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Vagabunden

Seit Gorki mit seinen Dieben und Schmugglern, Bettlern und Landstreichern, Säufern und Verbrechern, Dirnen und anderem Gelichter in der Literatur einen solch unbestrittenen Erfolg davongetragen hat, sind sehr viele Unberufene und wenig Berufene entstanden, die dieses tagesscheue Gesindel ebenfalls in die höheren Sphären der Poesie heben wollten. Man vergaß freilich oder übersah, daß es nicht nur das »Milieu« war, das Gorkis Gestalten so populär gemacht hat; seine Strolche wirkten vielmehr durch eine gewisse philosophische Tiefe und eine majestätische Wurstigkeit, kraft deren sie das Leben der Spießbürger mit erhabenem Gleichmut belächeln konnten; sie wirkten durch etwas königlich Freies und Großes, das hinter ihren übelriechenden Lumpen lebte. Das waren keine Vagabunden im landläufigen Sinne, die glücklich sind, wenn sie ihr jämmerliches Nachtlager in der elenden Herberge bezahlen können; das waren vielmehr in Lumpen maskierte Königstiger, die ungebunden durch die Steppe streiften und die verächtlich auf den Bourgeois herabsahen, der am Rubel klebt. Fast alle waren sie von Haus aus Philosophen, mehr oder minder blasiert, mehr oder minder zynisch, mehr oder minder apathisch gegenüber den Schicksalsschlägen des brutalen Lebens; gescheiterte Idealisten; Pessimisten aus Idealismus; schiffbrüchig gewordene Kolumbusse, die alle eine neue Welt zu entdecken hofften; lebendige Wracks; Ruinen einstens hochstrebender Bauten; verkrüppelte und verstümmelte Torsi schön angelegter Menschen. Dieses Gorkische Gesindel, das in Schnapshöhlen sein Leben verrauchte, vertrank und verluderte, besaß doch noch menschliche Züge im besten Sinne. Denn dieser Abschaum, der immer noch Edles genug in sich barg, war schon durch das viele Leiden geadelt; auch diese »Helden« kämpften und stritten um Menschliches und Übermenschliches wie alle leidenden Seelen. Sie pesteten nach allerlei Unreinlichkeit, und dennoch war man ergriffen von ihren hilflos gestammelten Worten, aus denen man den Aufschrei der erschreckten menschlichen Seele vernommen hatte. Man war ergriffen, weil Gorki ihre Schicksale wirklich gesehen und lebendig darzustellen vermocht hat.

Das kann man von Hans Eschelbachs Figuren nicht behaupten, der in seinen Erzählungen » Die Armen und Elenden« sich als ein sehr schlechter Gorkikenner erweist, wenn er da ein wenig emphatisch behauptet: »Ich bin nicht der Dichter der Armen und Elenden, wie Maxim Gorki es ist, der uns oft nur den Sumpf und nirgends das rettende Ufer zeigt. Was mich von den russischen Dichtern unterscheidet, ist meine felsenfeste Überzeugung, daß die Sehnsucht nach dem Guten auch in dem schlechtesten Menschen still weiterglimmt.« Nein, hierin unterscheidet sich Eschelbach durchaus nicht von Gorki, der nicht eine Gestalt geschaffen hat, in der »die Sehnsucht nach dem Guten« nicht elementar durchbräche; was Eschelbach von Gorki unterscheidet, sind leider die dichterischen Qualitäten. Es ist vor allem die Gestaltungskraft, die bei Eschelbach, verglichen mit der Gestaltungskraft Gorkis, die eines hilflosen Kindes ist gegenüber der eines Giganten. Aber sieht man von diesem herausgeforderten Vergleich zweier so inkommensurabler Größen ab, so erkennt man gern Eschelbachs Wärme an und sein pastorenhaftes Mitleid, das er den Elenden entgegenbringt, und man bestätigt ihm sein Bekenntnis: »Es ist nicht die Jagd nach einem neuen frappierenden Stoff, sondern es ist die Liebe zu den Verkannten und Ausgestoßenen, die mich in die Winkelgassen, in die Kellerwohnungen oder in die Dachkammern zu den Schwachen, Kranken und Flügellahmen, zu den Stiefkindern des Lebens treibt.«

Das ist menschlich schön, und die Pastoren allerorten haben denselben ethischen Trieb. Oder sollten ihn doch haben! Aber mit Dichtkunst hat das nichts zu tun. Wäre Gorki als Mensch selbst ein eiskalter Schurke, so würde er doch dichterisch himalayahoch über Eschelbach stehen.

