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Die Meister der Kritik

In der Vorrede seiner Essays, die 1580 erschienen waren, sagt Montaigne: »Ich habe dieses Buch meinen Verwandten und Freunden gewidmet, damit sie nach meinem Tode einige Züge meines Wesens und Fühlens darin wiedererkennen und mich dergestalt stets in meiner ganzen Eigenart lebendig in Erinnerung haben.« Montaigne gab also gewissermaßen Stichproben seiner Denkart, seines Wissens und Wesens.

Er war der Meinung, je richtiger und unverblendeter man sich selbst beobachte, um so besser erkenne man die anderen und gewinne den Standpunkt einer ruhigen menschenkundigen Betrachtung der Dinge. »C' est moi, que je peins!« ist der Leitsatz seiner Essays.

In eigengeprägten Gedankengängen behandelte er allgemein interessierende und allgemein verständliche Fragen, die er von allen Seiten rasch und dennoch scharf beleuchtete, ohne sich lange bei der einzelnen aufzuhalten. Eine Frage weckte zehn neue in ihm, die er alle aufnahm, um ohne Zwang und Künstelei im Vorbeigehen zu sagen, was er davon wußte. Seine Aufsätze sind einem Baume vergleichbar, der erst ein Stück weit einsam in die Höhe wächst, ohne jedes Geäste und Blattwerk, dann aber plötzlich mit aller Macht und nach allen Seiten hin sich zu verzweigen beginnt. Kaum ist ein Ast im Entstehen, schon keimt ein neuer Zweig daran, um wieder neue Knospen zu treiben und neue Fruchtbarkeit zu verheißen. Montaigne behandelte seine Themata fragmentarisch. Der Leser konnte daran noch weiter arbeiten und die Gedankentorsi nach Lust und Neigung ausbauen. Vieles stand zwischen den Zeilen, das meiste war nur andeutungsweise ausgesprochen; vollkommen ausgesponnen wurde der Faden aber nie.

Durch Montaigne jedoch ist der Essay noch nicht – wie man annimmt – zu seinem großen Ruhme gelangt; erst Bacon begründete seinen literarischen Wert. Salzkörner nennt er einmal seine Essays, die nur den Appetit anreizen sollen. Größere Abhandlungen zu schreiben, habe weder der Autor immer Zeit, meinte er in seiner Widmung an den Prinzen von Wales (1612), noch gönne das Publikum sich die Muße, sie zu lesen. Sein anstrengender Dienst habe ihm nur Zeit gelassen, eine Reihe kurzer Bemerkungen aufzuzeichnen, die er »Essaies« nenne, ein neues Wort für eine alte Sache; denn Senecas Briefe an Lucilius seien auch nichts als »Essaies«.

Bacon scheint seinen Zeitgenossen Montaigne nicht zu kennen, denn nirgends zitiert er ihn. Bacons Essays sind auch nicht, wie die Montaignes, Abhandlungen zur Kennzeichnung seiner eigenen Persönlichkeit, sondern gleichsam knappe Grundrisse zu ungeschriebenen, umfangreichen Büchern, die den Zweck haben, uns zu belehren. Das persönliche Moment tritt dabei ganz in den Hintergrund oder spielt doch nur eine untergeordnete Rolle.

Addisons (um 1710) im »Spectator« veröffentlichte kleine, geistreiche Abhandlungen waren für die höheren Gesellschaftskreise geschrieben, die auf stilistischen Schliff und auf schriftstellerische Kultur mehr Wert legten, als auf eine kraftvoll männliche Begeisterung. Darum spiegelt jede Zeile Addisons seine Unterwürfigkeit unter die Gesetze der französischen Ästhetik. Trotzdem liest man heute, nach mehr als 200 Jahren, diese gefühl- und geschmackvollen Aufsätze noch wie ein zusammenhängendes fesselndes Buch und erfreut sich an der Wärme und Wahrheit des Tones, an der Kenntnis des menschlichen Herzens, der Tiefe des Humors und an der Unerschöpflichkeit der Einfälle und der Erfindung, die fast an das Wunderbare grenzt.

Locke und Hume haben wieder eine andere Form für ihre Essays gewählt. Nie wurden philosophische, ästhetische und religiöse Fragen mit größerer Klarheit, größerem Verstande und einer ruhigeren Sicherheit der Darstellung geschrieben; nie brachten die Schilderungen der Charaktere, Gedanken und Gefühle historischer Persönlichkeiten einen stärkeren Eindruck dramatischer Wirklichkeit hervor. Aber trotzdem sind diese Aufsätze allzusehr mit systematischen Kenntnissen belastet, um die Lektüre zu einem Vergnügen zu gestalten, und sie überschreiten auch dem Umfange nach die enge Grenze des Essay.

Erst im achtzehnten Jahrhundert, in der Blütezeit der machtvollen Zeitschriften, wird der Essay fast die allgemeine und beliebteste literarische Ausdrucksform. Voltaires »Englische Briefe« sind die glänzendste Schöpfung dieser Art: französischer Skeptizismus im Briefgewande Senecas. Diese Briefe sind geistreich, voll doppelzüngiger, zweischneidiger, stacheliger Worte, brillierend und durch ihre Logik verblüffend. Über allem aber, als ein unsterbliches Werk erster Größe, steht »Rameaus Neffe« von Diderot, ein essayistisches Meisterwerk, »das man immer mehr bewundert, je mehr man damit bekannt ist« (Goethe).

Daß der Essay seitdem weit mehr als früher gepflegt wird, liegt nicht zuletzt an dem Grunde, den schon Bacon betont hat. Was auf wenigen Seiten zusammengedrängt werden kann, wirkt schon durch die Zusammenziehung des Stoffes und des Ideengehaltes bedeutender und eindringlicher.

Im folgenden will ich versuchen, mit ein paar Strichen die charakteristischen Züge einiger Schriftsteller zu geben, die ich für die typischen modernen Repräsentanten des Essay halte; eine ebenso interessante wie dankbare Aufgabe, die ich durchaus subjektiv und keineswegs erschöpfend behandle. Ich habe Ralph Waldo Emerson gewählt, Walter Pater, Leo Berg, Georg Brandes, Ellen Key und Maurice Maeterlinck. Wenn ich betone, daß meine Wahl kein Werturteil bildet, werden sich auch diejenigen beruhigen, die beispielsweise den Mystiker Rudolf Kassner in dieser Reihe vermissen, einen der tiefsten Geister unserer Zeit, oder den von Geist und apartem Wissen strotzenden französierenden Franz Blei oder den allen überlegenen Lucianschüler Anatole France oder den Maximilian Harden der Frühzeit, dessen jüdische Assimilierbarkeit und Intuition ebenso zu bewundern sind wie seine unerschöpflichen Lesefrüchte, und vielleicht noch einige andere Essayisten von besonderer Prägung, wie Karl Kraus und Alfred Kerr. Es kam mir nicht auf Vollständigkeit an, sondern auf die jeweils verschiedene Artung des Geistes. Wenn ich vom geistigen Wesen Maeterlincks spreche, denke ich an Mystiker überhaupt, also an Kassner, Lafcadio Hearn, V. E. Gebsattel, Hans Dankberg und verwandte Geister. Für Leo Berg konnte ich ebenso gut Samuel Lublinski setzen, Kurt Walther Goldschmidt oder irgendeinen anderen talmudisch-rabulistischen, verkannten und unbekannten bedeutenden Kopf.

Es sind also nicht so sehr Unterschiede des Arbeitsgebiets, als Unterschiede der schaffenden Individualitäten, die ich erwäge. Wenn Berg, Key und Maeterlinck über die Liebe schreiben, so fesselt mich nicht so sehr der Gegenstand, wie die Art seiner Behandlung, der Unterschied der Begabung und des Temperaments, der Fragestellung und Entwicklung eines Themas. Ein erwähnenswerter Zufall ist es, daß fast ein jeder dieser Essayisten über den anderen geschrieben hat; Brandes über Ellen Key, Key über Brandes, Maeterlinck und Berg über Emerson, Berg und Key über Maeterlinck – und vielleicht ist dies mehr als Zufall.

Der Helmholtzsche Satz, daß in jedem Forscher auch ein Dichter stecken müsse, läßt sich dahin umkehren, daß auch in jedem Dichter ein Forscher steckt. Herder, Wieland, Goethe, Schiller, Bürger, Lichtenberg, Heine, Grabbe – um nur einige zu nennen – haben oft die Form des Essay gewählt, um ihre Gedanken ohne die Maske erdichteter Gestalten ans Licht zu geben. In unserer Zeit ist es nur eine kleine Gemeinde echter Könner und Kenner, die den Essay überhaupt noch vertritt. Die Dichter sind, mit geringen Ausnahmen, nicht darunter, wohl aber sind diese Forscher Dichter.

Und der universellste vielleicht ist Emerson.

