Olivia,« sagt ihre Führerin.

»Sie ist sehr schön,« sagte Ellena.

»Das sind viele von den Schwestern,« erwiederte Margaritone etwas pickirt.

»Ganz gewiß,« antwortete Ellena, »aber die, welche ich meine, hat ein sehr rührendes Gesicht: freimüthig, edel, voll Gefühl, und in ihrem Auge liegt eine gewisse Schwermuth, welche alle, die sie bemerken, interessiren muß.«

Ellena war von dieser interessanten Nonne bezaubert, und vergaß, daß sie einer Person sie beschrieb, deren steinernes Herz für den Ausdruck jedes Gesichtes stumpf war, das gebieterische Gesicht der Aebtissin vielleicht ausgenommen; und für die folglich eine Beschreibung der schönen Züge, die Ellenen entzückten, eben so unverständlich war, als eine arabische Zuschrift.

»Sie ist nicht mehr in der ersten Blüthe der Jugend,« fuhr Ellena fort, die sich noch immer Mühe gab, sich verständlich zu machen; »allein sie hat alle ihre rührende Grazie behalten, erhöht durch die Würde –«

»Wenn Sie meinen, daß sie von mittlerm Alter ist, so kann es keine andre als Schwester Olivia seyn: denn wir sind alle jünger als sie.«

Ellenens Augen, die sich, fast ohne daß sie es wußte, bei diesen Worten in die Höhe richteten, fielen auf ein blaßgelbes, mageres Gesicht, das schon seit fünfzig Jahren diese Welt zu bewohnen schien, und sie konnte kaum ihre Verwundrung unterdrücken, eine so elende Eitelkeit unter den ertödteten Leidenschaften einer so zurückstoßenden Figur und in dem abgesonderten Schatten eines Klosters zu finden. Margaritone, noch immer eifersüchtig über Oliviens Lob, wies alle weitern Fragen zurück, und sobald sie die Zelle erreicht hatten, schloß sie Ellenen für die Nacht ein.

Am folgenden Abend wurde es Ellenen wieder erlaubt, der Vesper beizuwohnen, und auf dem Wege nach der Kapelle belebte die Hoffnung, ihren interessanten Liebling zu sehn, ihren Geist. Sie erschien auf derselben Seite der Gallerie, wie den Abend zuvor, und kniete wieder unter derselben Lampe in stillem Gebeth; denn der Gottesdienst war noch nicht angefangen.

Ellena suchte die Ungeduld, die sie fühlte, ihre Empfindung auszudrücken und von der heiligen Schwester bemerkt zu werden, so lange zu unterdrücken, bis sie ihr Gebeth geendigt hatte. Als die Nonne aufstand, und Ellena gewahr ward, hob sie den Schleier auf, und indem sie dasselbe forschende Auge auf sie heftete, klärte sich ihr Gesicht zu einem Lächeln so voll Mitleid und Ausdruck auf, daß Ellena den Anstand des Ortes vergessend ihren Sitz verließ, um sich ihr zu nähern: es schien, als wenn die Seele, die aus diesem Lächeln hervorstrahlte, lange verschwistert mit der ihrigen gewesen wäre. – So wie sie sich näherte, ließ die Nonne den Schleier fallen; ein Vorwurf, den Ellena sogleich verstand und sich auf ihren Sitz zurückzog; allein ihre Aufmerksamkeit blieb während des ganzen Gottesdienstes fast und einzig auf die Nonne gerichtet.

Beim Schlusse, als sie die Kapelle verließen, und sie Olivien vorüber gehn sah, ohne sie zu bemerken, konnte sie kaum ihre Thränen zurückhalten: sie kam in tiefer Niedergeschlagenheit nach ihrem Zimmer. Die Aufmerksamkeit dieser Nonne war ihrem Herzen nicht nur süß, sondern auch nothwendig: sie verweilte mit zärtlichem Entzücken bei dem Lächeln, welches so viel ausdrückte, und selbst durch die Gitter ihres Gefängnisses einen Strahl des Trostes warf.

Ihre Träumerei wurde bald durch einen leisen Schritt, der sich der Zelle näherte, unterbrochen, und gleich darauf öffnete sich die Thür und Olivia selbst erschien. Ellena stand mit Bewegung auf; die Nonne reichte ihr die Hand entgegen.

