Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Kind

Multatuli erzählt einmal von einem Kinde, das seinen Vater fragte, warum die Sonne nicht falle. Der Vater schämte sich, weil er nicht wußte, warum die Sonne nicht fällt, und er bestrafte sein wißbegieriges Kind, weil er unwissend war. Das Kind fürchtete fürderhin den Zorn seines Vaters und fragte nimmer wieder.

In der Tat, auf so verlogenen und unhaltbaren Autoritätsbegriffen war lange Zeit unser Verhältnis zum Kinde aufgebaut, und durch Prügel und Zank allein suchten wir unserer Autorität Geltung zu verschaffen. Wir spielten uns zu Despoten auf; die Kinder waren unsere Sklaven, die unsere Laune zu fürchten hatten und unseren Zorn. Wir straften sie um ihrer Eigenart und um ihrer Begabung willen, wenn die Eigenart oder die Begabung uns nicht gefiel. Und auch heute noch unterdrücken wir ihre Individualität, bestrafen sie, wenn sie wagen, selbständig zu denken und zu handeln, und im Alter teilt das Leben ihnen seine herben Schläge aus, wenn sie unselbständig und unentschlossen sind. In unserer Methode zu erziehen, gleichen wir dem Kinde, das den Baum schlägt, an dem es sich stößt. Es weiß noch nicht, seiner eigenen Unachtsamkeit die Schuld zu geben, ebensowenig wie die Eltern für die Fehler ihrer Kinder sich die Schuld zu geben geneigt sind. Sage mir aber, welche Fehler und Tugenden deine Kinder haben, und ich werde dir sagen, was für ein Vater, was für eine Mutter du bist. Die Eltern stoßen sich an ihren eigenen Unarten, die ihnen erst im Kinde zum Bewußtsein kommen. Wir glauben sogar ein Recht zu haben, die Kinder auf mannigfache Weise peinigen zu dürfen, weil sie uns nun zufällig das Leben danken. Das biblische Gebot kommt uns hier zu Hilfe, ein Gebot, ebenso unpädagogisch wie hart, das wir denn auch energisch genug unseren Kindern einschärfen. Und dieses Gebot, von dem Ellen Key – hierin eins mit Goethe und mit der ganzen vernünftigen Welt – sagt, daß es eine Vorschrift sei, mißbraucht zur Bequemlichkeit der Eltern, die Mangel fühlten an geistigem Übergewicht und die zu faul waren oder zu dürr von Herzen, um Liebe zu verdienen, – dieses Gebot gibt uns das Privilegium, von unseren Kindern Untertänigkeit zu fordern. Und sonderbar! Es gibt keinen noch so entmenschten Vater, der sich nicht zugleich für einen guten Erzieher hielte.

Woher kommt das?

Wer mit Pferden, Hunden, Katzen und Papageien umgehen will, der muß es lernen. Nicht jeder wird imstande sein, die intellektuellen Fähigkeiten einer Gans oder eines Seelöwen auf solche Höhe zu bringen, wie wir sie zu bewundern sehr oft Gelegenheit hatten. Ja, selbst der Direktor des kleinsten Zirkus wird mir die Fähigkeit absprechen, seine Flöhe ihrer Natur gemäß behandeln zu können. Kinder aber glaubt jeder erziehen zu dürfen und erziehen zu können. Wenn ein Klown wünscht, daß sein Esel gute Sprünge mache, so peitscht er ihn nicht, sondern er gibt ihm Zucker und streichelt ihn. Er geht auf seine Natur ein, sucht seine Eigenheiten zu verstehen und nimmt Rücksicht auf sie. Er stellt sich auf den Esel ein. Will man aber, daß Kinder etwas gut machen sollen, so schließt man immer von sich selber auf das Kind und muß es naturgemäß mißverstehen. Das Kind trägt ebenso seine eigene Welt in sich, wie wir selber. In dieser Welt des Kindes aber kennen wir uns absolut nicht aus, sonst würden wir Dreißig-, Vierzig- und Fünfzigjährigen nicht verlangen, daß das Kind unsere Gedankenfolgen verstehe, die ein Kind nie restlos verstehen kann. Anstatt daß wir zum Kinde hinabsteigen, wollen wir, daß das Kind sich auf uns einstelle und uns folge. Es ist, als verlangte man von der Henne, daß sie schwimme, oder vom Hund, daß er klettere. Das führt dann immer zu Mißverständnissen, Katastrophen und Tragödien. Dies und nichts anderes ist das Geheimnis der Kinderselbstmorde, der entarteten und verbrecherischen Kinder, die Revolutionäre werden gegen ihre Umgebung, um die verheißungsvolle Weite aufzusuchen, der nervösen und abgestumpften Kinder und der Kinder, die Revolutionäre werden gegen ihre Väter.