Er begann, wie sein Vater, als Prediger, um sich im späteren Leben in die Einsamkeit zurückzuziehen. Seine Essays sind, stilistisch gesehen, eigentlich nur Predigten großen Stils, und ihr Thema ist stets die Souveränität des Individuums. Unabhängigkeit ist sein stolzestes Schlagwort, Wahrheit sein liebstes. Er entfaltet vor den Augen des Idealisten die Erfolge der praktischen Arbeit und zeigt den Realisten die Hoheit idealer Gedankenarbeit. Er ist kein Wegbahner, aber ein Wegweiser. Carlyle war es, der von Emerson sagte, »er sei wie eine himmlische Vision zu ihm herabgestiegen,« und der Physiker Tyndall wollte gar alles, was er geleistet hatte, Emerson gedankt wissen, der seinem Geiste Anstoß und Richtung gegeben habe. Maeterlinck aber nennt ihn den guten und morgendlichen Hirten, den Weisen des Alltags, der dem gleichmäßig dahinrinnenden Leben die verlorenen Horizonte wiedergegeben, der uns mit Einfalt die geheime Größe unseres Daseins offenbarte. Als Emerson starb, war man sich allgemein darüber einig, daß die heutige Epoche geistigen Daseins in Amerika von ihm geformt worden sei. Hermann Grimm, der begeisterte Apostel und Geistesverwandte Emersons, spricht von ihm wie von einem neuentdeckten Erdteil. »Ich kann nicht anders,« sagt er, »als mit inniger Verehrung seinen Schritten folgen und ihn anstaunen, wie er das Chaos des heutigen Lebens sanft und ohne Leidenschaft in seine verschiedenen Provinzen abteilt.«

Emersons Essays, die alles im Bereiche menschlicher Erfahrung Liegende umfassen, sind überschrieben: Selbstvertrauen, Schicksal, Macht, Natur, Gottesdienst, Schönheit, der Dichter usw.; aber sie behandeln streng genommen eigentlich nie das, was sie versprechen. Man könnte die Gedanken, die in seinen Schriften niedergelegt sind, sehr wohl in eine andere Reihenfolge bringen und durcheinanderwirren – und das Ganze würde dennoch keine Einbuße erleiden. Weil seine Gedanken eines Systems nicht bedürfen, weil sie aphoristisch wirken. Sie stehen da und tragen ihre Logik in sich; wo sie stehen, ist gleichgültig. Emerson häuft wie Smiles oder Stanton Beispiel auf Beispiel, Sentenz auf Sentenz und Zitat auf Zitat (es gibt in seinen Werken, wie Oliver Wendell Holmes ausgerechnet hat, 3393 Zitate). Das hat etwas Akzentloses, Eintöniges; aber es erklärt sich aus der Einheitlichkeit des ganzen Mannes, der – sooft er auch aus dem reichen Schatze seiner Lebenserfahrung, aus dem großen Vorrate seiner Gleichnisse und dem tiefen Brunnen seines Wissens schöpft – immer etwas Kluges und Edles zu sagen hat, für das er nicht erst nach stilistischen Effekten sucht. Es ist so wenig Plan und Ordnung in seinen Sätzen wie in einer Linde, deren Äste sich zwar unsymmetrisch da und dorthin verzweigen, im ganzen gesehen aber doch eine prächtige Baumkrone bilden. »Wenn ich meine Gedanken aufschreibe, strebe ich nicht nach Ordnung, Harmonie oder nach Ergebnissen. Ich sorge mich nicht darum, wie sie zu anderen Gedanken und anderen Stimmungen sich schicken; ich hoffe, sie werden es tun. Deshalb sind sie auch nicht näher untereinander verwandt, als jede Minute eines Jahres mit einer anderen weit entfernten. Gedanken und Minuten haben ihr eigenes Verhältnis der Anziehung, das sich gewiß im Laufe der Zeit aufklären wird.«

Emerson sagt alles leidenschaftslos und ohne Steigerung, so, als ob in seiner Seele immer ruhiger Festtag wäre. Und diese schlichte Größe wirkt wohltätig. Er hasst nicht, er widerspricht nicht und bekämpft nicht. Es erquickt das Herz, sich bis auf den Grund in die Beschauung seines sonnigen Gemüts zu vertiefen. In ihm wohnt keinerlei Eitelkeit. Sein moralischer und durch Kunst verfeinerter Wesenskern wirkt auch auf den Unvorbereiteten, Unwissenschaftlichen und Unwissenden mit der hinreißenden Kraft einseitiger Überzeugung. Es spricht ein Dichter aus ihm, und er ist auch, wie es der Dichter sein soll, niemals und immer religiös, durch und durch Pantheist. Und er söhnt aus mit dem Leben. Was erst Bedrängnis war, wird Erlösung; Schmerz wird Freude und Leid wird Lust. »Verbessert, o ihr gütigen Götter« – bitten wir täglich – »diesen Mangel in meiner Sprechweise, in meinen Umgangsformen, in meinem Vermögen, der mich ein wenig aus dem großen Ringe ausschließt! Verbessert ihn und laßt mich den anderen gleich werden, die ich bewundere, und auf gutem Fuß mit ihnen stehen!« Aber die weisen Götter sprechen: »Nein, wir haben Besseres für dich. Durch Demütigungen, durch Niederlagen, durch den Mangel an Liebe und Sympathie, durch Abgründe von Ungleichheit sollst du eine umfassendere Wahrheit und Menschlichkeit als die eines eleganten Herrn erkennen. Ein Hausbesitzer aus der fünften Avenue, ein Villenbesitzer in Westend ist noch nicht der höchste Menschentypus.«

Solcher Art ist die Philosophie Emersons, so sein Stil. Volltönend, tief klingend und starkstimmend; hier und da salbungsvoll und priesterlich, aber immer dichterisch; sicher im Bild und groß in der Auffassung der Dinge. Und während man ihn liest, hat man das Gefühl, als spräche der beste Freund zu einem; als habe man niemals so weise junge Worte gehört, so voll milden Ernstes und adelnder Liebe.

Von anderer Art ist der Engländer Walter Pater; auch er befolgt das Goethesche Prinzip, daß es wertvoller für uns sei, die Vorzüge eines Werkes und seines Urhebers zu kennen, als die Fehler. Er tadelt nicht, wie andere Kritiker, auch im Monde die Flecken; mit seinen feinen Gläsern sieht er, daß das, was jene für Flecken ansehen, erhabene Berge sind, versteinerte Wälder, zu Silber geronnene Ströme, schrecknisbergende Klüfte. Und dennoch schwebt über seinen Worten eine feine, kaum verspürbare Skepsis, die Skepsis einer ganz raffinierten Kultur und eines außergewöhnlichen Geschmacks. Man wird bei Pater vergebens nach lautem Tadel suchen; aber wer zwischen den Zeilen zu lesen vermag, merkt bald, daß er auch stillschweigend zu verdammen weiß. Emerson spricht zum Volke; er braucht für seine großen Worte und für sein breites ethisches Pathos eine weite Resonanz, und darum bewegt sich seine Rede immer hart am Rande der Flachheit fort; Pater dagegen spricht zu einem kleinen erlesenen Kreis und manchmal nur zu sich selber und zu seinem eigenen Vergnügen. Essays wie »Die äginetischen Marmorgruppen«, »Die Bacchanalien des Euripides«, »Der verborgene Hippolytos«, »Das Zeitalter der Idole« verlangen zu ihrer Würdigung jene Wenigen im Publikum, die ihr künstlerisches Vergnügen ausgewählt und kritisch genießen, die ein Buch vielleicht mehr um seiner prachtvollen Form, als um des Inhaltes willen lieben; die eine künstlerische Freude besitzen am Wort, das zum Geschmeide geworden ist. Man kann bei Paters Büchern tatsächlich von einer Art Goldschmiedearbeit sprechen, so viel ist oft an den einzelnen Sätzen gefeilt. Die Sprache in seinen Essays über Kunstwerke der Renaissance, über Botticelli, Michel-Angelo, Leonardo da Vinci, du Bellay, Coleridge, Winckelmann und anderen Porträts, zittert noch von den Eindrücken, die er durch die Künstler empfangen hat, und auch die Wahl gerade dieser seltenen Geister ist bezeichnend für seine ausgesuchte Feinheit, seine leise Erotik und Subtilität. Er liebt es, in seinen Analysen sich meist mit solchen Repräsentanten des künstlerischen Charakters zu beschäftigen, deren Anziehendstes eine gewisse Vornehmheit ist, das, was wir in gutem Sinne »selten« nennen.