»Sie sind der Verhaftung nicht gewohnt,« sagte sie mit einer traurigen Verbeugung, und stellte ein kleines Körbchen mit Erfrischungen auf den Tisch – »und unsre harte Kost –«

»Ich verstehe Sie,« sagte Ellena mit einem Blicke, der ihre Dankbarkeit ausdrückte; »Sie haben ein Herz, das Mitleid fühlen kann, wenn Sie gleich diese Mauern bewohnen – Sie haben auch gelitten und kennen die zarte Großmuth, den Kummer Anderer durch Aufmerksamkeiten zu mildern, die Ihre Theilnahme verrathen. O wenn ich Ihnen ausdrücken könnte, wie sehr der Sinn dieser Handlung mich rührt!«

Thränen unterbrachen sie. Olivia drückte ihre Hand, sah ihr starr ins Gesicht und war bewegt: doch gewann sie bald eine anscheinende Ruhe wieder, und sagte mit einem ernsten Lächeln:

»Sie urtheilen ganz richtig über meine Gesinnungen, Schwester, wenn auch nicht über meine Leiden. Mein Herz ist nicht unempfindlich für Mitleid und für Sie, mein Kind. Sie waren zu glücklichern Tagen bestimmt, als Sie in diesem Kloster zu finden hoffen dürfen!« –

Sie hielt inne, als hätte sie zu viel gesagt, und setzte dann hinzu: »aber Ihre Tage werden vielleicht friedlich seyn, und wenn es Sie beruhigen kann, zu wissen, daß Sie eine Freundin in Ihrer Nähe haben, so glauben Sie, daß ich es bin; aber glauben Sie es im Stillen. Ich werde Sie besuchen, wenn es mir erlaubt ist; aber fragen Sie nicht nach mir, und wenn meine Besuche kurz sind, so dringen Sie nicht in mich, sie zu verlängern.«

»Wie gütig ist das!« sagte Ellena mit bebender Stimme; »wie süß ist es mir, daß Sie mich besuchen wollen, und daß ich von Ihnen bemitleidet werde!«

»Still,« sagte die Nonne bedeutend; »nichts weiter; man könnte mich bemerken. Gute Nacht, meine Schwester – möge Ihr Schlummer sanft seyn!«

Ellenen sank das Herz. Sie hatte nicht den Muth, gute Nacht zu sagen; aber ihre in Thränen schwimmenden Augen sagten mehr. Die Nonne wandte die ihrigen plötzlich ab, drückte stillschweigend ihre Hand und verließ die Zelle. Ellena, die bei den Schmähungen der Aebtissin fest und ruhig blieb, schmolz jetzt in Thränen bei der Güte einer Freundin. Diese sanften Thränen erfrischten ihre lange unterdrückten Lebensgeister und sie gab ihnen Raum. Sie dachte mit mehr Fassung an Vivaldi, als sie seit ihrem Verlassen der Villa Altieri an ihn gedacht hatte, und ein Gefühl, das der Hoffnung glich, begann in ihrem Herzen aufzuleben, obgleich die Vernunft ihr keine Gründe dafür darbot.

Am folgenden Morgen entdeckte sie, daß die Thüre ihrer Zille nicht verschlossen war. Sie stand ungeduldig auf und gieng nicht ohne Hoffnung der Freiheit sogleich heraus. Die Zelle stieß auf einen kurzen Gang, der mit dem Hauptgebäude zusammenhieng und von einer Thüre verschlossen wurde; diese Thüre war jetzt zu und Ellena eben so sehr eine Gefangne als zuvor. Es schien also, daß die Nonne blos unterlassen hatte, die Thüre der Zelle zu befestigen, um ihr mehr Raum zu vergönnen, in dem Gange spazieren zu gehen, und sie erkannte diese Aufmerksamkeit mit Dank. Noch mehr Dankbarkeit aber fühlte sie, als sie den Gang durchkreuzte, und gewahr wurde, daß das andre Ende auf eine kleine Windeltreppe stieß, die nach andern Zimmern zu führen schien.

