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Sechstes Kapitel.

– For here have been
Some six or seven, who did hide their faces
Even from darkness. Julius Cäsar, II, 1: »Es waren da / Sechs oder sieben, die ihr Angesicht / Auch noch bei Nacht verhüllten.« – D.Hg.

Shakespeare.

Ellena fühlte sich bei dem Verlust ihrer Tante, ihrer einzigen Verwandtin, der Freundin ihres ganzen Lebens, wie verlassen in der Welt. Aber nicht in den ersten Augenblicken bemeisterte sich ihrer dieß Gefühl; sie dachte kaum an ihre eigne verlorne Lage, da nur Zärtlichkeit, Bedauern und unaufhaltsamer Schmerz um Bianchi ihr Herz erfüllten.

Bianchi sollte in der Kirche des Klosters Santa Maria della Pieta beigesetzt werden, und ihr Körper, nach der Sitte des Landes, bekleidet und mit Blumen geschmückt, wurde auf einer offnen Baare, blos von Priestern und Fackelträgern begleitet, zur Gruft gebracht. Ellena konnte es nicht ertragen, sich so leichthin von den Ueberresten einer geliebten Freundin zu trennen; und da der Gebrauch sie abhielt, dem Leichnam zum Grabe zu folgen, verfügte sie sich zuerst ins Kloster, um dem Leichenamt beizuwohnen. Ihr Schmerz ließ ihr nicht zu, sich in die Chöre der Nonnen zu mischen; allein der feierlich heilige Gesang that ihrem Geiste wohl und die Thränen, die sie beim Zuhören vergoß, linderten die Gewalt des Schmerzes.

Nachdem der Gottesdienst zu Ende war, zog sie sich in das Sprachzimmer der Aebtissin zurück, die in ihre Tröstungen die dringende Bitte mischte, daß Ellena das Kloster für jetzt zu ihrer Zuflucht wählen möchte. Bei der betrübten Stimmung ihrer Seele bedurfte es nicht viel Zuredens. Es war ihr eigner Wunsch sich dahin zurückzuziehn, als nach einer Zuflucht, die nicht nur ihrer besondern Lage, sondern auch vorzüglich der gegenwärtigen Stimmung ihrer Lebensgeister angemessen war. Sie glaubte hier weit eher als an jedem andern Orte, Ergebung und Ruhe wieder zu finden, und ehe sie von der Aebtissin Abschied nahm, wurde ausgemacht, daß sie als Kostgängerin sollte aufgenommen werden. Die Hauptursache, warum sie nach der Villa Altieri zurückkehrte, war in der That, um Vivaldi von ihrem Entschlusse zu benachrichtigen. Ihre Liebe und Achtung war allmählig bis zu einer Stärke gewachsen, welche das Glück oder Elend ihres ganzen Lebens entscheiden mußte. Der Beifall, womit ihre Tante diese Wahl geheiligt hatte, und besonders die sehr feierliche Art, womit sie am Abend vor ihrem Tode, Ellena seiner Sorge anvertraute, hatte ihn ihrem Herzen noch theurer gemacht, und ihrer Verbindung eine Heiligkeit gegeben, welche sie Vivaldi als ihren Wächter und einzig noch lebenden Schutzgeist betrachten ließ. Je zärtlicher sie ihre verstorbne Tante beklagte, desto zärtlicher dachte sie auch an Vivaldi; und ihre Liebe für die eine war so innig mit ihrer Zärtlichkeit für den andern verwebt, daß jede Empfindung durch die andre verstärkt und erhöht ward.

Nachdem das Leichenbegängniß vorüber war, fand sie ihn zu Altieri sie erwarten.

Es war ihm weder unerwartet noch unangenehm, daß sie sich eine Zeitlang in ein Kloster zurückzog: er fand es schicklich, daß sie sich im ersten Zeitpunkt des Schmerzes aus einem Hause entfernte, wo sie keine Beschützerin mehr hatte, die der Anstand zu fodern schien. Er machte nur die einzige Bedingung, daß es ihm erlaubt seyn möchte, sie im Sprachzimmer des Klosters zu besuchen, und wenn der Anstand es nicht länger verwehrte, um die Hand anzuhalten, die Bianchi ihm übergeben hatte.

Er willigte in diese Verfügung ohne Murren, aber nicht ganz ohne Klagen: allein da Ellena ihn versicherte, daß die Aebtissin aus Santa Maria della Pieta eine Frau von vortreflichem Charakter sey, so bemühte er sich das geheime Murren seines Herzens durch die Ueberzeugung seines Verstandes zum Schweigen zu bringen.

Indessen blieb der Eindruck, den sein bekannter Quälgeist, der Mönch, besonders durch seine Voraussagung von Bianchis Tode, auf ihn gemacht hatte, tief in seiner Seele haften, und er beschloß noch einmal, wo möglich die eigentliche Natur dieses weissagenden Gastes und die Ursachen zu erforschen, die ihn bewegten, seine Schritte so zu bewachen und seine Ruhe zu stören. Die Umstände, welche die Besuche dieses Mönches, wenn es ein Mönch war, begleiteten; sein plötzliches Kommen und Verschwinden; die Wahrheit seiner Prophezeiungen und vor allem der feierliche Ausgang, der seine letzte Warnung bekräftigte, flößten ihm eine schauderhafte Furcht ein, und er war auf etwas außer dem Reiche der gewöhnlichen Begebenheiten und über den Kräften der menschlichen Natur gefaßt. Sein Verstand war hell und stark genug, um ihn sowohl manche Vorurtheile und Irrthümer, die um ihn her herrschten, entdecken, als den gemeinen Aberglauben seines Landes verachten zu lehren, und in seinem natürlichen Gemüthszustande würde er wahrscheinlich keinen Augenblick über den Gegenstand nachgedacht haben; allein jetzt waren seine Leidenschaften im Spiel und seine Phantasie aufgeregt, und wenn er sich gleich dessen selbst nicht bewußt war, so würde es ihn doch vielleicht verdrossen haben, so plötzlich aus dem Reiche furchtbarer Erhabenheit, zu welchem er sich hinauf geschwungen hatte, aus der Welt schrecklicher Schatten – zu der Erde, auf der er täglich gieng und zu einer blos natürlichen Erklärung zurückzukehren.