Es ist schon oft gesagt worden, daß er das schönste und sorgfältigste Englisch schrieb, das je vor ein Publikum kam. Auch darin kommt seine Vornehmheit und sein Ästhetentum zum Ausdruck. Er liebt über alles die ästhetische Ruhe; es ist etwas Gegenwart-Feindliches in ihm, und er steht gewissermaßen außerhalb seiner bewegten Zeit. Er läßt es sich Mühe kosten, seinem Leser ein künstlerisches Vergnügen zu bereiten. Große Gelehrsamkeit in bezaubernder Form mit einem exotischen Hauch darüber, oft faszinierend im Wort wie in der Analyse, – dies sind die charakteristischen Erkennungszeichen seiner Essays. Da ist nicht ein Wort, das nicht auf seine Wirkung und Klangfarbe studiert wäre; alles vielmehr bewußte, feinste Ziselierarbeit. Er bricht den rauhen Fels aus der Brust der Erde und haut die wundervollsten Tempelkapitäle daraus. Er versteht es, den spröden Stoff geschmeidig zu machen und seinen Sätzen eine Melodie zu geben, die sich liedmäßig in unser Herz einschmeichelt und unseren Verstand bezwingt. Eine unerbittliche Logik hält diese Sätze zusammen. Er ist mit einer Unmenge Wissen beladen, und man wird ihn doch nie dozieren hören. Seine Studien sind vielmehr Poesie gewordene Philosophie, und dies ist umso bewunderungswürdiger, wenn man bedenkt, daß es stets die Philosophie war, die Pater vor der Literatur und Kunst anzog; daß er in ihr gewissermaßen herrschte. Es tut der Wahrheit und Feinheit der »Imaginären Porträts« keinen Abbruch, daß sie bloße psychologische Konstruktionen, daß sie Dichtungen sind voll schemenhafter Charaktere, von Bildern durchwebt, über denen eine unendliche Weichheit und Sanftmut liegt, ein Duft von Frühlingserde, eine Spur von der Grazie und Vornehmheit Watteaus und von Diderotschem Geist. Seine Gestalten haben etwas Traumhaftes; man sieht sie, hört sie, aber nur mit den lauschenden Sinnen der Einbildungskraft; sie haben Farbe und Leben, aber nur das leise Leben des Traumes. Rufe sie an und sie fliehen dich; verschwinden, wie unter einer Tarnkappe. Es sind die Gedanken, denen Pater ein menschenähnliches Gewand gegeben hat, in denen sie einhergehen. Entkleide diese Ideen der leichten Hülle, und es bleibt eine psychologische Studie übrig, eine literarische Phantasie, die Analyse eines Bewußtseinszustandes, einer geistigen Entwicklung, eines Mythus. Pater nannte die »Imaginären Porträts« sein natürlichstes Buch; das reifste, farbenprächtigste und am meisten geschliffene ist es sicherlich.

Er ist ein ausnehmend großer Künstler des Wortes. »Denn Worte, Worte mit all seiner feinsten Kunst gehandhabt, Worte sollten schließlich sein Rüstzeug des Krieges bilden … Mochten andere die heimische Sprache, jenes offene Feld für Zauber und Herrschaft über die Menschen, vergewaltigen oder vernachlässigen, er wollte sie ernsthaft studieren und die genaue Gewalt jeder Phrase und jedes Wortes erwägen, als sei es ein kostbares Metall; und indem er die späteren Assoziationen entwirrte und auf den ursprünglichen und naiven Sinn einer jeden zurückging, wollte er all dem Reichtum verborgener figürlicher Rede seine volle Bedeutsamkeit zurückgeben und ihre abgenutzten oder getrübten Bilder ersetzen oder neu beleben.«

Ich entnehme diese Stelle, die genau Walter Paters Art charakterisiert, seinem bezaubernden Werk »Marius, der Epikureer«. Man hat den Eindruck, als sei diese Köstlichkeit Paters für einen kleinen Kreis antiquitäts-begeisterter Künstler geschrieben, so fein, so würdig, so erlesen im Typus ist die Spiegelung der alten römischen Welt. Er entrollt hier ein Kulturgemälde im Geiste Diltheys etwa, der die philosophischen Ideen einer bestimmten Epoche nicht als etwas von allen übrigen Dingen Losgelöstes betrachtet, sondern als einige der sehr zahlreichen Fäden, aus denen ein Zeitbild sich zu einem Ganzen webt. Pater gibt das Porträt eines imaginären Römers – des Knaben, des Jünglings und des Mannes, der der epikureischen Lehre nachzuleben bestrebt ist; nicht jenes Epikur, den die flache Landläufigkeit als einen voluptiösen Völler ausgeschrien hat – das dürfte seinem Schüler Aristipp gelten! –, sondern des historischen Epikur, der als Philosoph und Mensch ein gleich ernster und nüchterner Eklektiker war. Marius lernt am Hofe des philosophischen Königs Marcus Aurelius sehr viele seiner großen Zeitgenossen kennen; wir sehen Galen seine ärztliche Praxis üben; hören den vergötterten Apulejus beim Gastmahl über das goldene Buch plaudern, werden vom überlegenen Lucian mit kluger Ironie unterhalten und wohnen den Sitzungen bei, in denen Marc Aurel selbst seine herrlichen, an Maximen so reichen philosophischen Reden hält. Wir schauen die verheerende Gewalt der Pest, werden in die Arena geladen, um den brutalen Kämpfen zwischen Mensch und Tiger beizuwohnen, und erleben noch den tumultuarischen Einbruch des Christentums in die Welt der römischen Götter.

Aber es ist überflüssig und fast lächerlich, von stofflichen Dingen zu reden, wenn man von einem Buche Walter Paters spricht. Unsere Bewunderung gehört in erster Reihe dem Stilisten.

Von gleichem Raffinement und künstlerischer Rundung ist auch seine Kritik; sie ist mit einer Sorgfalt und Selbststrenge geschrieben, wie nur je ein schöpferisches Werk. Sie erfüllt alle die Forderungen, die Pater an eine Kritik überhaupt stellt. »Die Aufgabe des ästhetischen Kritikers« – sagt er in den Renaissancestudien – »besteht darin, die Eigenschaften zu unterscheiden, zu bestimmen und von ihren Zusätzen zu trennen, wodurch ein Gemälde, eine Landschaft, eine edle Gestalt im Leben oder im Buche solche angenehme Einwirkung hervorruft; anzugeben, wo der Ursprung dieser Einwirkung liegt und unter welchen Bedingungen sie zum Bewußtsein kommen. Sein Zweck ist erreicht, wenn er diese Eigenschaft entdeckt und vorgemerkt hat, wie ein Chemiker ein natürliches Element für sich und andere feststellt.« Und an einer anderen Stelle: »Was wir tun müssen, ist ein unaufhörliches, neugieriges Prüfen von Meinungen und Suchen von neuen Eindrücken, – niemals einschlafen und uns nie beruhigen bei der bequemen Denkweise eines Comte, Hegel oder unserer eigenen. Philosophische Theorien oder Ideen mögen als Gesichtspunkte, als Hilfsmittel kritischer Betrachtung dazu beitragen, das zu beobachten und zu sammeln, was sonst vielleicht unbemerkt an uns vorübergehen würde.« Aber alle Theorien scheinen ihm grau. Philosophie ist für Pater etwas Lebendiges, der Streit der Temperamente, das Drama der Gedanken, der Zusammenprall verschiedener Welten.

Arthur Symons, der Pater persönlich kannte, schildert ihn uns als einen vorsichtig zurückhaltenden und zusammenfassenden Geist, kraftlos und asketisch, sinnlich und geistig. »Er verlangte vom Leben, daß es ihm mit einem gewissen Zeremoniell nahe, und hütete sich vor den Indiskretionen plötzlicher Ereignisse; und wenn sein ganzes Leben ein der Kunst Dienen war, so richtete er sein Leben so ein, daß es so stark wie möglich von dieser wahrhaften Hingabe gefördert würde.«

Die erste Hälfte dieses Satzes darf man auch auf Leo Berg anwenden; aber man muß den Satz anders beenden. Denn wenn Bergs ganzes Leben auch ein der Kunst Dienen war, so besaß er nie die Mittel, es sich so einzurichten, daß zwischen Kunst und Wirklichkeit eine wenn auch nur geringe Harmonie geherrscht hätte.

Wenn man in Armut und Häßlichkeit lebt, ist es so natürlich, sich nach Schönheit zu sehnen; aber es ist die vollständige Tragikomödie, wenn man einen Menschen, dem die Götter kaum das tägliche Brot gegeben – und zwar Brot im gemeinsten Sinne! – sein Leben lang über den Gesetzen der Schönheit grübeln sieht.