Dürfte man ein poetisches Werk nach den Gefühlswerten messen, die der Dichter darin verschwendet, so wäre selbst Kurt Leberechts Roman » Der große Vagabund«, in dem sich Wahrheit und Dichtung mischen – es ist wohl mehr Autobiographisches als Dichterisches darin! – und der, obwohl ganz aus dem Fond der eigenen und inneren Erlebnisse geschöpft, bei weitem nicht das hält, was der – Verleger versprochen hat, ein wesentlich bedeutsameres Buch. Der Verfasser, der dies Buch 25 Jahre alt schrieb, hat ein überaus buntes und an Schicksalsfällen reiches Leben hinter sich. Poesie ist es ihm aber noch nicht geworden; als Dokument schätze ich es indessen, obwohl es schlecht geschrieben und sehr schlecht in technischer Beziehung ist. Aber ich suche in dem Dokument eines Landstreichers kein poetisches Meisterwerk. Hier wird recht und schlecht erzählt, wie ein Mensch von den eigenen Sippen und Verwandten um ein Nichts ins Gefängnis geworfen wird, welche seelischen und physischen Qualen er dort aussteht, und wie er, einmal im Kerker gewesen, in der menschlichen Gesellschaft nirgends mehr eine Reede offen findet, in der er Anker werfen oder landen könnte. Man sieht vielmehr, wie ihn diese menschliche Gesellschaft, deren unschuldiges Opfer er ist, immer wieder ausstößt, wie sie ihn zum Bettler und Strolch, zum Krüppel werden und auf der Landstraße elend wie ein Vieh umkommen läßt. Der Verleger schließt seinen Begleitbrief: »Da der Verfasser schon mehrmals im Gefängnis gewesen war, und es ihm nicht gelang, sich emporzuarbeiten, auch ein Gesuch an den Kaiser nun keinen Erfolg mehr hatte, fälschte er seine Papiere und erhielt eine Stelle als Schreiber, die er fast so lange bekleidete, wie alle vorherigen zusammen. Er wird voraussichtlich noch viel und Gutes leisten.« Das ist ein Wechsel auf die Zukunft, und die Erfahrung lehrt, daß die Wechsel in der Literatur noch weniger eingelöst werden, als im täglichen Leben. Wir werden diesen Wechsel nicht präsentieren, es sei denn, Leberecht lernt dichterisch zu gestalten, wie ihm bisher das Leben zerronnen ist; plastisch darzustellen, was er erst mit tastender Hand ungefüge beschrieben hat. Denn das Leben, das jeder lebt, ist ein Märchen, das irgendwann beginnt – es war einmal … – und von dem man nie weiß, wie bunt und unglaubhaft es sich entwickeln und wie dunkel und wo es einst enden wird. Es wiederzuerzählen, ist eine leichte Kunst, die fast jedermann kann; es zum Kunstwerk zu erheben und das geheimnisvolle Symbol zu deuten, durch das es ausgedrückt werden soll, ist die Sache des auserwählten Dichters. Das ist Kurt Leberecht nicht.

Auch Gerard van Hulzen ist kein Dichter. Ich sehe in ihm vielmehr einen Maler, der die impressionistische Farbenskala beherrscht, der die kleinen Elendsbilder der holländischen Großstadt virtuos und geschickt hinwirft; aber seine » Vagabunden« erwecken keine Resonanz, und sie haben nur die soziale Perspektive, aber nicht die Perspektive des reichen Lebens. Man ist, wofern man noch nicht ganz blasiert ist, von diesen Skizzen aus dem Leben der holländischen Parias gerührt, zuweilen angewidert, zuweilen belustigt; aber nie erschüttert. Gewiß, man sieht diese Bettelkinder, diese angehenden Dirnchen und Diebe, diese künftigen Kandidaten des Galgens und des Zuchthauses; man sieht auch diese alten, abgestumpften, im Elend hartgekochten Bettler und Gauner; es ist eine starke realistische Kunst an sie verschwendet; aber zu dem Gefühl, daß in van Hulzen ein besonders empfindender Künstler lebe oder daß aus ihm ein bedeutender Dichter spräche, bin ich nicht gekommen.