Die Liebe ist es, die Wunder wirkt, und nicht Despotismus und nicht Herrentum; denn das erfüllt die Köpfe der Kinder sofort mit Furcht, Schrecken und Verwirrung. Sanftmütiges Zurückführen ihrer zerstreuten Gedanken auf den Pfad, den sie verfolgen sollen, würde sie zu besseren Menschen machen als jene rauheren Methoden, die ihre Ideen ablenken und in die Lüge verstricken. Gustav Wied dagegen, der dänische Aristophanes, empfiehlt in seinem köstlichen Buche »Die Karlsbader Reise der leibhaftigen Bosheit« das Prügeln der Kinder aus rein zynischen Gründen. Prügle deine Gören blau und grün, sagt er etwa; mache ihnen das Leben im Elternhause zur Hölle, vergifte ihnen jede Minute, daß sie endlich keinen größeren Wunsch kennen als den, dem Heim zu entfliehen. Wenn sie dann draußen stehen im Kampfe und das Leben sie noch so sehr zwickt und zwackt, so werden sie alles viel leichter ertragen und hinnehmen. Sie werden sich dann der heimatlichen Hölle erinnern, in der man sie noch viel schrecklicher gepeinigt hat, als das gegenwärtige Leben sie quält. Sentimentalität und Weichlichkeit werden verschwinden, wenn die Eltern ihren Kindern das Leben nach allen Regeln der Kunst verekeln. Diese boshafte Pädagogik hat sicher etwas für sich, wenngleich man den Eltern nicht raten möchte, das Experiment zu machen.

Der Stock und die Rute gehörten wohl früher zu den unentbehrlichsten Hilfsmitteln des Unterrichts, und Schläge waren das tägliche Brot der Jugend. Oft mußten die Kinder sogar Spülwasser trinken oder aus dem Hundetrog essen. Es kam vor, daß der Schüler an eine Säule angebunden und jämmerlich ausgepeitscht wurde, indes seine Kameraden ein höhnendes Lied dazu sangen. Daran nicht genug, mußte der an den Schandpfahl Gestellte nachher noch die Peitsche oder die Rute küssen. In anderen Schulen mußten sie zur Strafe unförmliche Mützen – die Eselskappe – aufsetzen, das Schandmäntelchen anziehen, auf Erbsen knieen und wie schwere Verbrecher Strick und Roßkette um den Hals tragen. Ein biederer schwäbischer Lehrer des 18. Jahrhunderts, Johann Jakob Häberle, der bereits auf eine gute Statistik Wert zu legen schien, hat eine Liste geführt über die Schläge, die er während seiner einundfünfzigjährigen Amtsführung verabreicht hat. Danach hat er 24 010 Rutenhiebe ausgeteilt, außerdem 36 000 Rutenhiebe für nicht erlernte Kinderverse, »alle die Tausende Handschmisse, Pfötchen, Notabenes mit Bibel und Gesangbuch, Kopfnüsse usw. nicht mitgerechnet«.

In der Regel verurteilten es die Eltern nicht, wenn ihren Kindern in der Schule ein allzu reicher Denkzettel gegeben wurde, und die Prediger der »guten alten Zeit« wußten, wenn sie auf einen verstorbenen Schulmeister eine Leichenrede zu halten hatten, dem Toten oft nichts Ruhmreicheres nachzusagen, als daß er die Jugend ordentlich zu züchtigen verstand. »He ging aber nich met se um as een Böddel oder Tyrann, de se schinnen und fillen wull oder se alle över eenen Kamm schoor«, lobt der Prediger Sackmann (1643-1718) einem Magister am Grabe nach. »Naedem eener sündigede, naedem ward he straft. Erst kreeg he Oorfygen, herna Handsmette oder Knypkens, dann kreeg he eenen leddernen Aars vull, den toog he ööme ganz stramm in de Höögde, dat dat Hinnerkasteel ganz prall ward, mit dem Stock vor de Böxen; un wen he et gar to grov maakt hadde, endlik eenen rechten mit de Raude vor den blooten Steert, nach der Ermahnung des weisen Königs Salomon: wer sein Kind lieb hat, der hält es unter der Ruten. De Räuden hadde he vorher int Water leggt, dat se beter dörtrokken; und de Strafe is ook am besten, da behold de Jungens heile Knoken by. He hadde eenen besonnern Handgriff daby; wenn de Böxe herunner was, so kreeg he den Jungen twischen de Beene, slaug syn rechte Knee ööwer ööme her, met der linken Hand heilt he ööme dat Genikke nedder, do hadde he öön in syner Gewalt, dat he keenen Spalks maaken kunne, wenn he met de rechten Hand hauete. Dat hebbe eck ook noch van ööme leert und by mynen Kinnern ook so maakt. Mannikmal mosten se sek ook wol met de blooten Knee up Kirschensteene setten, und det hulp by ettikken meer as Släge; na der Regul Pauli: Prüfet alles und das Gute behaltet!« Ob die Schüler bei solcher Grabrede vom Ernst des Todes sehr ergriffen gewesen sein mögen?

Zucht und Strafe – welche Namen! Wie viel Furchtbares erwacht bei dem Gedanken an sie in meiner Seele. Ich sehe Galgen und Scheiterhaufen, Richter und Büttel, Kerker und Foltern, wo diese nie hätten wirksam sein dürfen. Ich sehe Autodafés und Marterinstrumente; ich sehe die finstere Stirn eines berunzelten und schulstäubigen Orbilius, eine wahre Mumie seiner Zeit; sehe, wie jede Blüte, die er betastet, sogleich welkt und wie die Musen vor diesem unholden Bücherwurm auf ewig entfliehen; ich sehe den Buchstabiermeister mit seinen Abzeichen, dem Stock, dem Lineal, der Faust, selbst Richter und Henkersknecht, wie er die junge Lebensfreude geißelt, die nicht dafür kann, daß sie so lustig ist; wie er die Gefühle der Scham, des Ehrgeizes, der Freude, der berechtigten Neugier, der gesunden Ausgelassenheit zusammenhaut und auf den jungen Körpern klein klopft. Aber wer ein Kind schlägt, der fährdet nicht allein sein Leben, sondern er verletzt etwas, worauf alles Leben ruht, ein inneres Gefühl von Lebenswürdigkeit, was ich zu gering nennen würde, wenn ich es Ehrgefühl nennte.