An Leo Berg, diesem so eindrucksfähigen, für die leisesten Eindrücke so empfänglichen Schriftsteller, kann man wie an einem empfindlichen astronomischen Instrument studieren, unter welchen Nöten – seelischen und äußeren – ein moderner Künstler zu leiden hat und was uns alle im tiefsten Innern erzittern macht. Er hat die künstlerischen, erotischen, ethischen und sozialen Probleme, die unsere Zeit aufwühlen, an sich erlebt; an sich, weil er ein latenter Dichter ist. Und darum ist alles, was er sagt, lebendig im Ausdruck, zeitspiegelnd in der Stimmung und aufklärend für den individuellen wie für den gesellschaftlichen Menschen, An gegenwartbewegende Fälle anknüpfend, legt er die Bresthaftigkeit, Kleinlichkeit und Kleinheit seiner Epoche bloß, sich freuend am verborgenen Großen, sich ärgernd am Geringen, das sich aufwirft. Da kocht ein vernichtender Zorn empor über angebetete Götzen, da jauchzt eine maßlose Freude über verkannte und verkappte Schönheit. Und da ist die herbe Ironie, die aufstachelnde Bosheit und der lustige Spott, die nur je ein starkes Temperament in sich getragen. Nie ein Liebäugeln und nie ein Einräumen, Die Wahrheiten des Alltags, die gegen seine Natur gehen, verfolgt er mit grimmem Haß, Man sieht seine Florettklinge blitzen. Man sieht ihn dreinschlagen, und man hört heraus, welche Freude es ihm macht, gegen die Dummheit vom Leder zu ziehen, gegen die Hydra der Talentlosigkeit und gegen das Pfaffentum in Literatur und Kunst, Er haßt die Verlogenheit mit einer unerhörten Kraft, Es wird ihm beinahe physisch übel, wenn er sieht, wie sich die Literaturbonzen breit machen und wie ein kleiner Wanzerich zum König der Dichter ausgerufen wird. Er schlägt furchtlos drein und macht alle Papstgläubigen und alle Kleinmütigen zu seinen Feinden. Er stellt sich gern auf die Seite der Angegriffenen, selbst wenn die Angegriffenen in den Augen der Menge zu Recht gezüchtigt worden sind. Er ist immer dort zu finden, wo es gilt, Unterdrückte zu befreien, Beleidigte zu rehabilitieren, Unbekannte ans Licht zu ziehen, schnödes Unrecht zu strafen. Er ist der geborene Räsonneur; ein schlechtes Buch ruft in ihm einen guten Gedanken wach. Er zerschlägt gern die Götter der Menge oder zeigt doch mindestens ihre Jämmerlichkeit (»Gefesselte Kunst«). Er mußte ausnehmend viel Gutes und Großes wollen, um so sehr das Kleine und Gemeine zu hassen.

Sehr interessant ist es, zu beobachten, wie der Künstler in Berg seine Leidenschaft mäßigt, wie der Dichter sie gestaltet und wie der Kritiker endlich sich selber gegenüber frei zu werden sucht, sich selber bezweifelt und angreift und sich über sein eigenes Schaffen zu erheben bemüht ist. Jeder Autor müßte, wenn er ehrlich genug wäre, seinem Buche einen Epilog nachschicken, in dem er ihm selbst widerspräche, meint Berg in seinem »Naturalismus«, einem ebenso genialen wie reizvollen Buche, einem Werk voll Licht und Lohe.

Bei der Aufzählung der »Menschenrechte« vergißt man stets das Recht, sich zu widersprechen; Berg macht ausgiebigsten Gebrauch davon. Dies Spiel und Widerspiel, dieser Geist, der sich ewig selbst verneint, ist denn auch allen Schriften Bergs aufgeprägt. Sie haben, was Schopenhauer an der Kritik so liebte, die paradoxale Physiognomie. Eine charakteristische Unruhe und ein gewisser Unfriede liegen darüber. Da spricht ein Mensch, dem plötzlich alles im Leben zum Problem geworden ist und der jedes Problem von allen Seiten darstellen will. Und jedes gibt wieder hundert neue Fragen auf. Nicht genug daran, wird das Problem auch noch jedesmal gewissermaßen aus einer anderen individuellen Anschauung heraus behandelt und seine mannigfache Erklärungsmöglichkeit scharf und prägnant formuliert. Eine Deutung weicht dann von der anderen ab, und die Nuancen nehmen immer neue Farbe an. Es scheint, als hätten sich zehn und mehr gescheite Köpfe hingesetzt, um über ein und dieselbe Sache ihre verschiedenen Ansichten wiederzugeben. Er sagt nie: »Ich habe diese und jene Meinung und sie sei euch heilig«, sondern: »Man kann diesen Fall von hundert Seiten betrachten; ich habe sie alle studiert.« Er ist nie von seiner eigenen Meinung gefangen; man darf ihn nicht auf sein Urteil von gestern festlegen. Denn er ist immer im Flusse, in beständiger Fortentwicklung, und Treue gegen sein Urteil von ehemals ist ihm gleichbedeutend mit Stagnation. Der Dreißigjährige urteilt über Sudermann anders als der Vierzigjährige; aber das liegt nicht allein an Sudermann.

Diese Art macht denn auch Bergs Stil zu einem besonderen. Trotz der aphoristischen Kürze hat seine Sprache dichterische Größe und dramatisches Tempo; es ist die Sprache des Hammers, die er am liebsten spricht. Er zieht die Gedanken nicht wie ein Gummiband auseinander. Er verdichtet und komprimiert; er sagt lieber zu wenig als zu viel. Er kennt die Ökonomie des Wortes und spricht darum gern in Aphorismen. Der Aphorismus ist sein eigentliches Element, insofern er die ganze widerspruchsvolle Seele des Kritikers widerspiegelt, der allemal ein Faust und Mephisto zugleich ist, der allemal Schöpfer und Zerstörer zugleich ist, der sich seinen Genuß, den er aus dem zusammenfassenden Eindruck des Kunstwerkes empfängt, immer durch analytisches Zerlegen trübt. Paradoxe liebt er, weil der Verstand sich an ihnen übt und schärft. Der Leser, der sich zum erstenmal in eine seiner zahlreichen Arbeiten vertieft, wird sofort gefesselt durch einen ungemein klaren Stil, durch eine lückenlose Logik, durch eine fast systematische Anordnung der Gedanken und durch die verblüffend freie, zuweilen draufgängerische Art, in der hier das Wort auftritt. Dementsprechend ist auch die Aufgabe, die sich Berg als Kritiker gestellt hat. Er duldet nicht, daß bei einem Künstler Stillstand eintrete. Wenn es sein muß, treibt er den Künstler mit schneidendem Hohn vorwärts und mit Peitschenhieben. So wird seine Kritik negativ, kriegerisch, Götzen zertrümmernd. Und doch ein Kunstwerk. Denn auch Zerstören ist Schaffen, wie Schaffen oft Zerstören sein kann. Berg stellt Gesetze auf und befehdet Gesetze; er fördert die Talente, indem er ihnen Fesseln anlegt. Immer fragt er aber nur seine eigene Meinung um Rat. Es ist ein Geist der Unzufriedenheit in ihm, kraft dessen er den Dichter immer vorwärts treibt, ihn nie ruhen läßt, ihn antreibt und stößt, damit er um so rascher von dem Geschaffenen fortkomme und zu neuen Werken schreite. Seine Kritik gleicht dem Sturme, der das Morsche und Schwächliche niederreißt und der die Talente der Starken auf harte und kräftigende Proben stellt. »Durch!« war seine Devise. Und dieses Losungswort stand auch auf der Fahne jenes literarhistorisch berühmt gewordenen Vereins, den er als Jüngling ins Leben gerufen hatte. Alles, was später irgendeinen Namen bekam, ging durch Bergs Wohnung, gehörte zu seinem Verein: Gerhart Hauptmann, Hartleben, Conradi, die Harts, Bölsche, Wille, Kirchbach und viele andere; sie alle danken ihm Anfeuerung und Anregung. Denn er spornte alle, war hinter allen her, und wenn einer seiner Freunde einen Erfolg hatte, nahm er so innigen Anteil daran, als sei es sein eigener Erfolg.

Eine wertvolle Kritik ist für ihn überhaupt nur möglich, wenn sie sich von vornherein in Gegensatz zu ihrer Zeit setzt (eine seiner Essaysammlungen hat den charakteristischen Titel »Aus der Zeit – gegen die Zeit«); wenn sie das Gewissen ihrer Zeit ist und sich als solches zu behaupten weiß. Eine nicht mehr gefürchtete Kritik, eine nicht mehr stechende und quälende Kritik ist gar keine Kritik mehr. Sie sei die Brise, die über stagnierende Wasser fährt, sagte er einmal. Damit sie es aber sein könne, sind für den Kritiker rein äußerlich drei Dinge erforderlich: Die Freiheit der Zeit, um das Werk mit Muße studieren und überwinden zu können; die Freiheit gegen das Werk, um es als individuelles Besitztum zu analysieren und die wirtschaftliche Freiheit.

Sicher war es die ökonomische Gebundenheit, die auch das Ungleichmäßige in Bergs Schriften erklärlich macht. Er selber hat der Frage nach der wirtschaftlichen Basis der Kunst, diesem traurigen Kapitel der Ästhetik, den bedeutenden Essay »Kunst und Kapitalismus« gewidmet. Was er hier sagt, ist mehr als bloße kunst- und sozialtheoretische Erörterung; es ist das traurige Ergebnis seiner Erfahrungen; Selbsterlebnis. Denn im Unterstrom seiner Schriften sieht und hört man sein Leben fließen und pulsen, so sehr sind sie der Ausdruck des ganzen Menschen. Neben monumentalen Aufsätzen wie: »Die Skala der Kunst«, »Etappen des Faustproblems«, »Parerga«, die stolz auf ihr Ziel losgehen, sind da Essays, denen dieses junge Brausen fehlt, das ihnen sonst eigen ist und die nicht mehr die letzten Gründe aufwühlen. Sie sind zwar immer originell und gut geschrieben, aber ohne inneren Zwang, ohne rechtes inneres Verhältnis, nicht so besiegend. Es sind gute Schwertschläge darin, aber die Lust am Kampfe ist nicht so groß wie sonst. Sonst schlägt er alles wacker nieder, was ihm mißfällt, die Fahnenträger der Dummheit und Verlogenheit, der Talentlosigkeit und Impotenz. Zuweilen steht er aber darüber und resigniert; er schlägt zwar zu, aber er weiß, daß Dummheit unverwundbar ist und Talentlosigkeit eine Hydra, die immer wieder ersteht. Der Kapitalismus ist das Untier, das allen Geist tötet, und schließlich »wird das Geld der Grabstein derer, die es nicht haben«.