Er nahm sich vor, die Festung Paluzzi um Mitternacht wieder zu besuchen, und ohne auf die Annäherung des Fremden zu warten, jeden Winkel der Höhle mit Fackeln zu durchsuchen, um wenigstens zu entdecken, ob sich außer ihm noch andre menschliche Geschöpfe darin aufhielten. Die Hauptschwierigkeit, die ihm bisher im Wege stand, war, einen Begleiter zu finden, auf den er sich verlassen konnte, weil sein voriges Abentheuer ihn abgeschreckt hatte, die Wanderung allein zu unternehmen. Signor Bonarmo beharrte durchaus, und vielleicht mit Recht, auf seiner Weigerung, und da Vivaldi keinen andern Bekannten hatte, dem er so viel von der Sache anvertrauen mochte, um ihn zu dieser Gefälligkeit zu stimmen, so beschloß er, seinen eignen Bedienten, Paulo, mit zu nehmen.

Am Abend vor dem Tage von Ellenas Abreise nach Santa della Pieta, gieng Vivaldi nach Altieri, um ihr Lebewohl zu sagen. Sein Gemüth war bei dieser Zusammenkunft mehr als gewöhnlich niedergedrückt; ob er gleich wußte, daß sie sich nur auf kurze Zeit trennten; ob er gleich so viel Vertrauen in die Fortdauer ihrer Neigung setzte, als es einem Liebhaber nur möglich ist, so war es ihm doch, als wenn er sich auf ewig von ihr trennte. Tausend unbestimmte und ängstliche Besorgnisse, die er bis diesen Augenblick noch nie gefühlt hatte, drangen auf ihn ein; vorzüglich aber fürchtete er, daß die Kunstgriffe der Nonnen sie von der Welt abziehn und bewegen möchten, sich dem Kloster zu opfern. In ihrer jetzigen trostlosen Stimmung dünkte ihm dies wahrscheinlicher als je, und alle Versicherungen Ellena's‚ die in diesen Augenblicken des Scheidens sich mit weniger Zurückhaltung als sonst, gegen ihn ergoß, konnten seine Seele nicht gänzlich beruhigen

»Ich sollte aus dieser klopfenden Angst,« sagte er unbedachtsam, »beinahe schließen, daß ich mich auf immer von Ihnen trenne, meine Ellena – ich fühle eine Last auf meinem Herzen, die ich nicht von mir werfen kann. Von der Schicklichkeit dieses Schrittes überzeugt, bin ich es zufrieden, daß Sie sich auf eine Weile in dies Kloster begeben; ich sollte auch bedenken, daß Sie bald daraus zurückkehren; daß ich Sie bald als mein Weib aus seinen Mauern führen werde, um Sie nie wieder von mir, von meiner unmittelbaren Sorge und Zärtlichkeit zu lassen. Ich sollte mich von alle dem versichert fühlen; doch verstimmt mich meine Furcht so sehr, daß ich mich nicht auf das, was wahrscheinlich ist, verlassen kann, sondern lieber das Mögliche fürchte. Und ist es denn möglich, daß ich Sie noch verlieren könnte? ist es denn nichts weiter als wahrscheinlich, daß Sie auf immer die meinige seyn werden? Wie unter solchen Umständen kann ich so schwach seyn, in Ihr Fortgehn zu willigen? Warum dringe ich nicht in Sie, unverzüglich die unauflöslichen Bande, die keine menschliche Macht zerreißen kann, mir zu gewähren? Wie konnte ich allen Frieden, alle Ruhe meines Lebens dem bloßen Reiche der Möglichkeit anvertrauen, welches hinwegzuräumen in meiner Macht war? Es in vielleicht noch in meiner Macht. O Ellena, lassen Sie nicht die Strenge des eingeführten Gebrauchs über meine Glückseligkeit den Sieg davon tragen! Wann Sie nach der Santa Maria gehn, so sey es nur, um ihren Altar zu besuchen!«

Vivaldi sagte dies alles mit solcher Schnelligkeit, daß Ellena ihn nicht unterbrechen konnte. Als er endlich inne hielt, machte sie ihm sanfte Vorwürfe, daß er an der Dauer ihrer Liebe zweifeln könnte, und bemühte sich, ihm seine Besorgnisse auszureden, ohne auf seine Bitte zu hören. Sie stellte ihm vor, daß nicht nur die Lage ihres Gemüths der Einsamkeit bedürfte, sondern daß auch Achtung für das Gedächtniß ihrer Tante es foderte, und setzte ernsthaft hinzu, wenn er so wenig Vertrauen auf die Festigkeit ihrer Gesinnungen setzte, um für eine so kurze Zeit sogar an der Dauer ihrer Neigung zu zweifeln, wenn sie ihm durch keine Gelübde zugesichert wäre, so hätte er sehr Unecht gethan, sie zur Gefährtin seines ganzen Lebens zu wählen.