Wieder einen anderen Typus lernt man in F. A. Helmers » Roman eines Strolches« kennen. Aus diesem sehr interessanten Menschen spricht eine Weltanschauung, in der sich der ungebundenste Haß der Unterklasse gegen die besitzende Klasse explosiv austobt; in der ein wilder Schmerz rast über die Unzulänglichkeit aller menschlichen Einrichtungen, und in der sich die zynische Verachtung des ewig Unterdrückten gewaltsam Luft macht.

Der Arzt eines Zuchthauses erhält auf seine Bitte das Manuskript eines Strolches, der wegen Mordes erst zum Tode verurteilt und dann zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt wird. Es scheint, daß das Manuskript echt ist, daß es sich nicht um eine der beliebten Fiktionen handelt. Denn die Orthographie und die deutsche Sprache führen einen wahren Hexentanz hier auf. Trotzdem spricht aus dem Buche ein wirklicher Dichter. Er erzählt die Geschichte einer ledigen Magd, die ein Kind mit sich herumschleppt und die schon glücklich ist, wenn sie bei einem geizigen Bauern nur Arbeit und Brot für sich und ihr Kind findet. Daß man ihr keinen Lohn für ihre schwere Arbeit gibt, weil man noch ihr Kind auf dem Halse hat, ist selbstverständlich. Eines Tages aber ist das Kind verschwunden. Tagelang, nächtelang sucht die verzweifelte Magd ihr Kind, rennt von einem Dorf ins andere, erleidet Schmach und Hohn, lädt Schimpf und Schande auf sich, aber ihr Kind findet sie nicht. Ein Handwerksbursche, der ihr auf der Landstraße begegnet, nimmt sich ihrer an. Zwei weltverlassene Menschen, fliegen sie einander zu, und er, der grundgütige Sozialdemokrat, wird ihr Leidensgenosse. Er wird Knecht bei demselben Bauern, bei dem die Magd in Arbeit steht – nur, um ihr bei der Suche nach dem Kinde helfen zu können. Endlich findet man das Kind in der Jauchegrube … tot. Das Gerücht bringt die Magd ins Gerede, und die klatschsüchtigen Mäuler der Dorfweiber haben bald aufgebracht, die Magd, »das Luder«, habe sich gewaltsam ihres »Bankerts« entledigt, um frei zu sein. Sie kommt in Untersuchungshaft; da ihre Unschuld sich aber bald erweist, wird sie freigelassen. In wundervoller Keuschheit gibt sie sich nun ganz dem geliebten Handwerksburschen hin, der in der ersten glücklichen Nacht des ersten Zusammenseins stirbt.

Bis auf diesen Schluß, der sehr gewaltsam herbeigeführt ist, hat die Geschichte eine ungemein straffe und dramatische Komposition. Alle Gestalten, diese ewig betenden, knickerigen Bauern, die mit dem einen Auge in den Himmel und mit dem anderen in die Börse schauen, die sich – selbst eine Art Rindvieh – mehr um das Vieh als um die Menschen kümmern, diese Weiber, die vor Neugier schier umkommen und Getratsch nötig haben wie die Unke den Sumpf, alle diese Menschen sind ungemein lebensvoll dargestellt und zuweilen mit wunderbar feinen, psychologischen Zügen ausgestattet. Nur dort, wo der »Strolch« Pfaffen schildert, Gendarmen, Richter, mit einem Worte: die hohe Obrigkeit, da wird er parteiisch, und er schreibt dann nur mit Galle, während er sonst mit seinem Herzblute schreibt. Aber auch das ist erklärlich. Man kann vom Freiwild der Landstraße, vom Handwerksburschen, gegenüber dem Gendarmen, seinem geborenen Feinde, billigerweise nicht mehr Objektivität verlangen, als sie der Hase gegenüber dem Jagdhunde hätte. Gleichviel aber, ob die Geschichte nun wirklich von einem Strolche herrührt, oder ob auch dieser Rahmen nur eine glückliche Erfindung ist, das Buch ist jedenfalls schon durch seine starke Subjektivität sehr fesselnd, und wer die Welt einmal kennen lernen will, gesehen durch die Augen eines Entgleisten, wird sich nicht enttäuscht finden.