Berg hat eine reiche literarische Arbeit geleistet. Und er war nicht bloß Literarhistoriker, hatte sich nicht mit Leib und Seele der Literatur allein verschrieben. Der Schrei des ganzen tollen Lebens wurde in seiner Brust aufgefangen, das Schlachtgetümmel des täglichen Kleinkrieges widerhallte in ihm, fand in ihm ein überaus starkes Echo. Er war gleichermaßen Politiker und Philosoph, Ästhetiker und Psychologe, Kunstforscher und Dichter. Es gab keine Erscheinung des Alltagslebens, die ihn nicht interessiert hätte. Jeden Prozeß, jede politische Dummheit, jede wissenschaftliche und technische Errungenschaft, jede Neuerscheinung in der Literatur prüfte er, untersuchte er mit seinem durchdringenden Verstande und wies alle Dinge an ihren rechten Platz. Er war ein ungemein strenger Richter sowohl der Literatur als auch dem Leben gegenüber. An seine Freunde stellte er außerordentlich hohe Ansprüche und an sich selbst die höchsten. Nichts war ihm gut genug, nichts vollkommen genug.

Ah, wenn ich an alle die Jahre denke, die mich ihm verbanden! Ich brachte sehr bald in Erfahrung, daß die allgemein verbreitete Meinung, Berg sei infolge eines Körperleidens in stets verbitterter und gereizter Stimmung, eine arge Lüge, und daß die Ansicht, er könne nur niederreißen, eine feige Unwahrheit war. Niemand war seelenheiterer als er, niemand ehrlicher und gerechter. Eine große Dosis Selbstironie schützte ihn davor, die Dinge tragisch zu nehmen. Er hatte eine Seele, die von verhaltener Liebe zuweilen überströmte, und wenn man ihn erst vom Schreibtisch losgerissen hatte, war er schlichter als ein Kind. Auf den mehrfachen Reisen ins Ausland, die wir zusammen machten, war er ausgelassen froh wie ein Junge, von olympischer Heiterkeit, trinkfreudig, zu tausend Scherzen aufgelegt, naiv, schwärmerisch, primitiv, zum Jauchzen bereit.

Er arbeitete intensiv und viel und nicht nur am Schreibtisch. Wenn er sich zum Schreiben niedersetzte, war die Hauptarbeit gewöhnlich schon getan. In der Weinkneipe, im Walde, während einer Plauderei, kurz überall und immer war sein Gehirn in fiebernder Arbeit.

Er verdient es, daß man ihn studiert, erörtert, bekämpft und sich aneignet. Die meisten seiner Essays beschäftigen sich mit den künstlerischen, erotischen, moralischen und kulturellen Maßstäben und Vorurteilen; im übrigen aber hat er über Philosophie und Geschichte, Psychologie und Moral, Liebe und Haß, Freundschaft und Einsamkeit, Staat und Gesellschaft, Lebenskampf und Tod eine Reihe größerer Einzelstudien geschrieben. Was vollends die Literatur angeht, so gibt es schlechterdings keine irgendwie hervorragende Erscheinung bei allen Völkern, der er sich nicht zugewendet hätte. Er kannte die Literaturen aller Zeiten, und er bewies durch etwa hundertfünfzig Einzelstudien, daß er seine Fühler so ziemlich nach allen Ländern der Erde ausgestreckt hatte. Er war im Goetheschen Sinne und im Sinne Emersons ein wahrhaft kosmopolitischer Schriftsteller.

Neben den Werken, die ich bereits genannt habe, hat er noch eine größere Studie über die »Geschlechter« geschrieben, in der er vorzugsweise das Problem der Homosexualität zu beleuchten sucht; ein gedankenkühnes und originelles Werk, dem das jahrelange Studium einer ungeheuren Literatur zugrunde liegt.

Kurz vor seinem Tode hat er noch einen kleinen Band Essays herausgegeben, der jene drei Persönlichkeiten noch einmal zusammenschloß, denen Zeit seines Lebens in erster Reihe sein Denken und Forschen galt: Heine, Nietzsche, Ibsen. Für Berg, der sich immer mehr zum Individualisten entwickelt hatte, waren Heine, Nietzsche und Ibsen »die wichtigsten und ausgeprägtesten Vertreter des Individualismus«. Er fühlte sich von ihnen am meisten angezogen, weil er sich allen dreien so eng verwandt wußte. An Heine zog ihn der Jude an, der Prophet, der Ironiker und der Stilist; an Nietzsche der revolutionäre Denker, der Umwerter, der Aphorist und an Ibsen der Problematiker und Gesellschaftskritiker. Über alle drei hat er vordem in seinen großen Essaybänden »Zwischen zwei Jahrhunderten«, »Neue Essays«, »Aus der Zeit – gegen die Zeit« schon größere Studien veröffentlicht, die ihren Einfluß, ihre Stellung und ihren Ideenreichtum werteten. Über Nietzsche und Ibsen hat er zwei selbständige, wenig umfangreiche Bücher geschrieben, die in ihrer essentiellen Art das Studium der ganzen Nietzsche- und Ibsenliteratur überflüssig machten. Wie immer, sagte er auch in diesen Büchern auf einer Seite mehr als andere in dicken Kompendien. Dickleibigkeit hielt er gewöhnlich für ein schlechtes Zeichen einer Monographie. Nachdem er Nietzsche und seinen mächtigen Einfluß in dem berühmten Buche »Der Übermensch in der modernen Literatur« und nachdem er Ibsen in dem Buche »Henrik Ibsen« in unnachahmlicher Weise analysiert hatte, wollte er sich nun daran machen, auch Heine in größerem Maße gerecht zu werden. »Zu genaueren Ausführungen gerade der Heine-Probleme habe ich vielleicht noch einmal passendere Gelegenheit«, schrieb er wenige Wochen vor seinem Tode. »Von den vielerlei Arbeiten und Plänen, die ich habe liegen lassen müssen, ist es mir namentlich um meine Heine-Biographie leid, die ich als eine der mir aus den verschiedensten Gründen besonders zugefallenen Aufgaben betrachte. Dem noch immer vom Haß am meisten verfolgten Dichter, der Gestalt unserer Literatur, die von Lüge und Verleumdung, von Mißverständnissen und Vorurteilen fast ganz unkenntlich gemacht worden ist, sein Recht zu schaffen, ihn gegen Freund und Feind in die rechte Stellung zu rücken, glaube ich einige wichtige Eigenschaften mitzubringen, die zum Teil in meinen besonderen Anlagen und Schicksalen begründet sind, weshalb ich ganz ohne Selbstgefälligkeit davon reden kann, zumal es sich hier um eine wichtige und für gewisse Fragen entscheidende Aufgabe handelt.«

Bergs Arbeit läßt sich am besten mit einer Gebirgskette vergleichen, die sich aus mächtigen Erhebungen, aber auch aus Hügeln zusammensetzt; die Hügel für jeden ersteigbar, keine großen Reize bietend; die Berge aber voller Schönheit und imposanten Weitblick vergönnend, Eiseskälte in der Höhe, aber Reinheit und Größe. Und der Wind pfeift frisch und befreiend. Auf solche Gipfel zieht Berg sich gern zurück, um von dort seine Lehre von der Schönheit und von der Schlechtigkeit der Dinge zu predigen. Der Genius kommt immer von den Bergen der Wahrhaftigkeit her; alle Größe und Kraft, nach der Menschen dürsten, werden in diesen Hochgebirgen geboren. Von dort sieht Berg herab auf die Welt, die die Heuchelei bedeutet, und zieht uns mit verblüffender und imponierender Brutalität, die wiederum ein Beweis von innerer Stärke ist, die bequemen Schleier vor den Augen fort und zeigt uns, wie verlogen wir sind in unseren heiligsten Gefühlen, wir, die ihre aufrichtigsten Hüter zu sein vorgeben. Und wer ihn mit Hingabe liest, dem kann er eine befreiende Macht werden und ein Wegweiser zugleich.