Vivaldi schämte sich seiner Schwäche; er bath sie um Vergebung und suchte Besorgnisse zu ersticken, die nur die Leidenschaft ihm eingab, und welche die Vernunft verwarf; allein dem allen ohngeachtet konnte er weder Ruhe noch Zuversicht finden; auch Ellena, ohngeachtet ein richtiges Urtheil ihr Betragen unterstützte und leitete, konnte sich nicht ganz von der Bedrückung der Lebensgeister losmachen, die sie beinahe vom ersten Augenblick dieser Unterredung an, gefühlt hatte. Sie trennten sich mit vielen Thränen, und Vivaldi kehrte oft, ehe er den letzten Abschied nahm, wieder zurück, um noch ein Versprechen zu fodern, noch um eine Erklärung zu bitten, bis Ellena mit gezwungnem Lächeln sagte, daß dies mehr einem ewigen Lebewohl, als einem Abschied auf wenige Tage gliche. Diese Bemerkung erneuerte alle seine Unruhe und gab ihm einen neuen Vorwand, sein Fortgehn zu verzögern. Endlich riß er sich los, und verließ die Villa Altieri; weil es aber noch zu früh war, um sein Vorhaben auf der Festung Paluzzi auszuführen, kehrte er nach Neapel zurück.

Ellena suchte ihre traurigen Betrachtungen durch Beschäftigung zu überwinden und brachte die Zeit bis nach Mitternacht mit Zurüstungen zu ihrer Abreise auf Morgen zu. Es lag etwas Schwermüthiges in dem Gedanken, die Heimath, wo sie seit dem Aufdämmern der frühsten Erinnerung jeden Tag ihres Lebens hingebracht hatte, wenn auch nur auf kurze Zeit zu verlassen. Indem sie aus diesem wohl bekannten Aufenthalte gieng, wo noch der Schatten der abgeschiednen Freundin sie zu umschweben schien, ließ sie alle Spuren ihrer vergangnen Glückseligkeit, jeden Nachhall voriger Jahre und gegenwärtigen Trostes hinter sich zurück. Ihre Anhänglichkeit für den Ort vermehrte sich, so wie die vorübergehende Zeit sich verminderte, und es war, als hätte sie die Villa Altieri nie mehr geliebt, als im lezten Augenblick ihres Aufenthalts.

Sie verweilte noch lange in ihren Lieblingzimmern; und in dem Gemach, wo sie noch den letzten Abend vor Signora Bianchis Tode mit ihr gespeist hatte, gab sie sich vielen zärtlichen und traurigen Erinnerungen hin, und würde wahrscheinlich noch länger gezögert haben, wenn nicht ein plötzliches Rauschen im Laube unter dem Fenster ihre Aufmerksamkeit erregt hätte. Als sie die Augen aufschlug, war es ihr, als wenn jemand schnell vorüber schlüpfte. Die Läden waren, wie gewöhnlich, offen geblieben, um die frische Luft vom Hafen einzulassen; sie stand erschrocken auf, um sie zuzumachen, und war kaum damit fertig, als sie ein fernes Klopfen aus dem Portico und gleich darauf Beatrix Geschrei im Saale hörte.

So furchtsam sie auch selbst war, hatte sie doch den Muth, ihrer alten Bedienten zu Hülfe zu eilen, als auf dem Gange, der nach dem Saale führte, drei maskirte und in Mäntel gehüllte Kerls erschienen, die von der andern Seite heran kamen. Während sie floh, sah sie sich von ihnen bis in das Zimmer, welches sie verlassen hatte, verfolgt. Ihr Athem und Muth waren dahin; doch suchte sie sich aufrecht zu halten, und mit Fassung zu fragen, was diese Menschen wollten? Sie antworteten nicht, sondern warfen ihr einen Schleier übers Gesicht, ergriffen sie bei den Armen und führten sie beinahe ohne Widerstand, aber flehend, nach dem Portico.

Ellena sah hier Beatrix an einen Pfeiler gebunden, und einen andern ebenfalls maskirten Kerl sie bewachen und mit Zeichen, nicht mit Worten, bedrohn. Ellenas Geschrei schien die beinahe leblose Beatrix, für die sie eben so sehr flehte, als für sich selbst, wieder zu erwecken; allein alles Flehn war vergebens und Ellena wurde aus dem Hause und durch den Garten getragen. Alles Bewußtseyn hatte sie nunmehr verlassen. Als sie wieder zu sich selbst kam, fand sie sich in einem Wagen, der mit äußerster Schnelligkeit fuhr und ihre Arme wurden von einigen Leuten gehalten, die sie, als ihre Besinnung völlig zurückkehrte, für die nämlichen hielt, die sie aus der Villa getragen hatten. Die Dunkelheit verhinderte sie, ihre Figuren zu bemerken, und auf alle ihre Fragen und Bitten wurde ein todtengleiches Stillschweigen beobachtet.

Der Wagen fuhr die ganze Nacht durch mit äußerster Schnelligkeit und hielt blos, so lange die Pferde gewechselt wurden; wo Ellena durch ihr Geschrei, aber blos durch ihr Geschrei, denn die Fenster waren dicht verschlossen, das Mitleid der Leute im Posthause zu erregen suchte. Die Postillons täuschten ohne Zweifel die Leichtgläubigkeit dieser Leute, denn sie blieben fühllos gegen ihre Noth und ihre Gefährten erstickten bald das einzige Mittel, das ihr blieb, sie kund zu machen.

In den ersten Stunden war ihre Seele in einem Aufruhr von Schrecken und Erstaunen; sobald aber dieser sich legte und ihr Verstand eine Klarheit wieder erhielt, mischten sich Schmerz und Niedergeschlagenheit in ihre Furcht. Sie sah sich von Vivaldi getrennt, wahrscheinlich auf immer; denn sie fürchtete, daß die starke und unsichtbare Hand, die ihre Bahn lenkte, sie nicht loslassen würde, bis sie dahin gebracht sey, wo ihr Geliebter sie nie mehr erreichen konnte. Die Ueberzeugung, daß sie ihn nicht wieder sehn würde, durchdrang sie zu Zeiten mit solcher Gewalt, daß jede andre Betrachtung und Regung erstickt wurde; sie fühlte in solchen Augenblicken keine Unruhe über den Ort ihrer Bestimmung, keine Furcht vor ihre persönliche Sicherheit.