Sie stieg die Windeltreppe eilends hinauf und fand, daß sie nur zu einer Thüre führte, die in ein kleines Zimmer gieng, wo sie Nichts Merkwürdiges sah, bis sie sich dem Fenster näherte, und einen Horizont, und unter ihm eine Landschaft ausgebreitet sah, deren Größe ihr ganzes Herz erweckte. Das Bewußtseyn ihres Gefängnisses war verschwunden und ihre Augen schwärmten über die weite und erhabne Scene aussen hin. Sie entdeckte, daß dieses Zimmer in einem kleinen Thurme lag, der aus einem Winkel des Klosters über den Mauern hervorragte, und wie in der Luft über den weiten Granitfelsen zu schweben schien, die einen Theil des Gebürges bildeten. Diese Felsen waren in Klippen gebrochen, die an einigen Stellen weit über ihren Fuß hiengen, und an andern in beinahe senkrechter Linie bis zu den Mauern des Klosters, welches sie unterstützten, aufstiegen. Ellena sah mit einem schauderhaften Vergnügen an ihnen herab, bis ihr Auge auf den dicken Kastanienwäldern ruhen blieb, die sich über ihren krummen Fuß hinstreckten und sich zu den Ebnen herabsenkend eine Abstufung zwischen dem mannichfaltigen Anbau dieser und der schrecklichen Klippen oben zu bilden schienen. Rund um diese weiten Thäler häuften sich Berge von verschiedner Form und Stellung, die Ellena bei ihrer Ankunft zu San Stefano bemerkt hatte, einige mit Wäldern von Oliven und Mandelbäumen beschattet, der größte Theil aber den Heerden überlassen, die im Sommer auf ihren aromatischen Kräutern weiden, und bei der Annäherung des Winters in die beschützten Thäler des Tavogliere di Puglia herabsteigen.

Zur Linken öffnete sich der schreckliche Paß, den sie gekommen war, und dessen donnernder Strom jetzt in der Ferne rauschte. Die Zusammendrängung überhängender Felsenspitzen, welche die Gebürge dieser dunkeln Aussicht darstellten, bildete ein Gemählde von erhabnerer Größe, als alles, was sie auf ihrem Wege durch den Paß selbst gesehen hatte.

Für Ellena, deren Seele eines hohen Schwunges eben so fähig war, als Scenen der Natur sie in süße Regungen wiegten, war die Entdeckung dieses kleinen Thurms ein Umstand von Wichtigkeit. Hieher konnte sie kommen, und hier konnte ihre Seele von den Aussichten, die er gewährte, Stärke schöpfen, um sie mit Gleichmuth durch die Verfolgungen, die vielleicht ihrer warteten, zu tragen. Hier, wenn sie die ungeheuren Maschinen rings um sie anstaunte, gleichsam über den ehrwürdigen Schleier hinaus blickend, der die Züge der Gottheit verdunkelt und ihn den Augen seiner Geschöpfe verbirgt, und mit einem gegenwärtigen Gotte in der Mitte seiner erhabnen Werke wohnend, wie unbedeutend, wie klein mußten ihr dann bei so emporgehobnem Geiste, die Verhandlungen und Leiden dieser Welt scheinen! Wie armselig die gepriesne Macht des Menschen, wenn der Fall einer einzigen Klippe von diesen Gebürgen in einer Sekunde Tausende seines Geschlechts, im Thale unten versammlet, zerschmettern konnte! Was würde es ihnen helfen, zur Schlacht gepanzert, mit allen Werkzeugen der Zerstörung, welche die menschliche Erfindungskraft je aussann, gerüstet zu seyn? Der Mensch, der Riese, welcher sie jetzt in Gefangenschaft hielt, mußte zur Kleinheit einer Puppe zusammenschrumpfen; und sie mußte empfinden, daß seine äusserste Gewalt nicht im Stande war, ihre Seele zu fesseln, oder ihn ihr furchtbar zu machen, so lange ihm Tugend fehlte.

Ellenas Aufmerksamkeit wurde durch ein Geräusch in der Gallerie von der Scene aussen abgezogen und sie hörte sogleich einen Schlüssel in die Thüre des Ganges stecken. Sie fürchtete, daß es Schwester Margaritone wäre, die, durch ihre Abwesenheit von dem trostreichen Thurme, den sie entdeckt hatte, unterrichtet, sie vielleicht für immer davon zurückhalten würde, und stieg mit klopfendem Herzen herunter; sie fand die Nonne in ihrer Zelle. Erstaunen und Strenge saßen auf ihrem Gesichte, als sie fragte, auf welche Art Ellena die Thüre geöffnet hätte, und wo sie gewesen wäre?

Ellena antwortete ohne alle Ausflüchte, daß sie die Thüre unverschlossen gefunden und den Thurm oben besucht hätte; allein sie enthielt sich, einen Wunsch zu äussern, wieder dahin zurück kehren zu dürfen, weil sie fürchtete, daß eine solche Aeusserung sie gewiß in Zukunft davon ausschließen würde. Margaritone, nachdem sie ihr einen scharfen Verweis gegeben hatte, daß sie über den Gang hinaus spähte, setzte das Frühstück nieder, und gieng aus dem Zimmer, dessen Thüre sie nicht zu verschließen vergaß. Auf solche Art war Ellena des unschuldigen Trostes, den sie im Thurme gefunden hatte, auf einmal beraubt.