Man hat Leo Berg oft mit Georg Brandes verglichen, mit dem er nur wenig Wesenszüge gemeinsam hat: die Kraft der Analyse, die Ironie und einen gewissen Atheismus. Sie haben beide die scharfe Dialektik des Juden. Beide wurzeln in Hegel, haben von Hegel das Abstrakte, Spekulative. Aber während Berg noch in seinem Buche »Geschlechter« deutliche Spuren des Hegelschen Einflusses zeigt, hat Brandes von dieser Einwirkung sich früh befreit. Und während Berg die Probleme mehr mit dem Verstande erfaßt, erklärt sie Brandes mit Hilfe seines Instinkts. Brandes ist eine mehr feminine, passive Natur und hat eine größere Anpassungsfähigkeit. Er ist nicht so grüblerisch. Bergs Stil ist geistig, der Brandessche sinnlich. Dieser läßt das Werk auf sich wirken, um dann sein persönliches Erlebnis mit dem Werke zu erzählen. Berg sucht das Werk zu bezwingen, Brandes läßt sich von ihm besiegen. Er studiert seinen Gegenstand mit außerordentlicher Geduld und Präzision, mit inquisitorischer Peinlichkeit und zugleich mit einer Liebe, die völlig aufgeht in dem Gegenstande, um ihn völlig zu besitzen. Er fühlt die Dinge mehr, als daß er sie mit seinem Verstande zergliedert. Er ordnet seine Vernunft völlig seiner Intuition unter. Er hat ungleich mehr Witterung. Er hat etwas von einer Gerte in seinem Wesen: schmiegsam und im Schwunge sausend.

Brandes übersetzte Mill und Buckle, führte Spencer ein, machte für Taine und Renan Propaganda. Sein Shakespeare-Werk genießt Weltruf; seine »Hauptströmungen« waren von epochaler Bedeutung. Er wurde der Biograph und Interpret Lassalles und Disraelis. Er entdeckte Nietzsche und war der erste, der wirksam von Max Klinger sprach. Die Kenntnis des tiefen Sören Kierkegard verdanken wir ihm. Über die französischen, russischen, polnischen und vor allem über die skandinavischen Dichter hat uns keiner Besseres und in Kürze mehr zu sagen gewußt als er. Mit gleich erhellender Kraft schrieb er eine große Reihe Essays über deutsche Dichter und Philosophen – dies sollte eigentlich ein Pleonasmus sein! – über Politiker und Staatsmänner. Von fast allen Ländern Europas hat er seine Reiseeindrücke in besonderen Büchern mitgeteilt. Unter alledem viel Mittelmäßiges, Unebenbürtiges, sogar Eintagsware. Es haben die feinsten Geister ihren Niederschlag.

Es ist weder möglich noch notwendig, die ganze Reihe seiner Werke hier durchzugehen; ich möchte nur einige seiner hervorstechendsten Züge in Relief setzen.

Zunächst dies: Brandes ist der wichtigste Kulturbildner der neueren Zeit. Er übt die geniale Kritik großen Stils, von der Schiller träumte, die die Franzosen schufen, Kritik, die Kunst nötig hat, um sowohl die Genesis des Kunstwerkes zu entwickeln, als auch die Elemente und die Wesenheit seines Kunstwertes zu analysieren. Er reichte den Anfängern eine warme und sichere Hand zur Führung und brachte den berühmten Namen große, aufrichtige Huldigung dar. Er urteilt nicht, bevor er mit der ganzen Energie seines Verstehens in das eigenste Wesen des Werkes eingedrungen ist; er gibt große Gesichtspunkte und eröffnet weite Ausblicke in das geistige Leben der Gegenwart, zeigt den Weg zu neuen Bildungsschätzen. Und in allem wirkt er suggestiv.

Nächstdem: Die moderne skandinavische Literatur beginnt ihre Zeitrechnung mit dem Auftreten von Georg Brandes; sie knüpft an seine Vorlesungen an über die »Hauptströmungen der Literatur des XIX. Jahrhunderts« aus dem Jahre 1871. Er brachte Bewegung in die Stagnation und feuerte die jungen Talente zur Reaktion an, zur Opposition gegen die Romantik. Er wirkte durch seine Vorlesungen leuchtend, wärmend und zündend. Ibsen und Björnson, Jonas Lie, Kielland, Garborg, Strindberg, Jacobsen, Schandorph, Drachmann wurden durch sie angeregt, begeistert und befruchtet. Ihnen allen gab er den Mut zum Genie.

Georg Brandes' geistige Ausgangspunkte waren Hegel und Heiberg; er selber spricht sich darüber in seinem Essay über Heiberg folgendermaßen aus: »Wie überwältigend die Hegel-Heibergsche Aufhebung der Bedeutung des einzelnen Menschen wirkte, dafür sind die älteren Schriften des Verfassers dieser Zeilen (Brandes) Beispiele, um so einleuchtender, weil der Verfasser alles tat, was er vermochte, um sich von dieser ganzen alten Ästhetik loszureißen. – Die älteste Ausgabe des ersten Teiles der ›Hauptströmungen‹ enthält nicht eine einzige Lebensbeschreibung. Die Einzelnen interessieren den Verfasser nur als Wortführer für Grundgedanken; sie werden von Strömungen getragen, von Strömungen mitgerissen, bekämpfen Strömungen. – Bei der Persönlichkeit selbst wird nicht verweilt. Der zweite Teil zeigt den Fortschritt, daß die Biographien mitgenommen sind, aber sie sind in der Regel kurz, unvollständig, und – sehr bezeichnend – sie sind durchgehend hinten angeführt, als weniger wesentlicher Anhang zur Schilderung von Werken. Erst wird das ganze Geistesleben des Mannes durchgenommen und gekennzeichnet, dann folgt als Beilage eine kurzgefaßte Biographie der Persönlichkeit, in welcher das Geschilderte wurzelt. Das Werk entfaltet sich nicht aus dieser Wurzel. Es kommt, von dem Ideenlüftchen getragen; der Mensch, die Schlacke, welche übrigbleibt, wenn die Ideen und Formen abgewonnen sind, – diese freilich höchst unentbehrliche Schlacke, – wird dann als notwendiges Übel mit in den Kauf genommen. Ganz so ist in meinem Buche ›Die französische Ästhetik der Gegenwart‹ Taines Persönlichkeit zu allerletzt, nach seiner Lehre skizziert. Erst in den nun folgenden Büchern beginnt ein Menschenstudium, das stets ernsthafter und sorgfältiger wird. Bis zum Jahre 1874 ungefähr hatte ich nicht vermocht in diesem Punkte ganz mit der Überlieferung zu brechen. Aber in zahlreichen anderen Punkten hatte ich es getan, und mit einer Anstrengung, die das jetzt heranwachsende Geschlecht kaum verstehen kann, weil es sich längst in die Gedanken eingelebt hat, die man damals nur mit Überwindung denken konnte.«

In diesem interessanten Bekenntnis haben wir zugleich eine Probe des Brandesschen Stils, seiner Kritik in der Selbstkritik, seiner Entwicklung und Häutung. Er hat alles getan, um sich dem Hegel-Heibergschen Einfluß zu entwinden; er konnte diese Spuren aber nie gänzlich verwischen. Viele seiner Schriften haben etwas abstrakt Spekulatives, und in den meisten bricht die Vorliebe für eine dialektische Behandlung allgemeiner Ideen durch. Mit Vorliebe wählt er solche Stoffe, die gleichzeitig eine interessante Persönlichkeit und große allgemeine Gedanken darbieten. Wie sein »Sören Kierkegaard« ein individualistisches Stück dänischer Kulturgeschichte darstellt, so repräsentiert sein »Shakespeare« ein Stück englischer Kulturgeschichte, so ist sein »Lassalle« die Geschichte der 48er Jahre und zugleich ein Stück moderner Rechtswissenschaft und Staatsökonomie in persönlicher Form. Was ihn fesselt, ist einerseits das rein Individuelle, »so ein Ding, das nie zuvor gewesen ist und niemals wiederkommen wird,« anderseits die großen, bleibenden Ideen des Zeitalters.

Andere Lehrer von Brandes waren Taine, St. Beuve und Hettner. Von Stuart Mill hat er die Schlagwörter von politischer Freiheit, vom Altruismus und der Frauenemanzipation übernommen, mit denen er auf alle, die ihn hörten, weiterwirkte. Taines Definition: »L'œuvre d'art est déterminée par un ensemble qui est l'état général de l'esprit et des mœurs environnantes« findet man von Brandes fast immer beherzigt. Und es ist nicht zuletzt Taine, der in Brandes jenen Umschwung in der kritischen Darstellung, von dem ich sprach, bewirkt hat. Den Menschen nie von seinem Werke zu trennen, sondern im Gegenteil! zu studieren, wie das Kunstwerk, die Blüte des menschlichen Geistes, aus der Wurzel, dem Menschen, herauswächst, und das Kunstwerk nicht nur rein ästhetisch zu betrachten, sondern das eigene Persönliche in die Betrachtung mit einfließen zu lassen, ist die kritische Methode, die Taine befolgte: »Les hommes ne peuvent comprendre que des sentiments analogues à ceux qu'ils éprouvent. Les autres sentiments si bien exprimés qu'ils puissent être, n'ont point de prise sur eux.« Und er folgert daraus, »qu'en tout cas compliqué ou simple, le milieu, c'est-à-dire l'état général des mœurs et de l'esprit détermine l'espèce des œuvres d'art en ne souffrant que celles qui lui sont conformes, et en éliminant les autres espèces, par une série d'obstacles interposés et d'attaques renouvelées à chaque pas de leur développement.«

Brandes ist der würdige Erbe dieser Betrachtungsweise. Er studierte Taine, der ihm »der erste Prosaschriftsteller des modernen Europa« ist, und sah ihm die kritische Methode ab, durch die allein er als wirklicher Neuschöpfer in der nordischen Kunst dasteht. Und er kommt zu diesem Schluß: »Die kritische Darstellung ist eine selbständige Kunst, und es sollte nichts zur Sache tun, ob das Publikum die vom Kritiker behandelte Persönlichkeit kennt oder nicht.«

Diese Kunst hat Brandes denn auch mit Virtuosität geübt. Seine aufbauende Phantasie macht uns stets den großen Menschen lebendig und bringt uns in intime Berührung mit ihm. Wen er schildert, der wird unser. Es ist kein falscher Strich an seiner Zeichnung, weil Brandes immer mit dem sichersten Maßstab mißt: mit seinem Gefühl.