So wie der Morgen weiter anbrach und die Hitze zunahm, wurden die Blenden heruntergelassen, um der Luft ein wenig Eingang zu verschaffen; und Ellena sah, daß nur zwei von den Leuten, die in der Villa Altieri erschienen, im Wagen saßen, und daß sie noch immer in ihre Mäntel und Visire gehüllt waren. Sie konnte nicht beurtheilen, durch welche Gegend sie fuhren: denn die kleinen Oeffnungen der Schiebfenster ließen sie nur hohe Bergspitzen, oder zuweilen astigte Vorgebürge und verwachsnes Dickicht sehn, das dicht über dem Wege hieng.

Um Mittag, wie sie aus der drückenden Hitze schloß, hielt der Wagen vor einem Posthause still, und es wurde Gefrornes durch's Fenster herein gereicht; sie sah durch das weiter heruntergelaßne Fenster, daß sie auf einer wilden und einsamen, von Bergen und Wäldern umgebnen Hayde waren. Die Leute an der Thüre des Posthauses schienen nicht gewohnt, Mitleid zu fühlen, oder einzuflößen. Das magre und gelbe Gesicht der Armuth starrte über ihren knochichten Schultern und lange gewohnte Unzufriedenheit hatte Furchen auf ihren Wangen gezogen. Sie betrachteten Ellena nur mit stumpfer Neugierde, obgleich die Bekümmerniß auf ihrem Gesicht jedes Herz würde bewegt haben, das eignes Leiden noch nicht verhärtet hatte; auch die maskirten Gesichter ihrer Gefährten schienen nicht viel stärkere Aufmerksamkeit zu erregen.

Ellena nahm die kalten Erfrischungen an, das erste, was sie unterwegens genossen hatte. So wie ihre Gefährten die Gläser ausgeleert hatten, wurden die Fenster wieder aufgezogen, und der Wagen fuhr, ohngeachtet der beinahe unleidlichen Mittagshitze, fort. Ellena bath halb ohnmächtig, die Fenster zu öffnen, und als ihre Gefährten, mehr um ihrem eigenen Bedürfniß, als ihrer Bitte zu willfahren, sie niedergelassen hatten, sah sie einen Schimmer von den hohen Bergregionen, aber keinen Gegenstand, der sie konnte vermuthen lassen, wo sie war. Sie sah nur Zinnen und hohe Vorgebürge von buntgefärbtem Marmor, mit kümmerlichem Gesträuch durchwachsen, das die vielfarbigen Klippen dunkel tuschte und sich zuweilen in schattigten Massen bis zu den tiefen Thälern streckte, die sich im Dunkeln fortwanden und die Neugier einzuladen schienen, die Scenen hinter ihnen auszuspähen. Unter diesen kühnen Vorgebürgen streckte sich eine dunkle Reihe von Olivenbäumen hin, und tiefer noch sanken andre Felsenschichten zu den Thälern herunter, und bildeten mit Wein gekrönte Terrassen, wo oft der künstliche Boden mit Wäldchen von Wacholder, Granatäpfeln und Lorbeeren bepfropft war.

Ellena, die so lange, im Dunkeln verschlossen, über ihrem eignen Elende gebrütet hatte, fand wenigstens für den Augenblick eine kleine Erleichterung darin, noch einmal das Antlitz der Natur zu sehen, bis sie mit allmählig belebtem und durch die Größe der Bilder um sie her erhabnem Geiste zu sich selbst sagte:

»Wenn ich zum Elende verdammt bin, so könnte ich es gewiß mit mehr Fassung in Scenen wie diese hier, als unter den zahmern Landschaften der Natur ertragen! Hier scheinen die Gegenstände der Seele etwas von ihrer eignen Stärke, ihrer eignen Erhabenheit mitzutheilen. Es ist kaum möglich, dem Drucke des Elends zu erliegen, so lange wir gleichsam mit der Gottheit zwischen ihren erstaunungswürdigsten Werken wandeln!«

Bald aber fuhr der Gedanke an Vivaldi durch ihre Seele, und sie zerschmolz in Thränen: allein diese Schwäche dauerte nur einen Augenblick und sie behielt auf der übrigen Reise eine unerschütterliche Fassung und Gleichmuth der der Seele bei.

Als die Hitze und das Licht abnahm, fuhr der Wagen einen engen Felsenweg herab, der wie durch ein umgekehrtes Telescop ferne Ebnen und weit hinter ihnen aufsteigende Berge, mit allem Purpurglanz der untergehenden Sonne beleuchtet, sehn ließ. Längs dieser tiefen und schattigten Perspektive rollte mit ungestümmer Gewalt ein Strom, den man zwischen den Klippen eines Berges herabstürzen sah, und der erst zwischen den dunkeln Felsen schäumend und sprudelnd, dann mit klarem Laufe bis zu dem Rande andrer Gebürge floß, von wo er aufs neue mit donnernder Stärke in den Abgrund stürzte, seine nebligten Wolken hoch in die Luft sprützte, und sich die ganze Herrschaft dieser einsamen Wildniß anzumaßen schien. Sein Bette nahm die ganze Breite der Spalte ein, welche einige starke Erderschütterungen geformt zu haben schienen, und ließ nicht einmal zu einem Wege an seinem Rande Platz. Die Straße lief daher hoch zwischen den Klippen hin, die über dem Flusse hiengen, und schien in der Luft zu schweben, während die Dunkelheit und Tiefe der Abgründe, die sich über ihr thürmten und unter ihr sanken, mit der erstaunlichen Kraft und dem Aufruhr des herabstürzenden Wassers zusammen, den Paß schrecklicher machten, als der Pinsel beschreiben, oder die Sprache ausdrücken kann.