Verschiedne Tage hindurch sah sie nur die strenge Nonne, ausser wenn sie der Vesper beiwohnte, wo sie aber so wachsam beobachtet wurde, daß sie sich fürchtete, auch nur durch die Augen mit Olivia zu sprechen. Olivia's Augen waren oft und mit einem Ausdrucke, den Ellena nicht ganz verstehen konnte, auf ihr Gesicht geheftet. Nicht nur Mitleid, sondern auch ängstliche Neugier und eine Art von Furcht lag darin. Zuweilen fuhr eine Röthe, die sogleich von ausserordentlicher Blässe und einer allgemeinen Ermattung, wie sie einem Anfall von Ohnmacht vorherzugehn pflegt, verdrängt wurde, über ihr Gesicht; aber die Uebungen der Andacht schienen oft ihre fliehenden Lebensgeister zurückzuhalten, und sie mit Hoffnung und Muth zu erheben.

Als sie die Kapelle verließ, sah Ellena Olivien die Nacht nicht mehr; am andern Morgen aber kam sie mit dem Frühstück in ihre Zelle. Ein Ausdruck von tiefer Traurigkeit lag auf ihrer Stirne.

»O wie freue ich mich, Sie zu sehn!« sagte Ellena, »und wie sehr habe ich Ihre lange Abwesenheit beseufzt! Ich mußte mich immer an Ihr Verboth erinnern, um nicht nach Ihnen zu fragen.«

Die Nonne antwortete mit einem schwermüthigen Lächeln, indem sie sich auf Ellena's Matratze setzte:

»Ich komme auf Befehl unserer Aebtissin!«

»Und wünschten Sie nicht zu kommen?« sagte Ellena traurig.

»Ich wünschte es,« erwiederte Olivia »aber« – sie stockte.

»Woher denn diese Abneigung?« fragte Ellena.

Olivia schwieg einen Augenblick.

»Sie sind also eine Botschafterin übler Nachrichten,« sagte Ellena; »es wird Ihnen schwer, mich zu betrüben!«

»So ist es,« erwiederte Olivia; »ich kann Sie nur gezwungen betrüben, und ich fürchte, Sie werden durch zu viele Banden an die Welt gefesselt, um ohne Kummer zu hören, was ich Ihnen mitzutheilen habe. Man hat mir befohlen, Sie zu den Gelübden vorzubereiten, und Ihnen zu sagen, daß Sie den Schleier nehmen müssen, da Sie den Mann, der Ihnen angetragen wurde, ausgeschlagen haben; daß man Sie der gewöhnlichen Formalitäten überheben und daß die Ceremonie, den schwarzen Schleier zu nehmen, sogleich auf die des weißen folgen wird.«

Die Nonne schwieg, und Ellena sagte:

»Sie haben diese grausame Nachricht ungern überbracht, und ich antworte nur der Aebtissin, wenn ich erkläre, daß ich nie eines von beiden annehmen will; daß die Gewalt mich wohl zum Altare schicken, aber nie mich zwingen kann, Gelübde abzulegen, die mein Herz verabscheut: und werde ich gezwungen, dort zu erscheinen, so soll es nur seyn, um gegen die Tirannei und gegen die Form, welche ihr Sanction geben soll, zu protestiren!«

Diese Antwort war so weit entfernt, Olivien zu mißfallen, daß sie ihr vielmehr zur Beruhigung zu gereichen schien.

»Ich darf Ihren Entschluß nicht billigen,« sagte sie, »aber ich will ihn auch nicht tadeln. Sie haben ohne Zweifel Verbindungen, die Ihnen eine Absonderung von der Welt schmerzhaft machen würden. Sie haben vielleicht Verwandte, Freunde, von denen es ihnen schwer werden würde zu scheiden?«

»Ich habe keine,« sagte Ellena seufzend.

»Keine! Ist es möglich, und doch sind Sie so ungeneigt, sich der Welt zu entziehn?«

»Ich habe nur einen Freund,« erwiederte Ellena, »und diesen will man mir rauben!«

»Verzeihen Sie mir meine abgerißnen Fragen,« sagte Olivia; »allein indem ich Sie um Vergebung bitte, muß ich schon wieder eine Dreistigkeit begehn und nach Ihrem Namen fragen.«

»Das ist eine Frage, die ich sehr gerne beantworte: ich heiße Ellena di Rosalba.«

»Wie?« sagte Olivia nachdenkend – »Ellena di –«

»Di Rosalba,« wiederholte diese: »aber erlauben Sie mir, Sie wiederum zu fragen, woher Sie dieser Name interessirt? Kennen Sie eine Person, die so heißt?«

»Nein,« antwortete die Nonne traurig – »aber Ihre Gesichtszüge haben einige Aehnlichkeit mit einer Person, die mir sehr werth war.«

Sie sagte dies mit sichtlicher Bewegung und stand auf, um fortzugehn.