Sollte man nicht glauben, daß es Sache des Mannes sei, mit dem Verstande zu urteilen, und Sache des Weibes, Gefühlswerte zum Maßstab zu nehmen? Aber die Natur liebt es zuweilen, die Dinge umzukehren. Dann verpflanzt sie das Gehirn eines Mannes in sein Herz, und einem Weibe gibt sie statt eines Herzens einen Kopf.

Aber es ist nicht gesagt, daß ihr solche Possen immer glücken. Noch zweifle ich, ob es ihr im Falle Ellen Keys geglückt ist, die ich nur im engsten Bezirke der Antifrauenemanzipation gelten lassen kann.

Ihre Essays, soweit sie sich mit der Frauenfrage beschäftigen, zeichnen sich durch eine große sachliche Ruhe aus und durch die sympathische Wärme einer vornehmen Gesinnung. Was sie vom Weibe sagt, ist ebenso menschlich, wie schön empfunden. Sie spricht fein, mutig und gesund. Indes, ihre schwärmerische Art, ihr Enthusiasmus, spielt ihr manchmal auch einen Schabernack und läßt sie Mittelmäßiges gar zu sehr überschätzen. Ihr Verdienst bleibt, daß sie vor allem jenen literarischen Produkten mit Energie entgegengetreten ist, in denen die Dichtung dazu mißbraucht wurde, Frauenfragendebatten anzuspinnen. Sie hat Front gemacht gegen ihr eigenes Geschlecht, das plötzlich so ganz sein Geschlecht vergaß. Mit stolzer Demut erinnerte sie es daran, daß seiner andere Pflichten und Aufgaben harrten, als die Entfernung vom Manne, die soziale Isolierung und die Unfruchtbarkeit in Kunst und Leben.

Sie strebt eine dem Manne gleichartige Kultur der Frau an, die durch die Höhe ihrer Entwicklung sich um so reicher und weiblicher innerhalb ihrer Geschlechtsart entfalten soll, wie der Mann innerhalb der seinen. »Hinauf sollt ihr euch entwickeln!« Und sie wird nicht müde, dieses Wort Nietzsches – Nietzsche ist neben Goethe, Ibsen und Almqvist einer ihrer Lieblingsgötter – hundertmal zu wiederholen. Die im Konkurrenzkampf erforderte Konzentrierung auf eine Reihe von männlichen Berufen scheint Ellen Key für die Frau weit schädigender als für den Mann in gleicher Lage, weil sie um ihretwillen Opfer ihrer Weiblichkeit, ihrer Mütterlichkeit bringen muß und schließlich an ihrer Seelenart Einbuße erleiden kann. »Es ist zum Beispiel recht,« sagt sie, »daß die Löhne der Frauen gesteigert werden; aber steigert sich auch der Arbeitswert der Frau im Verhältnis? Kann man auch nur verlangen, daß die Mehrzahl dieser über die Pulte gebückten Frauen ihrer Wirksamkeit ein lebendiges Interesse widmen sollen, wo doch ihr ganzes wirkliches Wesen erst seinen Ausdruck fände, wenn sie über eine Wiege gebeugt dasäßen?« Aus dem Mütterlichen in seinen verschiedenen Phasen und Zügen resultiert Ellen Keys Auffassung weiblicher Anlagen und Berufe. Mutter werden und vor allen Dingen Mutter sein, das ist ihr alles. Aber sie selbst ist jenem Prediger ähnlich, der der Gemeinde anbefiehlt, sich nach seinen Worten, aber nicht nach seinen Taten zu richten. Ein weiblich sinnliches Timbre teilt sie nicht mit; sie steht vielmehr schon – auch erotisch – auf der Vorstufe zum Manne und wünscht aus Mannesempfindungen heraus dem Weibe das Kind als erlösenden Ruhepunkt ihrer Begierde und Sehnsucht. Und hier muß man daran erinnern, daß die Kampfarbeit Ellen Keys letzterdings nie dem Weibe, sondern immer der Befreiung des Kindes gegolten hat. (Jahrhundert des Kindes. Der Lebensglaube.) Sie spricht nicht anders vom Weibe als Leo Berg, der sich in seinem Aphorismus einmal so ausdrückt: »Die Frau, die keine Kinder liebt, ja die im Kinde nicht ihre Reinigung und Erhebung sieht, ist um ihre letzte Scham gekommen. Alle Weiber mit der Kinderscheu sind Entartete oder Verbrecher. Ein Weib, das zum Kinde keine Beziehung hat, ist um sein bestes Menschentum betrogen und immer um sein Glück. Im Kinde erholt sich das Weib vom Manne. Das Kind ist sein Feiertag nach dem großen Kriege, den man Liebe nennt.« – Und Ellen Key: »Der höchste Ausdruck des ewig Weiblichen ist die erotische Liebe und die Mutterliebe. Es ist die Ganzheit in der Hingebung der Frau, welche für sie ihre höchste Keuschheit ist. Den Allherrscher Eros tief zu verehren, ist das einzige Sittlichkeitsprogramm, das eine Zukunft hat.« Auch Ellen Key meint das Kind, wenn sie vom Weibe spricht; auch sie hat die Ringmauer innerer und äußerer Verlogenheit, hinter der das schreckliche moderne Weib sich verschanzt hat, gerade dort durchbrochen, wo es verwundbar und überwindbar ist.

Außer den Essays über Frauen und Liebe, Ehe und Kindererziehung (die man nur in ihren ersten Büchern lesen muß; in den späteren gibt sie nur schwache Wiederholungen ihrer selbst!) hat sie noch einige Bände literarischer Aufsätze geschrieben, die nicht besser und nicht schlechter sind, als Vieles, was jahraus jahrein von Gelehrten und Literaten geschrieben wird. Mit dem Unterschiede, daß eine Frau unlesbar wird, sobald sie mit der Brille auf der Nase anfängt zu dozieren. In einer anderen Essaygruppe sieht man sie ihre schreibseligen Hände vergeblich nach der stillen Welt Maeterlincks ausrecken; so, wenn sie über das Schweigen plaudert, über Individualität, Kultur, Mut, Schönheit usw. Da gibt sie pastorenhafte, lyrische Essays, interessant nur insofern, als sie deutlich zeigen, daß Ellen Key mit viel Gewinn Nietzsche gelesen hat, Almquist, Diderot, Goethe, Ibsen und Maeterlinck. Sie ist so assimilationsfähig, daß jede Lektüre, die nur irgendwie Eindruck auf ihr Gemüt gemacht hat, in ihren Arbeiten sofort wieder den vollkommen ähnlichen Ausdruck findet. Chamäleonartig nimmt ihr Geist stets die Farbe der Welt an, in der er gerade lebt. Diese Widerspiegelung geht so weit, daß man zuweilen an eine Verwandtschaft etwa Keys und Maeterlincks glauben möchte. Denn man könnte wohl Zitate aus Keys und Maeterlincks gleichlautenden Aufsätzen durcheinanderbringen, ohne daß man – obenhin gelesen – imstande wäre zu erkennen, was des einen und was des anderen geistiges Eigentum ist. Aber Maeterlinck ist von Ellen Key so weit entfernt wie ein Stern vom andern.

Maurice Maeterlinck hat zuweilen eine Tiefe, die unergründlich ist wie die Nacht. Sein Genius läßt ihn Worte finden, die kein Sterblicher wundervoller sagen könnte. Er darf an Mysterien rühren, vor deren Dunkelheit ihm graut. Als empfinge er sie in dunklen Träumen, weiß er schwere Rätsel zu prägen, die er selber nie aufzulösen vermag. Er betrachtet das Schreiben als ein heiliges Werk. Wie jene geweihten Schriftgelehrten ihren Körper und ihren Geist einer vollständigen Reinigung unterziehen, ehe sie das Werk Gottes niederschreiben, so – möchte man meinen – geht Maeterlinck, rein im Innersten, an die Niederschrift seiner Eingebungen. Es ist, als kniete er vor einem Altar, auf dem die Gottheit sich niedergelassen hat, um sich durch ihn zu offenbaren. Er hat ein verfeinertes Bewußtsein von den letzten Geheimnissen der Seele; er lauscht andächtig ihrem Erwachen und weiß über die Mysterien der Liebe und über das, was zwischen den Menschen unsichtbar hin und her webt, viel Tiefes zu offenbaren.