Ellena fuhr ihn nicht mit Gleichgültigkeit, aber mit Ruhe hinan; sie empfand eine Art von Vergnügen darin, auf die unwiderstehliche Fluth herab zu blicken; allein diese Regung stieg bis zu einem Schauder, als sie wahrnahm, daß der Weg zu einer leichten Brücke führte, die in einer unermeßlichen Höhe über den Spalt geworfen, zwei entgegengesetzte Klippen vereinigte, zwischen welchen der ganze Fall des Stroms herabstürzte. Die Brücke, blos durch ein niedriges Geländer eingefaßt, schien zwischen den Wolken zu hängen. Ellena vergaß bei dem Hinüberfahren beinahe ihr Unglück. Nachdem sie die andre Seite des Abgrundes erreicht hatten, führte der Weg allmählig die Felsen hinab, an deren Fuße er sich in weite Aussichten über Ebnen und gegen ferne Gebürge in die vom Abendroth glühende Landschaft öffnete, welche schon lange diesen beschatteten Weg zu begränzen schien. Der Uebergang war wie durch das Thal des Todes in die gesegneten Gefielde der Ewigkeit – allein dies Bild verweilte nicht lange bei Ellenen. Hoch zwischen die Klippen eines Berges geklebt, der gleichsam ein Backenzahn dieses schrecklichen Schlundes schien, und einer der höchsten von einer Kette war, welche die Ebnen umringte, erschienen die Thürme und Zinnen eines Klosters – und sie merkte bald, daß ihre Reise sich hier endigen sollte.

Am Fuße dieses Berges stiegen ihre Gefährten aus, und nöthigten sie, dasselbe zu thun, weil der Aufgang zu steil und uneben war, um einen Wagen zuzulassen. Ellena folgte ohne Widerstand, wie ein Lamm zum Opfer, einen Pfad hinauf, der sich zwischen den Felsen hinwand, und durch Gebüsche von Mandelbäumen, Feigen, breitblättriger Myrthe und immer grünen Rosensträuchen mit dem Hagapfelbaum, schön an Frucht und Blüthe, gelben Jasmin, der entzückenden Acacia Mimosa und einer Menge andrer wohlriechender Pflanzen vermischt, führte. Diese Gebüsche ließen oft einen Schimmer auf das unten glühende Land zu, und öffneten sich zu Zeiten in weite Aussichten von den beschneyten Bergen des Abruzzo begränzt. Bei jedem Schritte traf man auf Gegenstände, die ein ruhiges Gemüth würden entzückt haben; der schöne bunt gesprenkelte Marmor, der die Klippen gerade über ihnen bildete, ihre gebrochnen Massen, mit Moos und Blumen von allen lebhaften Farben, die der Regenbogen mahlt, ausgelegt; die Schönheit der Gesträuche, die sie belaubten und die majestätische Anmuth der Palmen, die über ihnen wehten, würden jedes andre Auge, außer Ellena, deren Geist in Trübsinn versunken war, oder ihrer Gefährten, deren Herzen dem Gefühl abgestorben waren, bezaubert haben. Einzelne Theile des großen Gebäudes, dem sie sich näherten, schienen hie und da zwischen den Bäumen durch: das lange westliche Fenster der Kathedralkirche mit den Thürmen, die über ihm nickten; die schmal zugespitzten Dächer der Klöster Es handelt sich selbstverständlich nur um ein Kloster; und »cloisters«, wie es im Original heißt, bedeutet: »Kreuzgang«. - Es fällt auf, dass die angebliche »Neubearbeitung« von Maria Weber (2016) diesen Übersetzungsfehler von Meta Forkel-Liebeskind ungeprüft übernommen hat. – D.Hg.; die Winkel der unübersteiglichen Mauern, die den Garten vor den Abgründen unten einzäunten, und das dunkle Portal, das in den großen Vorhof führte: alle diese Gegenstände, die von Zeit zu Zeit unter der Dunkelheit der Cypresse und ausgebreiteten Ceder hervorsahen, schienen der unglücklichen Ellena mit Winken zukünftigen Leidens zu drohen. Sie kamen vor verschiednen Schreinen und halb zwischen den Gesträuchen und Klippen verborgnen Bildern vorbei: und als sie dem Kloster nahe waren, standen ihre Begleiter bei einer kleinen Kapelle neben dem Wege still, wo sie, nach Untersuchung einiger Papiere – eine Handlung, die sie mit Verwundern bemerkte, bei Seite giengen, als wenn sie eine Berathschlagung über sie hielten. Ihr Gespräch wurde so leise gehalten, daß sie auch nicht einen Ton deutlich vernehmen konnte; es würde ihr auch wenig geholfen haben; doch hatte das tiefe Stillschweigen, welches sie bisher beobachteten, ihre Neugier jetzt, da sie sprachen, sehr erhöht.

Der eine verließ bald darauf die Kapelle und gieng allein nach dem Kloster; Ellena blieb in der Verwahrung seines Kameraden, dessen Mitleid zu rühren sie jetzt einen letzten, obwohl beinahe hoffnungslosen Versuch machte. Er antwortete auf alle ihre Bitten nur mit einem Winken der Hand und abgekehrten Gesicht; und es blieb ihr nichts übrig, als dem Uebel, das sie weder vermeiden, noch überwinden konnte, mit Stärke und Geduld entgegen zu gehn. Der Fleck, wo sie die Zurückkunft des einen ihrer Entführer erwarteten, war nicht von der Art, Melancholie zu befördern; die schwelgerische und feierliche Art der Melancholie ausgenommen, welche der Anblick großer Gegenstände einflößt. Er überragte den ganzen Umfang der Thäler, von welchen sie vorher nur einzelne Stellen gesehn hatten, und die große Kette der Berge, welche die reiche Landschaft unten mit einer unübersteiglichen Mauer einzuschließen schienen. Ihre gethürmten und phantastischen Gipfel, die sich wie Flammen, die auf einen Punkt brennen, in der neblichten Luft zusammenzogen, stellten Bilder von besondrer Größe dar, während jeder kleinere Zug und Linie in dieser Abendstunde der Bemerkung entweichend, sich in gigantischere Massen aufzulösen schien, denen die zweifelhafte Färbung, die feierliche Dunkelheit, die sich über sie auszustrecken begann, Stärke und einen erhabnern Charakter gaben. Die Stille und tiefe Ruhe der Landschaft drückte diesen Charakter noch schauerlicher dem Herzen ein.