»Ich darf meinen Besuch nicht verlängern,« sagte sie, »damit man mir nicht verbietet, ihn zu wiederholen. Was für eine Antwort soll ich der Aebtissin bringen? Wenn Sie entschlossen sind, den Schleier auszuschlagen, so bitte ich Sie, Ihre abschlägige Antwort so viel als möglich zu mildern. Ich kenne ihren Charakter vielleicht besser als Sie – und ach! meine Schwester, ich möchte nicht sehn, daß Sie Ihr Leben in dieser öden Zelle hinschmachteten!«

»Wie sehr bin ich Ihnen für den Antheil, den Sie an meinem Wohl nehmen,« sagte Ellena, »und für Ihren Rath verbunden! Ich will mein Urtheil ganz dem Ihrigen unterwerfen; kleiden Sie meine Weigerung ein, wie Sie es für gut finden, aber vergessen Sie nicht, daß sie bestimmt seyn muß, und hüten Sie sich, daß nicht die Aebtissin Sanftmuth für Unentschlossenheit hält.«

»Vertrauen Sie mir, ich werde in allem, was Sie betrifft, vorsichtig seyn,« sagte Olivia. »Leben Sie wohl! Ich werde Sie, wo möglich, diesen Abend besuchen. Die Thüre soll indessen offen bleiben, damit Sie mehr Luft und Aussicht genießen, als die Zelle gewährt. Die Windeltreppe führt nach einem sehr angenehmen Zimmer.«

»Ich habe es bereits besucht,« erwiederte Ellena, »und muß Ihnen für die Güte danken, daß Sie es mir vergönnten. Es wird mein Gemüth sehr erheitern, dahin zu gehn und wenn ich ein Buch und meine Zeichengeräthschaft hätte, so konnte ich beinahe meinen Kummer dort vergessen.«

»Könnten Sie das?« sagte die Nonne mit einem zärtlichen Lächeln. »Leben Sie wohl; ich will sehn, daß ich Sie Abends wieder besuchen kann. Wenn Schwester Margaritone wieder kommt, so hüten Sie sich, nicht nach mir zu fragen: Bitten Sie sie auch nicht einmal um die kleine Vergünstigung, die ich Ihnen zugestehe.«

Olivia gieng, und Ellena eilte nach dem Thurme, wo sie bei dem großen Schauspiel, das die Fenster ihr zeigten, alles Gefühl ihres Kummers auf eine Zeitlang vergaß.

Um Mittag riefen Margaritonens Schritte Ellena aus ihrem Zufluchtsorte herunter, und es nahm sie Wunder, daß kein Vorwurf auf diese zweite Entdeckung ihrer Abwesenheit folgte. Margaritone sagte bloß, die Aebtissin hätte die Güte gehabt zu erlauben, daß Ellena mit den Novitzen essen könnte, und sie käme, sie an ihren Tisch zu führen.«

Ellena empfand keine Freude über dies Erlaubniß, sie zog die Einsamkeit ihres Thurms den forschenden Blicken Fremder vor, und folgte niedergeschlagen durch die stillen Gänge nach dem Zimmer, wo sie versammlet waren. Es befremdete sie nicht wenig, in dem Betragen junger Personen, die in einem Kloster wohnen, eine Abweichung von dem Anstande zu finden, der unter seinem bescheidnen Schatten jede Grazie einschließt, die den weiblichen Charakter schmücken sollte, gleich dem Schleier, der ihrem Anstande Würde, und ihren Zügen Sanftheit giebt. Als Ellena ins Zimmer trat, hefteten sich die Augen der ganzen Gesellschaft sogleich auf sie; die jungen Mädchen fiengen an zu flüstern und zu lächeln, und zeigten auf allerlei Art, daß Sie nur tadelsweise der Gegenstand ihres Gesprächs war. Keine kam ihr entgegen, um sie aufzumuntern und am Tische zu bewillkommen, oder noch weniger, um etwas von dieser namenlosen Gefälligkeit zu zeigen, womit ein großmüthiges und zart fühlendes Herz den Bescheidnen und Unglücklichen so gerne aufrichtet.