Hans Ostwald, der sich der Helden der Landstraße ganz besonders angenommen hat, ist über seinen Roman » Vagabunden« nicht mehr hinausgewachsen. Was er seitdem veröffentlicht hat, zeigt weniger einen Dichter, als einen etwas nüchternen Schilderer mit einer starken Vorliebe für Statistik und ähnlichem unfruchtbaren Krimskrams. Zu seinem eigenen Schaden und um sich selbst zu hemmen, hat er sich in einer kleinen Spezialität zu einer Autorität emporgeschrieben, hat immer wieder und immer wieder Dirnen- und Zuhältertum beleuchtet, hat Skizzen im Argot der Pennbrüder veröffentlicht, und manche tristen Bilder aus der Herberge mit wenig künstlerischen Mitteln gezeichnet. Aus der Menge seiner Schriften, die sich ausnahmslos mit der Hefe der menschlichen Gesellschaft beschäftigen, ragt dieser sein erster Roman »Vagabunden« als das beste und eindrucksvollste Werk empor, das freilich – gegen Gorki gehalten – immer noch stark verblassen muß. Aber wenigstens ist in diesen »Vagabunden« doch ein echter Herzenston und manche realistische Szene, die im Gedächtnis des Lesers nachhaltige Spuren zurückläßt. Diese bettelnden Zugvögel sind gesehen und gestaltet. Mensch und Landschaft sind durch das Temperament Ostwalds gegangen und zeigen Züge seines Wesens. Hier wird gehungert, gefroren, gelumpt, gejohlt und geweint. Hier ist ein wahres Kaleidoskop von Elend, Erniedrigung, Schmach, Unbill, Verkommenheit, Laster und Torheit. Von besonders eindringlicher Kraft ist jenes Kapitel, in dem Ostwald unsere moderne Gerichtsbarkeit (das Schöffengericht) an lebenden Menschen exemplifiziert; hier, aber auch nur hier, wird Ostwald zum Satiriker, der durch Knappheit bedeutend, ja geradezu mitreißend wirkt und in wenigen Worten mehr sagt, als er in manchem seiner Bücher gesagt hat.

Charakteristisch für alle diese Vagabundendichter ist freilich, daß sie sich gern mit Gorki vergleichen. Denn seit Gorki Weltruhm errungen hat, entdeckt plötzlich jedes Land seinen Gorki. Diese Dichter begnügen sich nicht zu sagen: ich heiße Leberecht, ich van Hulzen, sondern: Eschelbach übertrumpft Gorki; Leberecht ist »beinahe bedeutender als Gorki«, und Hulzens Buch hat ihm »den Beinamen des niederländischen Gorki erworben«.

Warum?

Van Hulzen hat das mit Gorki gemeinsam, »daß er Autodidakt ist und sich ebenfalls mühsam und unter Entbehrungen mancherlei Art emporarbeiten mußte«; Ostwald dies: daß er sich, wie Gorki, nach Handwerksburschenart auf der Landstraße umhertrieb, wo er die Entwurzelten und Gedemütigten kennengelernt hat; Leberecht: daß er, wie Gorki, im Gefängnis gesessen und Hirtenknabe war, Knecht, Laufbursche, Bureaudiener, Schuhmacher- und Maurerlehrling, Kellner, Hafenarbeiter, Fabrikarbeiter, Hausknecht.

Keiner hat aber dies mit Gorki gemeinsam, daß er ein echter Dichter wäre und auf so selbstsicheren und eigenen Füßen stünde. Sie sind Dichter von Gorkis Gnaden, aber nicht von Gottes Gnaden.

Das Werk von Harry Franck » Als Vagabund um die Erde« hat nichts mit Literatur und nichts mit Kunst zu tun. Es ist auch keine Reisebeschreibung im gewöhnlichen Sinne. Es ist, wenn man will, nichts weiter als ein großer Energiebeweis und als solcher freilich erzieherischer und wertvoller als manches Werk schöngeistiger Art.