Gewiß, es gibt kein bequemeres Erziehungsmittel, und Prügel waren deshalb zu allen Zeiten sehr beliebt. Das Kind macht sehr rasch die Erfahrung, daß Schläge wehe tun, und da es keinen Schmerz erdulden will, erreicht der Erzieher sehr bald alles, was er will, und wenn das, was er erreichen will, auch noch so verkehrt und sinnlos ist. Und wenn man heute gottlob auch nicht mehr in dem Maße wie in der »guten alten Zeit« mit Prügeln und vielleicht auch nicht mehr mit Zank zu erziehen sucht, so ist es doch ganz gewiß, daß man das Kind in einer Weise vom elterlichen Willen abhängig macht, die strafwürdig ist und die ein Kind ebenso qualvoll empfindet wie die Frau, wenn sie die gehorsame Sklavin ihres Mannes sein soll. Das Höchste, wozu Mann und Weib und Eltern und Kinder es gegenseitig bringen können, ist: einander Kamerad und Freund zu sein. Und wo ein solches Verhältnis zwischen Eltern und Kindern nicht hergestellt werden kann, da zwingt man das Kind zur Lüge und zum Selbstverrat. Der natürliche Selbsterhaltungsinstinkt veranlaßt dann das Kind, sein Inneres vor dem Erzieher zu verschließen, der in seinen Gedanken und Neigungen plump herumtastet, der rücksichtslos die feinsten Gefühle des Kindes verrät oder lächerlich macht, der vor Fremden seine Fehler verweist oder seine Eigenschaften belobt, kurz, der die wunderbaren Fäden, aus denen das feine Gewebe der Kindesseele zusammengesetzt ist, durcheinanderwirrt, um eine große Verwüstung darin anzurichten. Der Erzieher vergißt, daß das Kind, sobald es sich an einen Schlag erinnern kann, auch schon zu alt ist, um ihn zu empfangen. Der Erzieher, der gar zur körperlichen Züchtigung greift, gleicht in meinen Augen einem Musiker, der sein verstimmtes Instrument mit den Fäusten bearbeitet, anstatt Ohr und Seele zu brauchen, um es zu stimmen. Der Erzieher vergißt, daß das Kind schon im Alter von vier, fünf Jahren die Erwachsenen erforscht und durchschaut, mit einem instinktiven Scharfsinn seine bewußten Wertungen anstellt, mit bebender Sensitivität auf jeden Eindruck reagiert. Das leiseste Mißtrauen, die geringste Unzartheit, die kleinste Ungerechtigkeit, der flüchtigste Spott können lebenslängliche Brandwunden in der feinbesaiteten Seele des Kindes zurücklassen, während umgekehrt die unerwartete Freundlichkeit, das edle Entgegenkommen, der gerechte Zorn sich ebenso tief in diese Sinne einprägen, die man weich wie Wachs nennt, aber behandelt, als wären sie aus Ochsenleder. Wir berechnen alles, nur nicht den Schaden, den unser Erziehungssystem anrichtet. »Wir fabrizieren alles, außer wirklichen Menschen«, sagt Ruskin; »wir bleichen Baumwollstoffe, härten und veredeln Stahl, raffinieren Zucker, formen Porzellan und drucken Bücher. Aber einen einzigen lebendigen Geist zu raffinieren, zu reformieren und zu veredeln, das fällt niemals in unsere Profitberechnungen.«

Erst die neuere Pädagogik und Kinderpsychologie erkannte, daß es ungeheurer Kräfte bedarf, um einem einzigen Kinde gerecht zu werden, und daß das Kind nicht in erster Linie zur Freude, zum Stolz oder zur Behaglichkeit der Eltern da ist, sondern daß es zunächst Selbstzweck ist und einst im großen Zusammenhang des Daseins seinen Platz auszufüllen hat. Das Kind ist von der Natur weder geschaffen, damit Eltern und Erzieher mit einem lebendigen Spielzeug versorgt seien, noch auch, damit es für jene ein Ableiter ihrer Launen sei.

Und ist es ein Adler, so hat er schon als Junges seine Flügel; sie sind nicht mehr zu zerbrechen; er hat seine Sonnenaugen, sie sind nicht mehr zu blenden. Wie wird er emporfliegen über jenes krächzende Käuze- und Dohlengeschlecht, das in ihm nur Gemeines sah, weil er so lange im Neste saß! Wie wird er emporfliegen und seine Sphärenkreise in der Luft und um seine Sonne ziehen! Lest die Biographien der großen Dichter und Künstler, und ihr werdet finden, daß die Natur gewöhnlich die geheimnisvolle Bildung an dem Kinde schon längst vollendet hatte, als ihr noch glaubtet mit plumpen Händen daran herumformen zu müssen. Wo ihr ein Bächlein vermutet habt, ist unter Fels und Moos im Verborgenen ein Strom gewachsen, der hervorgebraust kommt mit voller Kraft. Die Geschichte der Poesie und Künste lehrt freilich, daß ihr diese Ströme oft abgeleitet und eingedeicht habt, damit sie eure Mühlen treiben und eure Wiesen wässern. Aber macht immerhin Bäche und Gräben aus dem Strom; in aller Herrlichkeit wird er seine Wasser wieder sammeln und alle Pfähle, Dämme, Felsen und Berge, die ihr ihm in den Weg setztet, mit sich zum Ozean tanzen heißen.