Während Ellena, in Tiefsinn versenkt, da saß, drang der sanfte Klang der Vespermusik aus der Kirche oben, in ihr Ohr; es war eine Musik, die das Stillschweigen zu gewinnen schien und in vollkommnem Einklang mit ihren Gefühlen stand; feierlich, tief und volltönend, schwoll sie heiligem Rauschen und rollte in Murmeln dahin, welches die Aufmerksamkeit bis zu der letzten schwachen Note verfolgte, die in der Luft zerschmolz. Ellenas Herz erkannte die Macht dieses hohen Gesanges an; und während sie auf einen Augenblick die sanftern Stimmen der« Nonnen unterschied, die sich in den Chor mischten, nährte sie eine Hoffnung, daß diese wenigstens nicht ganz fühllos gegen ihr Leiden seyn würden, und daß sie bei ihnen einen so sanften Trost der Sympathie finden würde, als diese Zärtlichkeit hauchenden Töne zu verrathen schienen.

Sie hatte wohl beinahe eine halbe Stunde auf dem rasigten Abhange vor der Kapelle geruht, als sie durch die Dämmerung zwei Mönche vom Kloster herab auf diesen Ort zukommen sah. So wie sie näher kamen, unterschied sie ihre Kleidung von grauem Zeuge, die Kappe, das geschorne Haupt, wo nur eine Krone von weißem Haar übrig gelassen war, und andre Insignien ihres besondern Ordens. Als sie die Kapelle erreichten, redeten sie ihren Wächter an, mit dem sie sich einige Schritte zurückzogen. Ellena hörte zum erstenmale den Ton von ihres Führers Stimme, und so schwach es auch nur war, merkte sie ihn doch genau. Der andre ließ sich noch nicht sehn, aber es litt keinen Zweifel, daß diese Mönche auf seine Nachricht aus dem Kloster gekommen waren. Zu Zeiten, wenn sie den längsten von beiden ansah, bildete sie sich ein, daß es derselbe Mann wäre, dessen Abwesenheit sie bemerkte; eine Vermuthung, die immer stärker wurde, je genauer sie ihn betrachtete. Diese Figur glich ihm an Größe und Dicke; und dieselbe linke Unbehülflichkeit, welche sogar der Mantel ihres Begleiters nicht ganz verbergen konnte, drängte sich auch unter dem gefalteten Kleide des Mönchs hervor. Wenn man dem Gesichte trauen darf, so hatte dieser Mönch auch ein ächtes Räuberherz; sein scharfes, listiges Auge schien gewohnt, auf Beute zu lauschen. Sein Ordensbruder hatte weder in seinem Gesicht noch Wesen etwas besonders Auffallendes.

Nach einer geheimen Unterredung von ziemlicher Länge näherten sich die Mönche Ellenen, und sagten ihr, daß sie mit ihnen ins Kloster gehn müßte; worauf ihr vermummter Führer sie ihnen überlieferte, und sogleich den Berg herab sich fort begab.

Die Gesellschaft sprach kein Wort, wie sie den steilen Pfad verfolgten, der nach den Thoren dieses abgesonderten Gebäudes führte, die ein Leyenbruder ihnen öffnete. Ellena trat in einen geräumigen Hof, der von drei Seiten mit hohen, von Klosterreihen Siehe oben! Im Original: »lined with ranges of cloisters«, also: ›vom Kreuzgang umsäumten…‹. – D.Hg. eingefaßten Gebäuden umschlossen war; die vierte gieng nach einem Garten, den melancholische Cypressen beschatteten, die sich bis zur Kirche hin streckten, deren ausgelegte Fenster und verzierte Thürme die Aussicht zu schließen schienen. Andre große und abgerißne Gebäude besäumten die Gärten zur Linken; rechts breiteten sich geräumige Olivengründe und Weinberge bis zu den Klippen aus, die eine Art von Schanze für diese ganze Seite des Klostergebietes bildeten.

Der Mönch, ihr Führer, gieng quer über den Hof nach dem nördlichen Flügel, und zog eine Glocke; die Thüre wurde von einer Nonne geöffnet, in deren Hände man Ellena gab. Ein bedeutender Blick, aber keine Worte, wurde zwischen den Geweihten gewechselt; der Mönch gieng fort, und die Nonne, immer schweigend, führte sie durch viele einsame Gänge, wo auch nicht ein ferner Fußtritt wiederhallte, und deren Mauern mit Gegenständen grob bemahlt waren, welche den strengen Aberglauben des Ortes anzeigten, und einen melancholischen Schauder einflößen mußten. Ellenas Hoffnung auf Mitleid verschwand, wenn ihre Augen über diese Symbole der Denkungsart der Einwohnerinnen und auf das Gesicht der Nonne fielen, welches eine düstre Bosheit verkündigte, die bereit schien, einen Theil des Unglücks, was sie selbst litt, auf andre abzuwerfen. So wie sie mit tonlosem Schritt vorwärts glitt, schien sie in ihrem weißem Tuch, das längs diesen feierlichen Gängen flatterte, mit ihren hohlen, von dem gemischten Licht und Schatten der Kerze, die sie in der Hand trug, getuschten Zügen, mehr einem aus dem Grabe erstandnen Geiste, als einem lebendigen Wesen zu gleichen. Diese Gänge endigten im Sprachzimmer der Aebtissin, wo die Nonne still stand, und sich zu Ellenen wendend, sagte: »Es ist die Vesperstunde; verweilen Sie hier, bis unsre Aebtissin aus der Kirche kömmt; sie will mit ihnen sprechen.«