Elena nahm stillschweigend einen Stuhl, und ohngeachtet die Unbescheidenheit ihrer Tischgefährtinnen sie anfangs verlegen gemacht hatte, belebte doch das Bewußtseyn der Unschuld nach und nach ihren Muth, und setzte sie in Stand, eine gewisse Würde anzunehmen, welche diese ungezogne Dreistigkeit zurückwies.

Zum erstenmal kehrte sie mit Verlangen nach ihrer Zelle zurück. Margaritone verschloß die Thüre der Zelle nicht, verwahrte aber die zum Gange sorgfältigst: und auch diese kleine Vergünstigung schien sie mit mürrischem Widerstreben, als geschähe es auf höhern Befehl, gegen den sie sich nicht auflehnen durfte, zu gewähren. Sobald sie fort war, verfügte Ellena sich wieder auf ihren anmuthigen Thurm, wo sie nach dem unhöflichen Betragen der Novitzen die feine Aufmerksamkeit ihrer geliebten Nonne lebhafter empfand. Es schien, daß sie in Ellenas Abwesenheit das Zimmer besucht, und einen Stuhl und Tisch dahin geschaft hatte, auf welchem sie einige Bücher und einen Topf wohlriechender Blumen fand. Ellena unterdrückte die dankbaren Thränen nicht, welche Olivias edles Mitgefühl hervorlockte, und sie enthielt sich einige Augenblicke, die Bücher zu öffnen, um nicht die angenehmen Regungen, die sie empfand, zu unterbrechen.

Als sie endlich die Bücher ansah, fand sie, daß einige von mystischen Gegenständen handelten, die sie sogleich bei Seite legte; die andern aber waren Sammlungen der besten Italienischen Dichter und ein paar Bände von Guicciardinis Geschichte Francesco Guicciardini (1483-1540), italienischer Politiker und Historiker. Seine Storia d'Italia behandelt die Geschichte Italiens zwischen 1492 und 1534. – D.Hg.. Sie wunderte sich, daß die Dichter einen Weg in die Bibliothek einer Nonne gefunden hatten, freute sich aber zu sehr über den Fund, um lange zu untersuchen, wie sie dazu gekommen war.

Nachdem sie ihre Bücher aufgestellt, und ihr kleines Zimmer in Ordnung gebracht hatte, setzte sie sich an ein Fenster, und suchte mit einem Bande von Tasso jede schmerzhafte Erinnerung aus ihrer Seele zu verbannen. Sie schwärmte in den eingebildeten Scenen des Dichters umher, bis das ausgehende Licht sie zur Würklichkeit zurückrief. Die Sonne war untergesunken, aber die Spitzen der Berge waren noch immer von ihren Strahlen erleuchtet; ein glänzendes Purpurlicht färbte den ganzen Westen und begann den beschneiten Spitzen am Horizont ein andres Ansehn zu geben. Die Stille und Ruhe dieses großen Schauspiels begünstigte die zärtliche Melancholie in ihrem Herzen – sie dachte an Vivaldi und weinte – an Vivaldi, den sie vielleicht nie wieder zu Gesichte bekam, ohngeachtet sie nicht zweifelte, daß er unermüdet seyn würde, sie aufzusuchen. Jedes Wort ihres letzten Gesprächs, wo er so innig die bevorstehende Trennung beklagte, stand in ihrer Seele; und während sie in der Einbildung den Schmerz, die Verzweiflung vor sich sah, worin ihre geheimnißvolle Entfernung ihn gestürzt hatte, unterlag die Stärke, womit sie ihr eignes Leiden ertragen hatte, der Vorstellung des seinigen.

Die Vesperglocke erinnerte sie endlich, sich zur Messe anzuschicken, und sie gieng in ihre Zelle herunter, um die Ankunft ihrer Führerin zu erwarten. Es war Margaritone, die bald erschien; in der Kirche aber sah sie wie gewöhnlich Olivien, die nach geendigtem Gottesdienst sie in den Garten des Klosters einlud. Hier, wie sie unter den traurigen Cypressen wandelten, die an jeder Seite die langen Gänge einfaßten, und einen majestätischen Thronhimmel bildeten, sprach Olivia mit ihr von ernsthaften, aber allgemeinen Gegenständen, und vermied es sorgfältig, der Aebtissin, oder Ellenas Angelegenheiten überhaupt zu erwähnen. Diese letzte, begierig den Erfolg ihrer wiederholten Verweigerung des Schleiers zu vernehmen, wagte es, einige Fragen zu thun, welche die Nonne aber sogleich zurückwies und eben so sorgfältig den dankbaren Ergießungen ihrer jungen Freundin für die Aufmerksamkeiten, welche sie ihr bewiesen hatte, auswich.