Aber da fast alle Eltern im tiefsten Grunde ihre Kinder mißverstanden, ist es gar kein Wunder, daß auch die berufensten Seelendeuter, die Künstler und Dichter, dem Kinde in keiner Beziehung gerecht wurden. Denn wie sieht das Kind aus, das über die Bühne schreitet, durch unsere Bücher und durch alle Kunstwerke geht? Bis in sein zehntes Jahr und weit darüber hinaus ist es ein stammelndes, ziemlich blödes Geschöpf, aller tieferen Gefühle und Emotionen bar; stotternd, wo man es redend zu finden hofft; dumm, wo man seine Intelligenz wetterleuchten sehen möchte; unverständig und roh, wo man seine gesunde Vernunft und seine Feinfühligkeit an den Tag treten zu sehen erwartet; albern und taktlos, obgleich das Leben uns täglich den Beweis liefert, daß es viele Kinder gibt, die sehr klug und äußerst taktvoll sind. Diese Mißgestalt von einem Kinde hat sich von Shakespeares Zeiten bis auf unsere allerjüngsten Tage erhalten und lebt ihr verkümmertes Dasein zum Leide aller derer, die die Kindesseele kennen und lieben, mit einer verblüffenden und peinigenden Langlebigkeit fort. Erst Feodor Dostojewski hat die Kindesseele in ihrer ganzen wachsenden Pracht hellseherisch erschaut und mit einer Kraft und Liebe geschildert, die ohnegleichen in den Literaturen aller Zeiten und Völker ist. Theoretisch hat dann, nachdem das Werk Berthold Sigismunds, »Kind und Welt« (1856), unverdienterweise vergessen wurde, der allzufrüh verstorbene Wilhelm Preyer »Die Seele des Kindes« (1882) beschrieben, und es konnte natürlich nicht ausbleiben, daß ein großer Schwarm Unberufener sich gleichfalls daran machte, neue Beiträge zur Psyche des Kindes heranzuschleppen und so den Wust wertloser und unverständlich unverständiger Studien zu einem beängstigenden Berge anwachsen zu lassen.

Daß die Griechen in ihren Tragödien die Kinder nicht zu Worte kommen ließen, lag zum Teil an den Verhältnissen der Bühne, zum Teil an den Anschauungen der Alten und zum Teil außerhalb des Zweckes der Tragödie. Wo das Kind für die Tragödie ein vorwärtstreibender Hebel hätte werden können bzw. hätte werden müssen oder wo es die Gewalt gehabt hätte, die Tragödie um einige Töne menschlicher und also tragischer zu stimmen, da war es sicher stumm oder zur bloßen lebendigen Staffage herabgewürdigt. Man vergegenwärtige sich einmal beispielsweise den blinden Oedipus, der mit blutüberströmtem Gesicht von seinen Töchtern, die etwa zehnjährig gedacht sind, also Abschied nimmt:

»Wo seid ihr, meine holden Kinder?
O kommt und fasset eures Bruders Hände,
Die eures Vaters Augen so zerstörten.
Seht, meine Kinder, ich, der euch erzeugt
Mit jenem Weibe, das mich selbst gebar,
Bewußtlos und bedachtlos, ich bewein' euch,
Denn sehen – sehen kann ich euch nicht mehr!
Ich wein' um eure schauderhafte Zukunft,
Die ihr noch tragen müßt, ach, ihr Verlornen!
Wer wird euch gastlich seine Türen öffnen?
Wenn andere jubeln und die Augen weiden
Am Festesglanze, geht ihr heim und weinet.
Wenn ihr zu Jungfraun hold erblühet einst,
Wo ist der Mann, der euch zur Gattin wählt?
Wer scheut sich nicht, die Schmach auf sich zu laden,
Die schaudervoll auf meinen Eltern lastet
Und auf den euren! Euer Vater hat
Erschlagen seinen Vater, hat die Mutter
Zum Weibe sich genommen und von ihr,
Der er entsprossen selber, euch empfangen,
Das ist der Fluch, der auf euch lastet; – niemand
Wird ihn mit euch zu teilen wagen – niemand!
Ihr müßt verderben einsam und verlassen!«

Und auf diese lange Tirade des Entsetzens und Grauens haben die Kinder kein Wort des Mitleids und keinen instinktiven Schrei, den sogar das Tierjunge ausstößt, wenn man ihm seine Eltern raubt. Sie erwidern das Lebewohl ihres Vaters nicht, und sie jammern nicht ob des gräßlichen Verhängnisses, das über ihnen hereingebrochen ist. Sophokles hat sich gar nicht bemüht, die Wirkung zu schildern, die das Schicksal der Eltern in den Kindesseelen hervorgerufen hat; sie sind ihm etwas absolut Nebensächliches, und er betrachtet ihren Schmerz gewissermaßen als nicht existierend. Auf den Zuschauer, der diese kleinen geputzten Königstöchter bei all dem Jammer teilnahmslos dastehen sieht, wirken diese Kinder aber als bloße Ableiter für Ödipus, wie Puppen, wie tote Geschöpfe. Warum hat ihnen der Dichter keine Seele eingehaucht, und warum bewegt er ihnen beim Anblick ihres Vaters nicht das Herzblut, wo er es im Zuschauer doch so sehr in Wallung bringt, der dem König viel weniger nahesteht als seine Kinder! Die ganze Anteilnahme der Töchter soll uns durch eine einzige Zeile glaubhaft werden, die Ödipus selber spricht:

»Ich höre schluchzen meine lieben Kinder.«

Soll man hier in der Tat annehmen, Sophokles habe es, um die Handlung nicht zu hemmen, für überflüssig gehalten, ein Wort des Schmerzes auch den Kindern in den Mund zu legen? Denn die technischen Hemmnisse der griechischen Bühne, die mir wohl vertraut sind, erklären nicht diese erstaunliche Nichtbeachtung des Kindes. Oder dürfte man gegen einen solchen unantastbaren Heros der Weltliteratur die schlichte, bescheidene Meinung auszusprechen wagen, daß er in der Kindesseele noch gar keine Leidenswelt suchte?

In den Dramen des Euripides findet man freilich mehrfach Schilderungen aus der Seele des Kindes. In seiner »Alkestis« hat er dem etwa zehnjährigen Eumelos folgende Verse in den Mund gelegt:

»Weh, weh, welch Geschick! Niederstieg ins Grab
Die Mutter, nicht mehr weilt sie, o
Vater im Sonnenlicht!
Sie verließ mich! – Weh, ganz verwaist
Hat die Unsel'ge mich! –
Ja, siehe nur, sieh nur ihr Aug'
Und hier die erstarrte Hand!
O, vernimm mich, vernimm mich! Ach,
Mutter, innig fleh' ich! –
Bin ich's doch, ich, Mutter,
… Dein Sohn, der dich ruft, der mit heißem Schmerz
Dir an den Mund sich anschmiegt.

Steh' ich so jung doch schon, Vater, einsam da,
Beraubt der teuern Mutter! – Ach,
Fürchterlich ist das Los,
Das ich dulde! … Und dich,
Schwester, dich beugt wie mich das Geschick!
Vater, weh,
Wie umsonst, wie umsonst du sie
Freitest! – Nimmer sollt euch
Des Alters Ziel einen;
Starb sie so frühe doch; ja, und durch deinen Tod,
Mutter, versank dein Haus auch.«

Auch die Kinder der getöteten sieben Helden vor Theben treten in den »Schutzflehenden« sprechend auf. In der »Medea« reden die Kinder wenig, aber der Dichter hat ihr Wesen und ihre Äußerungen durch die Mutter charakterisieren lassen. Effektvoller ist die Rolle, die in der »Andromache« das Söhnchen der Titelheldin Molossos spielt.

Bei aller Ehrfurcht vor dem Genius des Euripides muß ich doch sagen, daß Eumelos ebensowenig Kind ist wie Molossos. Und ist es nicht bezeichnend, daß man in sämtlichen siebzehn Dramen des Euripides zur Not etwa fünfzig Zeilen findet, die Kindern in den Mund gelegt sind – und was für Kindern!?

Aber auch der größte intuitive Psychologe, Shakespeare, dem fast keine Zuckung des menschlichen Herzens fremd war, der Mann und Weib, hoch und niedrig, Jud und Christ gleich gut begriff, auch er ist fast gänzlich unzulänglich im Gebiete der Kinderpsychologie, trotzdem in seinen Werken Kinder verschiedenen Alters öfters den Rahmen der Bühne betreten. Mit Ausnahme jener kleinen Kinderszenen im »König Johann« (IV; 1, 3, Hubert und Arthur), im »Titus Andronicus« (IV; 1, 2, V; 3, Titus und sein Enkel), im »Wintermärchen« (I; Laontes und sein Sohn Mamillius II; 1, Mamillius und seine Mutter Hermione), im »Macbeth« (IV; 2, Lady Macduff und ihr Söhnchen) und endlich im »Richard III.« (II; 3, Clarence und Großmutter) hat uns Shakespeare fast völlig im dunkeln darüber gelassen, wie das Kind sich in seiner Seele spiegelte. Und er hat in den kargen Szenen, die zu seinen zahlreichen Stücken, die von einer Unzahl Menschen bevölkert sind, fast in gar keinem Verhältnis stehen, eigentlich auch nur ein und denselben Kindertypus dramatisiert, nämlich den des mutigen Kindes, so als ob auch er die mannigfachen Variationen der Kinderindividualitäten, zu deren Darstellung sich doch reichlich Gelegenheit geboten haben würde, nicht gekannt hätte.

Das bedeutendste Kind wollte Shakespeare wohl in Arthur (Johann IV; 1) darstellen; aber er schoß hier weit über das Ziel hinaus und verlieh dem Kinde Züge seines ausgereiften Genies, die uns zwar den Dichter bewundern lassen, aber das Kind um alle Lebenswahrheit bringen. Man lese jene rührende Szene nach, und man wird zugestehen müssen, daß dieser Knabe Bilder und Symbole gebraucht, die selbst das genialste Kind zu bilden schlechterdings unfähig ist.

Wie wenig Mitgefühl Shakespeare übrigens dem Kinde zutraut, einem Kinde, das bereits Tullius und Ovid gelesen hat, beweist jene Szene im »Titus Andronicus« (V; 3), in der Lucius, nachdem die Massentotstecherei zu Ende ist, seinen Sohn zur Wehklage ob des Großvaters (Titus) Tod auffordert:

»Komm, Knabe, komm; komm her, wir lehren dich
In Schauer schmelzen. Ach, er liebte dich!