»Welchem Heiligen ist dies Kloster geweiht, Schwester,« fragte Ellena, »und wer präsidirt darüber?«

Die Nonne gab keine Antwort und verließ das Zimmer, nachdem sie die verlaßne Fremde mit einem Blicke forschender Bösartigkeit angesehn hatte. Die unglückliche Ellena war ihren eignen Betrachtungen noch nicht lange überlassen geblieben, als die Aebtissin erschien: eine stattliche Dame, die dem Anschein nach, von ihrer eignen Wichtigkeit höchst eingenommen und darauf vorbereitet war, ihren Gast mit Strenge und verächtlichem Stolze aufzunehmen. Diese Aebtissin, die selbst aus einem alten Hause abstammte, hielt unter allen möglichen Verbrechen nächst dem des Kirchenraubes, Beleidigungen gegen Personen von Rang für am unverzeihlichsten. Es ist also nicht zu verwundern, daß sie gegen Ellena, ein junges Frauenzimmer von keiner Familie, die sich, ihrer Meinung nach, heimlich mit dem edeln Hause Vivaldi zu verbinden gesucht hatte, nicht nur Verachtung, sondern auch Unwillen fühlte, und daß sie sich bereitwillig finden ließ, nicht nur die Verbrecherinn zu strafen, sondern auch zu gleicher Zeit zum Mittel zu dienen, die alte Würde der Beleidigten aufrecht zu halten.

»Ich höre,« sagte die Aebtissin, bei deren Erscheinung die geängstete Ellena aufstand; »ich höre,« sagte sie, ohne ihr ein Zeichen zum Niedersitzen zu geben, »daß Sie die jung Person sind, die von Neapel angekommen ist.«

»Mein Name ist Ellena di Rosalba,« sagte die Zuhörende, welcher das Wesen, das man annahm, um sie zu niederdrücken, einigen Muth wieder gab.

»Ich weiß nichts von Ihrem Namen,« erwiederte die Aebtissin; »man hat mich nur benachrichtigt, daß Sie hieher geschickt sind, um zur Erkenntniß Ihrer selbst und Ihrer Pflichten zu kommen. Bis die Zeit vorüber seyn wird, auf welche Sie unter meine Aufsicht gegeben sind, werde ich aufs gewissenhafteste die Pflichten des lästigen Geschäftes erfüllen, welches Achtung für die Ehre eines edlen Hauses mich bewegt hat zu übernehmen.«

Durch diese Worte wurden die Urheber und die Bewegungsgründe dieses seltsamen Vorgangs Ellenen auf einmal entdeckt. Sie stand einige Augenblicke, von dem plötzlichen Schrecken, das in ihre Seele drang, überwältigt, stumm und bewegungslos. Furcht, Schaam und Unwillen bestürmten sie wechselsweise, und der Stachel beleidigter Ehre, daß man sie in Verdacht hielt und anklagte, die Ruhe einer Familie gestört, die Verbindung mit einer Familie, in welcher man sie verachtete, gesucht zu haben, drang tief in ihr Herz, bis der Stolz selbstbewußten Werthes ihren Muth belebte, und ihre Geduld stärkte. Sie fragte nun, ›auf wessen Willen sie aus ihr Heimath gerissen wäre, und auf wessen Gewalt sie hier, wie es schiene, als Gefangene gehalten würde?‹

Die Aebtissin, nicht gewohnt, ihrer Macht widersprochen, oder ihre Worte bezweifelt zu finden, war im ersten Augenblicke zu aufgebracht, um zu antworten, und Ellena merkte, aber nicht mehr mit Schrecken, daß das Ungewitter sich über ihrem Kopfe zusammen zog.

»Ich allein bin die Beleidigte,« sagte sie zu sich selbst, »und soll der schuldige Unterdrücker triumphiren, und die unschuldig Leidende unter der Schaam erliegen, die nur dem Verbrecher gebührt? Nie will ich einer so verächtlichen Schwäche nachgeben. Das Bewußtseyn, Gutes zu verdienen, wird mir Gegenwart des Geistes zurückrufen, die mich den Werth meiner Unterdrücker nach ihren Handlungen schätzen lehren und mich in Stand setzen wird, ihre Macht zu verachten.«

»Ich muß Sie erinnern,« sagte die Aebtissin endlich, »daß sich die Fragen, die Sie thun, für Ihre Lage nicht schicken, und daß Reue und Demuth die besten Mittel sind, ein Vergehn auszutilgen. Sie können gehn.«

»Sie haben vollkommen Recht,« versetzte Ellena, indem sie sich mit Würde gegen die Aebtissin verneigte; »und ich überlasse daher diese Empfindungen meinen Verfolgern.«

Ellena enthielt sich aller weitern Nachfragen oder Vorstellungen; sie fühlte, daß Vorwürfe nicht nur unnütz, sondern auch ihrer selbst unwerth wären, und gehorchte sogleich dem Winke der Aebtissin, entschlossen, da es einmal über sie verhängt war, wenigstens mit Festigkeit und Würde zu leiden.

Sie wurde von derselben Nonne, die sie herein geführt hatte, wieder aus dem Sprachzimmer geführt, und als sie durch das Refektorium gieng, wo die eben aus der Vesper zurückgekehrten Nonnen versammelt waren, sagten ihre forschende Blicke, ihr Lächeln und geschäftiges Flüstern ihr deutlich, daß sie nicht nur ein Gegenstand der Neugierde, sondern des Verdachts für sie sey, und daß sie wenig Sympathie von Herzen erwarten konnte, welche selbst die Verrichtungen der stündlichen Andacht nicht von dem boshaften Neide geläutert hatten, der sie über die Demüthigung andrer frohlocken lehrte.