Olivia begleitete Ellenen nach ihrer Zelle, und trug hier nicht länger Bedenken, sie aus ihrer Ungewißheit zu reißen. Mit einer Mischung von Freimüthigkeit und Vorsicht erzählte sie ihr so viel von dem Gespräch, das zwischen ihr und der Aebtissin vorgefallen war, als Ellena zu wissen brauchte; es schien daraus, daß jene eben so hartnäckig, als diese fest war.

»Wozu Sie auch entschlossen seyn mögen,« setzte die Nonne hinzu, »so rathe ich Ihnen doch ernstlich, meine Schwester, der Aebtissin einige Hoffnung zum Nachgeben zu lassen, damit sie nicht zum Aeußersten schreitet.«

»Und welches Aeußerste kann schrecklicher seyn,« erwiederte Ellena, »als die beiden Dinge, wozu sie mich zu bringen wünscht? Warum sollte ich mich zur Verstellung erniedrigen?«

»Um sich vor unverdienten Leiden zu schützen,« sagte Olivia traurig.

»Aber ich würde mir dann verdiente zuziehn,« merkte Ellena an, »und den Frieden der Seele verscherzen, den meine Verfolger mir nie rauben konnten.«

Sie warf bei diesen Worten einen Blick voll sanften Vorwurfs und Kränkung auf die Nonne.

»Ich schätze Ihr richtiges Gefühl,« erwiederte Olivia, die sie mit dem zärtlichsten Mitleid betrachtete; »ach! warum mußte ein so edles Gemüth der Macht der Ungerechtigkeit und Verdorbenheit unterworfen werden!«

»Nicht unterworfen,« sagte Ellena, »sagen Sie nicht unterworfen; ich habe mich gewöhnt, diese Leiden zu betrachten; ich habe die geringsten von denen gewählt, die man mir zur Wahl vorlegte, und wenn ich sie mit Fassung ertrage, können Sie denn sagen, daß ich unterworfen bin?«

»Ach, meine Schwester, Sie wissen nicht, was Sie versprechen,« erwiederte Olivia. »Sie haben keinen Begriff von den Leiden, die man Ihnen bereiten wird!«

Bei diesen Worten füllten sich ihre Augen mit Thränen, und sie zog sie von Ellenen ab, die befremdet durch die außerordentliche Bekümmerniß auf ihrem Gesicht, sie flehentlich bat, sich zu erklären.

»Ich weiß selbst nichts Gewisses hierüber,« sagte Olivia, »und wüßte ich es, so würde ich nicht wagen, es zu erläutern.«

»Nicht wagen,« wiederholte Ellena traurig. »Kann ein so wohlwollendes Herz, als das Ihrige, von Furcht wissen, wenn es Muthes bedarf, um ein Uebel zu verhindern?«

»Forschen Sie nicht weiter,« sagte Olivia, aber kein Erröthen. selbstbewußter Falschheit befleckte ihre Wange. »Es ist genug, wenn Sie wissen, daß ein offenbarer Widerstand schreckliche Folgen haben wird, und wenn Sie einwilligen, sie zu vermeiden.«

»Aber wie soll ich sie vermeiden, meine geliebte Freundin, ohne mir eine Folge zuzuziehn, die, meiner Meinung nach, noch schrecklicher seyn würde? Wie soll ich sie vermeiden, ohne mich entweder einer verhaßten Heirath zu unterwerfen, oder den Schleier anzunehmen? Beides würde mir schrecklicher seyn, als alles, womit man mir drohen kann.«

»Vielleicht nicht.« sagte die Nonne. »Keine Einbildungskraft kann die Schrecknisse des – – Aber, meine Schwester, lassen Sie mich wiederholen, holen, daß ich Sie zu retten wünschte! O wie gern möchte ich Sie von den Leiden, die sich für Sie bereiten, erretten! Die einzige Möglichkeit ist, wenn Sie sich bewegen lassen, wenigstens den Schein von Widersetzlichkeit zu vermeiden!«

»Ihre Güte rührt mich tief,« sagte Ellena, »und ich fürchte, fühllos dagegen zu scheinen, wenn ich Ihren Rath verwerfe; und doch kann ich ihn nicht annehmen. Die Verstellung, welche ich zu meiner Selbstvertheidigung aufbieten müßte, würde gerade ein Mittel seyn, mich ins Verderben zu stürzen.«