— — — — — — — — —

Des eingedenk drum, als ein liebreich Kind,
Geuß ein'ge Tropfen auch aus zartem Born,
Denn freundlich gab Natur uns dies Gebot,
Der Freund soll weinen bei des Freundes Not!«

Bricht dann dies Kind tatsächlich in Tränen aus, so weiß man nicht, geschieht es, um dem Vater oder um dem natürlichen Schmerzgefühl zu gehorchen.

Nicht viel ergebnisreicher ist nach dieser Richtung hin die Ausbeute bei Goethe. Außer dem Karlchen im »Götz«, diesem verweichlichten, gutmütigen und etwas albernen Topfgucker, dem Felix und dem Fischerknaben in »Wilhelm Meister«, dem Nachbarsjungen in den »Geschwistern«, diesem »Lämmchen und Schmeichelkätzchen«, das lediglich auf die Bühne kommt, um stumm eine Patschhand zu geben, der Nanny in den »Wahlverwandtschaften« und jenem Kinde, das in der »Novelle« kraft seiner Unschuld und vermöge seines süßen Liedes den Löwen bezwingt, besitzen wir keine Kinderbilder von Goethes Hand. Jene Kinder, die unter Lottes Obhut stehen (Werthers Leiden), von denen wir eigentlich nur wissen, daß sie gerne Butterbrot aßen, – und noch einige andere (»Die wunderlichen Nachbarskinder«, Euphorion im »Faust II«), die verblasst und durch flüchtige Schilderungen Dritter schemenhaft an unserem Auge vorübergleiten, können füglich hier nicht mitgerechnet werden.

Auch in Schillers Dramen (Wallenstein I, 1; – Tell III, 1, 3; V, 2; – Jungfrau V; 3) ist das Kind weder ein treibendes Agens, noch eine wichtige Figur der Handlung, sondern – wie überall – ein Effektmittel, das nach Kolportageart ausgenützt wird. Man denke nur an jene große und schöne Szene, in der Tell zwar gut getroffen, Schiller aber psychologisch gewaltig fehlgeschossen hat.

Calderón, Byron, Racine, Molière, Voltaire, Lessing, Kleist und Hebbel fallen fast gänzlich fort, nicht zu reden von all den anderen, die das Kind vollkommen beiseiteschoben oder sich doch nur in theoretischen Werken mit ihm beschäftigten (Rousseau, Jean Paul).

In den Dramen der Sturm- und Drangzeit gibt es zwar zahlreiche Kinder rollen, aber man begegnet keinen Kinder seelen. In ihr eigentliches Mysterium ist kein Dichter jener Literaturepoche eingedrungen. Daß für Iffland und Kotzebue das Kind gewissermaßen nur eine Art lebendiger Zwiebel darstellt, die die Tränendrüsen der Zuschauer zu reizen hat, ist zu bekannt, um es erst ausführlich beweisen zu müssen.

Wenn man endlich von den Romantikern das Märchen »Hyazinth und Rosenblütchen« von Novalis und die Erzählung »Die Heimatlosen« von Justinus Kerner gelesen hat, weiß man schon hinlänglich, wie konventionell, wie falsch, wie puppenhaft auch diese Dichtergruppe das Kind gezeichnet hat.

Die dramatische und erzählende Literatur ist arm an Kinderstudien. Alle diese Kinder sind leblos und haben nicht das mindeste zu sagen. So reich in Wirklichkeit die Kinder an originellen Einfällen, an Tiefe, an Eigenart usw. usw. sind – wie das Leben jeden Beobachter lehrt –, auf der Bühne sind sie stets blutlose Schemen, die da hundertjährige Phrasen und dort allzu große Worte im Munde führen, die sich einmal wie automatische Hampelmännchen und das andere Mal wie Männer im Harnisch bewegen. Hier krümmt sich nicht bei Zeiten, was später ein Haken werden will.

Der Einwurf – er wurde schon bei den Griechen geltend gemacht! – daß der Grund dieser Vernachlässigung des Kindes nur in der berechtigten Besorgnis der Dichter zu suchen sei, die an das Kind keine Aufgabe zu stellen wagten, der es auf der Bühne nicht gewachsen war, ist nicht stichhaltig. Denn einmal: konnte man das Kind auf der Bühne mit keiner der Realität entsprechenden Aufgabe betrauen, so mußte man es auch vollkommen aus dem Spiele lassen und nicht zu einem billigen Effektmittel ausnützen, oder – wenn es für das Drama von treibender Wichtigkeit war – ihm die Aufgabe auch im vollen Umfange aufbürden, unbekümmert darum, ob das Werk als solches dann darstellbar gewesen wäre oder nicht. Und ferner ist der Einwurf unbegründet, weil auch die klassisch- epischen Werke es verschmähen, sich mit Kindern zu beschäftigen. Da, wo es geschieht, begegnen uns dieselben verstümmelten Wesen wie im Drama. Es sind eigentlich – einige Ausnahmen wie Richardson, Scott, Dickens usw. zugestanden – nur die Autobiographien, die uns Beiträge zur Psychologie des Kindes geliefert haben. Wenn wir Benjamin Franklins »Selbstbiographie«, den »Anton Reiser« von K. Ph. Moritz, Ernst Moritz Arndts »Erinnerungen aus dem äußeren Leben«, Jung-Stillings »Lebensgeschichte«, Goethes »Dichtung und Wahrheit«, Rousseaus »Emile«, Heines »Memoiren«, – um auch einen Modernen zu nennen: Strindbergs »Beichte eines Toren« und ähnliche Werke nicht besäßen, wären wir wirklich um ein ungeheures, sehr aufschlußreiches Material über die Kindesseele ärmer; denn hier sehen wir überall das Muß des Schicksals walten, das das Kind mit seinen angeerbten Vorzügen und Lastern durch all die Verhängnisse führte, die allmählich den Mann aus dem Kinde schmiedeten, der uns etwas bedeutet.