Das kleine Zimmer, wohin Elena geführt und wo sie zu ihrer großen Freude allein gelassen wurde, verdiente eher den Namen einer Zelle als eines Zimmers; es hatte, so wie die Zellen der Nonnen, nur ein kleines Fenster; eine Madratze, ein Stuhl und ein Tisch mit einem Crucifix und einem Gebetbuch machten die ganze Möblirung aus. Ellena unterdrückte einen geheimen Seufzer, als sie diese traurige Wohnung ansah, aber sie konnte nicht ungerührt bei Erinnerungen bleiben, die bei dieser Ansicht ihres veränderten Zustandes sich zu ihrer Seele drängten – sie konnte nicht ohne bittre Thränen Vivaldi weit entfernt, vielleicht auf immer und über ihr Schicksal sogar unwissend denken. Allein sie trocknete sie ab, wenn der Gedanke an die Marquise sich in ihre Gedanken schlich – denn andre Regungen als die des Schmerzes bemächtigten sich ihrer dabei. Der Marquise vorzüglich schrieb sie ihre jetzige Lage zu, und es war ihr nun klar, daß Vivaldi's Familie nicht nur einer Verbindung mit ihr abgeneigt, sondern durchaus dagegen gewesen war, obgleich Signora Bianchi sie zu überreden gesucht hatte, daß man nach ihrer bekannten Denkungsart vermuthen könnte, sie würden diese Verbindung nicht gerne sehn, würden sich aber bald in etwas finden, welches sie durch die stolzeste Mißbilligung nicht mehr ungeschehn machen könnten.

Diese Entdeckung, daß sie gänzlich und durchaus von ihnen verworfen sey, erweckte allen Stolz, den die mißleitete Klugheit ihrer Tante und ihre Liebe für Vivaldi in Schlummer gewiegt hatte, sie empfand jetzt den bittersten Verdruß, die kränkendsten Vorwürfe, eingewilligt zu haben, heimlich in eine Familie zu treten. Die eingebildete Ehre einer so vornehmen Verbindung verschwand, wenn sie die Bedingungen, unter welchen sie dazu gelangen sollte, betrachtete, und Ellena sah jetzt, da ihr richtiger Verstand seinem eignen Urtheil überlassen war, mit unendlich mehr Stolz und Vorzug auf den Erwerb des Fleißes hin, der sie bisher unabhängig gemacht hatte, als auf alle Auszeichnungen, die ihr widerstrebend zu Theil werden konnten. Das Bewußtseyn der Unschuld, das sie in Gegenwart der Priorin unterstützte, begann zu schwanken:

»Ihre Anklage war zum Theil gerecht,« sagte Ellena, »und ich verdiene Strafe, daß ich mich nur einen Augenblick so weit erniedrigen konnte, eine Verbindung zu wünschen, von der ich wußte, daß man sie ungern sah. Allein es ist noch nicht zu spät, meine eigne Achtung wieder zu gewinnen, ich werde meine Unabhängigkeit behaupten und Vivaldi auf immer entsagen. Ihm entsagen! – ihn verlassen, der mich liebt – dem Kummer überlassen! Ihn, an den ich auch jetzt nicht ohne Thränen denken kann, dem ich meine Gelübde gegeben habe, der seine Ansprüche auf die geheiligte Erinnerung meiner sterbenden Freundin gründen kann, ihn, dem mein ganzes Herz geweiht ist! – O schreckliche Wahl! daß ich nicht anders recht handeln kann, als auf Kosten meiner ganzen zukünftigen Glückseligkeit. Recht! – und kann es denn recht seyn, ihn zu verlassen, der alles für mich hinzugeben geneigt ist – ihn einem endlosen Kummer Preis zu geben, um die Vorurtheile seiner Familie zu befriedigen?«

Die arme Ellena merkte bald, daß sie den Eingebungen eines gerechten Stolzes nicht gehorchen konnte, ohne von ihrem Herzen einen Widerspruch zu erfahren, den sie bisher noch nie empfunden hatte. Ihre Neigung war jetzt zu tief gefesselt, als daß sie um den Preis eines langen Leidens mit Festigkeit hätte handeln können. Der Gedanke, Vivaldi aufzugeben, war so sehr schmerzhaft, daß sie es kaum ertragen konnte, nur einen Augenblick dabei zu verweilen; wenn sie aber auf der andern Seite an seine Familie dachte, so schien es ihr, als könnte sie niemals einwilligen, ein Mitglied derselben zu werden. Sie würde das irrige Urtheil der Signora Bianchi getadelt haben, deren Ueberredungen so viel beigetragen hatten, sie in diese Lage zu bringen, wenn nicht die Zärtlichkeit, die sie für ihr Andenken hegte, es ihr unmöglich gemacht hätte. Es blieb ihr jetzt nichts übrig, als sich geduldig gegenwärtigen Uebeln zu unterwerfen, die sie nicht überwinden konnte: denn Vivaldi um den Preis der Freyheit zu verlassen, wenn man ihr auch unter dieser Bedingung die Freyheit anböthe, oder Trotz allem, was der Stolz sagte, seine Hand anzunehmen, wenn es ihm je gelänge, ihre Befreyung zu bewürken, schien ihren verworrnen Gedanken beinahe gleich unmöglich. Als aber die Wahrscheinlichkeit, daß er nie im Stande seyn würde, ihren Aufenthalt zu entdecken, ihr wieder lebhaft wurde, sagte ihr der Schmerz, den sie empfand, wie weit mehr sie Vivaldi zu verlieren, als ihn anzunehmen fürchtete, und daß nach allem, Liebe die mächtigste Neigung ihres Herzens war.



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