Als Ellenas Augen auf die Nonne fielen, stieg ein unerklärlicher Verdacht in ihr auf, daß Olivia vielleicht nicht aufrichtig seyn könnte, und daß sie in diesem Augenblick, wo sie ihr zur Verstellung rieth, sie vielleicht in eine Falle zu locken suchte, welche die Aebtissin gelegt hätte. Sie erkrankte Im Original »She sickened at …«: ›Ihr wurde geradezu übel bei …‹. – D.Hg. bei dieser schrecklichen Vermuthung, und verscheuchte sie, ohne sich eine weitere Prüfung zu erlauben. Daß Olivia, von der sie so viel Güte empfangen hatte, deren Gesicht und Betragen eine so schöne Seele Im Original »so fair a mind«; Liebeskinds »schöne Seele« ist ein Beleg dafür, wie dieser Ausdruck, auch im Gefolge des 6. Buches, »Bekenntnisse einer schönen Seele«, von Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre« (1795/96), zu einem Modewort in jener Zeit geworden war. – D.Hg. ankündigten, und für die sie so viel Achtung und Zärtlichkeit gefaßt hatte, grausam und verrätherisch seyn könnte, war ein Verdacht, der ihr mehr Schmerz verursachte, als die wirkliche Gefangenschaft, unter welcher sie litt; als sie ihr wieder ins Gesicht sah, fühlte sie sich durch die klare Ueberzeugung getröstet, daß ein solches Gesicht keiner Treulosigkeit fähig sey.

»Wäre es auch möglich, daß ich mich zu einem Betruge entschließen könnte,« fieng Ellena nach einer langen Pause wieder an; »wozu könnte es mir helfen? Ich bin gänzlich in der Gewalt der Aebtissin, die meine Aufrichtigkeit bald auf die Probe setzen würde; die Entdeckung meiner Falschheit würde nur ihre Rache witzen Im Original »provoke her vengenance«: ›ihre Rache heraufbeschwören‹, übersetzt Polakovics 1973 zutreffend. - Das Verbum »witzen« im Sinne von »belehren, verständig machen« ist auch um 1800 allerdings kaum noch in Gebrauch, außer in der bis heute noch üblichen Form »gewitzt«. – D.Hg. und ich würde selbst dafür bestraft werden, daß ich der Ungerechtigkeit zu entgehn suchte.«

»Wenn ein Betrug jemals verzeihlich seyn kann,« erwiederte Olivia ungern »reluctantly«: ›widerstrebend‹. – D.Hg., »so ist es, wenn wir ihn uns zu unsrer Selbstvertheidigung erlauben. Es giebt gewisse seltne Situationen, wo wir unsre Zuflucht dazu nehmen können, ohne uns Schande zuzuziehn, und die Ihrige ist von solcher Art. Allein ich will Ihnen gestehn, daß ich keinen andern Nutzen davon erwarte, als daß Sie Zeit dadurch gewinnen. Wenn die Aebtissin hört, daß einige Wahrscheinlichkeit da ist, Ihre Einwilligung zu ihren Wünschen zu erlangen, so wird sie Ihnen die gewöhnliche Probezeit vergönnen und indessen kann sich etwas zutragen, das Sie aus Ihrer gegenwärtigen Lage befreit.«

»Ach! könnte ich es glauben,« sagte Ellena; »aber welche Macht kann mich befreien? Ich habe nicht einen Verwandten mehr, der nur einen Versuch dazu machen würde! Welche Möglichkeit meinen Sie?«

»Die Marquise kann versöhnt werden.«

»Also auf der ruht Ihre Möglichkeit einer Hülfe, meine theure Freundin! Ach wenn das ist, so muß ich wieder verzweifeln: es würde gewiß wenig Klugheit seyn, für eine solche Möglichkeit seine Rechtschaffenheit zu verscherzen.«

»Es lassen sich auch noch andre Möglichkeiten denken, meine Schwester;« sagte Olivia, »aber welche Glocke ist das? Es ist das Läuten, welches die Nonnen im Zimmer der Aebtissin versammlet, wo sie ihnen den Abendsegen ertheilt. Man wird meine Abwesenheit bemerken. Gute Nacht, liebe Schwester! Denken Sie über meinen Rath nach, und vergessen Sie nicht, ich beschwöre Sie, daß die Folgen Ihrer Entscheidung feierlich »solemn« hier in der Bedeutung ›ernst‹. – D.Hg. sind, und Sie unglücklich machen können!«

Die Nonne sagte dieses mit einem solchen Blick und Nachdruck, daß Ellena zugleich wünschte und fürchtete, mehr zu wissen; allein ehe sie sich von ihrer Befremdung erholen konnte, hatte Olivia das Zimmer verlassen.



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