Es ist z. B. ganz ausgeschlossen, daß jemand Strindberg verstehen könnte, der die grausame Geschichte seiner Kindheit nicht kennt. Und auch zu Heinrich Heines problematischer Natur findet man den Schlüssel in der Geschichte seiner Kindheit. »Aus den frühesten Anfängen erklären sich die spätesten Erscheinungen« sagt er einmal; einen ähnlichen Satz findet man bei Voltaire und Goethe, bei Schlegel und Arndt und wahrscheinlich bei allen den Autoren, die ernsthaft über sich selbst nachgedacht haben. Hier – und in den meisten anderen Fällen – müssen wir also, um den Mann zu verstehen, uns Aufschluß beim Kinde holen.

Und da taucht die Frage auf, warum die klassischen Dichter, die sich doch so gern mit ihren jüngling- und mannhaften Helden identifizieren, dem Kinde in sich stets auswichen, da sie es doch so gut begriffen? Und die Antwort darauf könnte vielleicht nur gefunden werden, wenn man die wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen der damaligen Zeit prüft; einer Zeit, in der man geistig hochentwickelte Kinder einfach als »Wunderkinder« abstempelte und sich damit genug sein ließ, ohne um eine psychologische oder naturwissenschaftliche Erforschung der Ursache dieser Frühreife bekümmert zu sein; einer Zeit, in der das Kind in den Lenzjahren nicht rauh ins Leben hinausgeworfen ward, um sich – wie in dem Jahrhundert des Industrialismus – in dunstigen Fabriken abzurackern und um auf eigenen Füßen zu stehen. An dem Kinde jener Zeiten war man damals weder wirtschaftlich interessiert, noch hatte man den Umfang der Kenntnisse, um es wissenschaftlich auszubeuten – und so gab es auch für die Dichtung keine würdigen Kinderkonflikte. Neben den Autobiographien waren es von alters her nur noch die Witzblätter, die altkluge, fiktive Aussprüche fürwitziger Kinder mitzuteilen wußten.

Ungleich mehr haben allezeit die Maler und Bildhauer das Kind für ihre Gemälde und Plastiken ausgebeutet. Und wenn man alle diese Bilder, Statuen und Statuetten eingehend betrachtet, entdeckt man merkwürdigerweise, daß es selten die Farben oder die Konturen allein waren, die den Künstler reizten, das Kind zu malen oder zu meißeln; oft war es vielmehr die Stirn, die sich auffallend hoch oder krank unter einer allzu reichen Haarfülle wölbte; der Ausdruck der Augen, die merkwürdige Dinge erzählten; die Edellinien der Nase, die durch ihre Vibration auf feinbesaitete Nerven aufmerksam machte; der Zug des Mundes, der eine frühe Herbheit oder einen herrischen Stolz verriet; die Hand, die zum Kosen oder zur Arbeit geschaffen schien usw. usw. Warum, was den Malern und Bildhauern bedeutend wurde, warum blieb das für die Dichter tot? Wo die Künstler die Gewalt ihrer Pinsel und Meißel erprobten und den Dank der Mit- und Nachwelt ernteten, war keiner, der die Kraft seiner Feder erproben mochte an diesen unentwickelten, aber poetisch reizvollen Seelen.

Geringe Ausnahmen der sogenannten »Jugendliteratur«, die keinerlei literarischen Wert besitzt (Horn, Hoffmann; Schmidt, Puttlitz usw.), abgerechnet, schrieb man nie über die Kinder, sondern meist für die Kinder, und da zeigte sich denn, wie man die Kinder verstand oder, besser gesagt, mißverstand. Defoe, Swift, Grimm, Musäus, Andersen, Hauff u. a. waren die vorzüglichsten Anfeuerer der Kinderphantasie. Aber als man älter ward und das alles noch einmal las, erkannte man, daß man das Beste, was an den Märchen oder Satiren war, aus Unverständnis liegengelassen hatte, und jetzt erst begriff man den Dichter vollkommen und verstand die seltsamen Symbole zu deuten und zu werten. Also selbst das, was dem Geist der Kinder angepaßt war, genügte nicht, bzw. der Dichter verfehlte seinen Zweck, indem seine süße Speise weder ganz geschätzt noch halb verdaut werden konnte. Es war da so vieles zwischen den Zeilen zu lesen, was der Erzählung erst ihren wahren Reiz gab; aber auf diese Kunst verstand sich das Kind nicht, und es ward, genau entgegengesetzt der dichterischen Absicht, um das Beste betrogen. Die Dichter täuschten den Kindern eine Wunderwelt vor; sie entdeckten das Schlaraffenland, damit ausschließlich die Kinder sich darin tummeln sollten, aber die Dichter täuschten sich selbst, und wenn in ihrem Prachtlande auch gebratene Tauben durch die Luft flogen und an den Bäumen Lebkuchenherzen hingen, die guten und süßen Dinge flogen und wuchsen alle zu hoch, und das Kind konnte sie nicht erlangen. Wenn, um aus unzähligen Beispielen ein beliebiges herauszugreifen, Andersen erzählte, daß auf dem Schranke eine Sparbüchse aus Ton in Form eines Schweines, also ein »Geldschwein« stand, das dermaßen vollgestopft war, daß es nicht mehr klappern konnte – »und das ist das Höchste, wozu ein Geldschwein es zu bringen vermag« – und wenn Andersen von diesem Geldschwein sagt: »es wußte gar wohl, daß es mit dem, was es im Magen hatte, den ganzen Kram hätte kaufen können, und das nennt man ein gutes Bewußtsein haben«, und wenn er dieses Geldschwein auf den hohen Schrank postiert, von wo es erhaben auf all das Gesindel herabblickt, so war das eigentlich kein Märchen mehr für Kinder, sondern eine kräftige Satire auf den Kapitalisten, an der sich nur der erwachsene Proletarier erfreuen konnte. Der Dichter verstand das Publikum nicht, auf das er zu wirken beabsichtigt hatte. So stand es um die Kinderpsychologie von ehedem.