Er geht lediglich von einer fatalistischen Weltanschauung aus. Er studiert nicht den Menschen, sondern das, was jenseits seiner sichtbaren Grenzen liegt; nicht seine intellektuellen, weltlichen Eigenschaften, sondern seine übersinnlichen. Er faßt das Universum als die Summe unendlicher, mannigfaltiger Teile auf, die durch das unerbittliche Gesetz der Notwendigkeit eng miteinander verbunden sind. Wer aber wäre wohl so vermessen, die seelische und physische Mannigfaltigkeit, die schon der Mensch allein darstellt, zu erklären oder gar mit sterblichen Augen zu durchdringen? Über die niederen Formen der Analyse hinaus, die man Wissenschaften nennt, gibt es eine höhere Analyse, die metaphysische. Meine Seele ist etwas Unentwirrbares und Unfaßliches, und nur in Stunden irdischer Abgezogenheit und tiefster Einsamkeit fühle ich ihre göttliche Herkunft. Aber diese meine Seele ist nicht göttlicher als die des Bauern, der hinter seinem Pfluge hergeht oder als die des Hundes, der zu meinen Füßen liegt. In uns allen lebt das heilige Mysterium, das keiner Deutbarkeit zugänglich ist. Und es ist gut, daß das Mystische in uns nicht enträtselbar ist. Es ist gut, daß wir nur in Gleichnissen zueinander reden können und daß die Pforte des Heiligtums, die zu unserer Seele führt, sich nicht auftut, wenn der jämmerliche Verstand des Menschen kommt, um daran herumzuschnobern. Deshalb sind wir nie tiefer als dann, wenn wir schweigen, und nie göttlicher als dann, wenn wir leiden. Denn dann fühlen wir die Ganzheit unserer Seele.

Weil Maeterlinck aber seine mystische Weltanschauung voraussetzt und zum Leser spricht, als sei dieser durchdrungen von der Unabänderlichkeit des Schicksals, als glaube er an den Gott Maeterlincks, dessen Existenz erst gar nicht bewiesen werden müsse, findet er nur in relativ kleiner Gemeinde Widerhall. In seinen früheren Essaybänden »Der Schatz der Armen« und »Weisheit und Schicksal« beschrieb er die Stärke der mystischen Macht, die sich selbst unter alltäglichen Verhältnissen offenbart; zeigte er, wie sie die Seelen miteinander verstrickt, wie geheime seelische Wandlungen unsere gegenseitigen Verhältnisse bestimmen und wie jedes Individuum vor jedem einzelnen Menschen ein anderes Wesen wird. Er lauschte mit bewunderungswürdiger Feinhörigkeit in die Tiefe seiner Seele; all die Ahnungen, die dort schlummerten, die Qualen, die ungeboren auf dem Grunde lagen, die Stimmungen, die sich ans Licht drängten, faßte er; er beschrieb das Unaussprechliche in einer Sprache, die aus einer anderen Welt zu kommen schien; all das, wofür es fast keine Worte mehr gab, deutete er seherhaft.

Vom Menschen stieg er mit gleicher Ehrfurcht hinab zu den Tieren und beschrieb einmal im »Doppelten Garten« die Seele seines verstorbenen Hundes mit ihren ernsten Anläufen, die schweren Aufgaben zu lösen, die die Natur dem Instinkte stellt, mit ihrem stummen Verstehen und Gehorchen, mit ihrer Sehnsucht nach Liebe und Güte, mit ihrer unschuldigen Freude am Spiel und ihrer innigen Teilnahme an allem menschlichen Leid. Oder er beschäftigte sich in einem seiner schönsten Bücher ausschließlich mit dem »Leben der Bienen« und berichtete über das ungeheuere Maß von Tatkraft, das diese kleinen Insekten entfalten, über die Unzahl von weisen Gesetzen, denen sie sich unterwerfen, die erstaunliche Fülle von Geist, die sie entwickeln, die unbegreiflichen Mysterien, die sie einhüllen, Erfahrungen, die sie nützen, und Berechnungen, die sie anstellen, über ihr großes Wissen und ihren seltsamen Gewerbefleiß, über ihre weisen Voraussichten, Gewißheiten und klugen Gewohnheiten, über eine Menge von sonderbaren Tugenden und unbegreiflichen Gefühlen, die sie nimmermüde pflegen.

Von den Tieren ging er zu den Pflanzen (Die Intelligenz der Blumen) und zeigte, daß unsere technischen und mechanischen, hydraulischen und dynamischen, kurz unsere physikalischen Erfindungen und Entdeckungen, die der Stolz des menschlichen Verstandes sind, bereits in erstaunlicher Vollkommenheit von den Pflanzen antizipiert worden sind; er zeigte die Schönheit und Erfindungsgabe, die sie besitzen; Glück und Unglück, die auch in ihrem Reiche herrschen; die unfaßbaren Schwierigkeiten, die sie überwinden müssen, um sich lieben und fortpflanzen zu können; die Kämpfe, die sie gegen tausende Feinde zu bestehen haben; leuchtete in ihre geheimnisvollen Werkstätten hinein, in denen sie das Wunder der Duft- und Farbenbereitung vollziehen; zeigte, wie diese im Erdboden festgebannte Welt, die voller Ergebung, Schweigen und Gehorsam zu sein scheint, erfüllt ist von Auflehnung und Trotz, von Heftigkeit und Hartnäckigkeit, von Klugheit und Sensibilität, von Nervosität und Lebensgier und welche langen und furchtbaren Dramen sich gerade hier abspielen, wo man sich mit tausendartig geformten Waffen versieht, die weit furchtbarer und raffinierter sind, als der Mensch sie je ersinnen könnte. »Die Pflanze ist ganz auf ein einziges Ziel eingestellt: dem Schicksal ihrer Wurzel durch ihre Blüte zu entrinnen, das drückende und düstere Gesetz zu übertreten und seiner zu spotten, sich freizumachen und die enge Sphäre zu zerbrechen, sich Flügel zu erfinden oder sie anzulocken, so weit wie möglich zu entkommen, den Raum zu besiegen, worin das Schicksal sie gefangen hält, sich einem anderen Naturreich zu nähern, in eine lebende und bewegte Welt einzudringen.«

Von den Pflanzen kam er zum Gestein, dessen Leben sich ebenfalls auf wunderbaren Berechnungen und einer außergewöhnlichen Intelligenz aufzubauen scheint, bis er endlich zur Maschine herabstieg und das Automobil mit einer Seele begabte, die beinahe rätselvoller ist als alles, was unser an Rätseln so reiches Leben bietet. Denn er erkannte, daß schließlich alles zusammenhängt und sich die Hand reicht. »Alles gehorcht denselben unsichtbaren Prinzipien und denselben Notwendigkeiten; alles hat teil an Stoff und Seele des gleichen erstaunlichen und erschrecklichen Rätsels.«

Es ist schwer zu sagen, wo das eigentlich steckt, was in Maeterlincks Werken uns festhält; wo das Wort steht, das uns besticht, zwingt und unsere Bewunderung erregt.

Zuweilen spricht dieser mystische Seher allerdings auch weniger prophetische, erdentrückte Worte; ich finde sogar oft eine materialistische Auffassung der Dinge, die mich an den krassesten Philosophen der Aufklärungsepoche, an Lamettrie gemahnt; etwa in diesem Wort: »Alle unsere Gerechtigkeit und Moral, all unser Denken und Fühlen, gehen im ganzen genommen auf zwei oder drei Grundbedürfnisse zurück, unter denen das Ernährungsbedürfnis die erste Stelle einnimmt. Die geringste Veränderung eines dieser Bedürfnisse würde zu bedeutenden Verschiebungen in unserem moralischen Leben führen.«

Trotz solcher flachen Exkurse sinkt Maeterlinck aber nie auf jene Stufe, wo die Erklärbarkeit der Dinge als der höchste Triumph des menschlichen Verstandes angesehen wird.

Er ist der Verherrlicher des Leidens. Wie die alten weisen Brahmanen bekennt er sich zu der Anschauung, daß jedes große Gefühl in großer Qual seine Quelle haben müsse, daß das Leid unsere Lebensempfindung steigere und unser Ich größer mache. Er sucht all die Schätze, die ursprünglich unser waren und uns schmückten, die nun aber schon lange unter dem Schutt des Alltags in uns begraben liegen, ans Licht zu bringen. Wir haben in unserem Inneren, dem Tempel, die Götzen zertrümmert und Göttern Altäre errichtet; dann wurden wir den Göttern abtrünnig und bekannten uns zu einem einzigen Gotte, der uns Nächstenliebe, der uns Gerechtigkeit anbefahl. Aber da wir weder uneigennützig lieben noch gerecht sein können, vertrieben wir diesen Gott aus unserem Tempel und kehrten zu Götzen zurück und umtanzen wieder das goldene Kalb. Es fehlt uns nicht die Frömmigkeit vor dem Dasein; sie ist uns angeboren, ebenso wie der Gerechtigkeitssinn und wie die Nächstenliebe. Aber wir ersticken lieber in konventionellen Lügen und ziehen unser Bestes um leicht vergängliche Güter durch alle Moräste. Der Güter höchste aber sind Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit.


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