Aber im modernen Leben wurde das Kind, wo es unter dem »gesegneten« Schulzwang aufwuchs, wo sein flügger Geist sich verballhornten Systemen unterordnen mußte, wo es durch Überbürdung und Überfülle des Materials zu einem zerstreuten, nervösen und kranken Menschen gemacht wurde, von den Pädagogen und Pathologen ernster aufs Korn genommen und eingehender studiert. Und als man gar von Kinderselbstmorden zu lesen und zu hören anfing, die sich erschreckend steigerten, da offenbarte es sich den Dichtern auf einmal, daß auch das Kind eine Seele hatte, die vielleicht einer tieferen Forschung würdig war; daß auch das Kind ein Individuum war, das seine Kämpfe unverstanden mit sich herumtrug, das ebenfalls am Leben litt und krankte.

Dostojewski hatte das am tiefsten und schmerzlichsten erkannt. Sein »Nettchen Neswanow« ist eine der erschütterndsten Erzählungen der Weltliteratur, und alle die anderen armen Kinder, denen er seinen Odem einhauchte, sind lebendige Wesen von so nachdenklicher, tiefer, sanfter und duldender, resignierter und aufopferungsfähiger Art, daß man oft glaubt, erwachsene, verständige und verzeihende Menschen vor sich zu haben, und es ist die Unschuld ihres Herzens, die Reinheit ihres Gemüts und die Art und Weise ihrer Rede, die uns immer wieder in Erinnerung ruft, daß es Kinder sind, die ihr Herz vor uns ausschütten. Das sind nicht jene puppenartigen Kinder Goethes, die in Geographie ungenügend sind, die mit ihrem Gesang Löwen bändigen; auch nicht jene Bramarbasierer Shakespeares, die gern, das Schwert um die Lenden gegürtet, hinausziehen möchten, um mit unzulänglichen Kräften die Feinde totzuschlagen; aber es sind Menschen, die unseres lebendigsten Interesses und unseres tiefsten Mitgefühls sicher sind, denen oft Sonnenlicht und Brot fehlen, die aber, wie wir, ein Gehirn haben, das nach vielen Richtungen tätig ist, Kinder, die über alle Dinge nachgrübeln, die sich ihren Sinnen offenbart haben.

In seiner genialbrutalen Art hat Zola wieder neue Kindertypen, die grobklotzigen, verbrecherisch angelegten, erotisch früh verkommenen, in satten Farben geschildert; Ibsen und Björnson haben den Kreis der Kinderindividualitäten noch mehr erweitert, und nach Wildenbruchs innigen Kindererzählungen (Kindertränen; Das edle Blut; Neid), die zu seinen bedeutendsten dichterischen Leistungen zählen, hat auch Hauptmann es versucht, das Seelenleben des Kindes bis in seine Träume hinein vor unseren Augen zu enthüllen. Wie schön läßt er es den alten Michael Kramer aussprechen, daß es das Größte sei, in seinem Kinde fortzuleben und die verborgenen Keime zur Entfaltung zu bringen. Neben diesen sind noch die Kindergestalten Otto Ludwigs, Auerbachs (Baruch Spinoza), Raabes, Spielhagens, Ebner-Eschenbachs (Gemeindekind; Vorzugsschüler), Sudermanns (Frau Sorge), Mauthners (Vom armen Franeschke), Frank Wedekinds (Frühlings Erwachen), Fritz Martis (Vorspiel des Lebens), E. Meyer-Försters (Drama eines Kindes), Sczepanskis (Spartanerjünglinge), Georg Hirschfelds, Theodor Hertzls, Rudolf Rittners u. a. m. von Bedeutung. Wie in Deutschland Hauptmann und Wildenbruch, in Frankreich Zola, der in Daudet einen bedeutenderen Vorgänger hat, und wie in Norwegen Ibsen ihre Nachfolger und Nachtreter gefunden haben, so hat sich auch an Dostojewski eine Schar Berufener (Tschechow, Ssologub (Schatten) u. a.) und Unberufener angeschlossen, die auf seinen vorgezeichneten Wegen mit mehr oder minder großer Kunst weiterstapfen. Sie alle empfinden aber das Heilige eines Kindeslebens, in dem alle zukunftsfrohen Menschen etwas über sich selbst Hinausweisendes erblicken. Man fühlt es stärker denn je, daß das Kind der Mensch von morgen ist, der alle unsere Blütenträume zum Reifen bringen soll.

 


 << zurück