Harry Franck hatte sich eines Tages gegen die traditionelle Ansicht aufgelehnt, daß man die Welt nur sehen könne, wenn man mit den nötigen Mitteln versorgt sei. Das sollte aber keineswegs heißen, daß man sich durch Bettelei, Diebstahl, Raub oder Betrug durch die Welt bringen müsse, denn schließlich sind auch diese Arten des Vorwärtskommens allgemein in Übung. Harry Franck wollte sich die Mittel für seine fünfzehnmonatige Vergnügungsreise um die Erde durch seiner Hände Werk erwerben, also auf die schwerste Art überhaupt. Seine Ausrüstung war nicht sehr groß; sie bestand meistens in den Kenntnissen des Französischen, Deutschen, Spanischen, Italienischen und selbstverständlich der englischen Muttersprache. Im übrigen trat er seine große Reise an ohne Geld, ohne Waffen, ohne Gepäck, ohne Proviant. Er hatte nichts bei sich als seinen Kodak, dem wir die 65 Abbildungen aus allen Weltteilen verdanken, mit denen das umfangreiche Buch ausgestattet ist.

Was Franck auf seiner Reise erlebt hat, grenzt nie an das Wunderbare, wohl aber war die Widerstandskraft, die er bewiesen, die äußerste Leistung, die sich ein Mensch abringen konnte. Denn wenn auch nichts Erstaunliches an dem Buche ist, so ist doch die Assimilationsfähigkeit des Wanderers an alle Sitten und Bräuche, an alle Lebensweisen, an jede Art von Speise und Trank und mehr noch von Hunger und Durst bewundernswert. Was Franck uns schildert, das hat der Kinematograph, soweit es landschaftlich oder völkerpsychologisch von Interesse ist, bereits oft den eingesessenen Philistern vor Augen geführt: Die Dschungeln oder das Meer, indische Städte, afrikanische Wüsteneien, chinesisches Leben, ägyptische Häfen, morgenländische Visionen, Tempel, Moscheen, Bettler, kurz, das ganze bunte Gewimmel des Erdenrunds. Aber was niemand anders so darstellen konnte, das ist die eherne Physiognomie des Willens, die uns überall aus dem Buche anblickt. Darum halte ich es auch für ein Buch, das man jungen Menschen in die Hand geben soll, aus denen man Männer machen möchte. Man erlebt hier nicht jene listigen Tricks der Conan Doyle-Helden, nicht jene wilden Phantasien, von denen niemals eine Brücke in die Welt der Wirklichkeit führt. Aus diesem Buche brüllt die irdische Wirklichkeit. Und diese Wirklichkeit ist oft schön über die Maßen und einsam bis zur Qual, wunderlich wie ein Traum und hart bis zur Unerbittlichkeit; sie entfesselt alle Talente und Begabungen, die im Menschen schlummern.

Man ist in fremder Wüstenei und lechzt nach einem Trunk und giert nach einem Bissen. Man hat seit dreißig Stunden nichts gegessen; indessen das tut nichts. Der Durst ist schlimmer. Aber Hunger und Durst machen findig.

Oder man sieht sich plötzlich fünfzig wilden Menschen gegenüber, die unser Leben bedrohen. Man ist allein und hat keine anderen Waffen als seine Fäuste. Da heißt es: sich retten oder sterben.

Oder: Wir haben Jura und Nationalökonomie studiert und haben es zu Hause immer sehr hübsch gehabt. Wir sind guter Leute Sohn. Aber jetzt sind wir bereits vierzig Wochen unterwegs; unsere Kleidung besteht fast nur noch aus Lumpen; im übrigen: in den Dschungeln Indiens kommt man mit allen soziologischen Kenntnissen nicht weiter. Es heißt rasch umlernen und von heute auf morgen Meister aller Handwerke sein. Dann sind wir heute Schreiber, morgen Zirkusclown, am nächsten Tage Hausknecht, dann Schreiner oder Schlosser und Viehhirt, wir sind bald Zimmermann, bald Schmied, bald Schuhmacher und Wagenputzer, Tapezierer und Maler, – kurz, wir machen alles aus uns, wenn der Augenblick uns zwingt, alles zu sein. Denn der Magen, dieser furchtbare Tyrann, fordert gebieterisch sein Recht.

Bei alledem sind wir stolz, und wenn es uns noch so jämmerlich geht, wir betteln nicht, lassen uns nichts schenken und leben nur von unserer eigenen Hände Arbeit, bis wir nach fünfzehn Monaten, gehörig braun gebrannt und abgerissen, sehnenhart und das Hirn befruchtet und von einer Unzahl großer Eindrücke beschwert, in das Vaterhaus zurückkehren.

Gleich möchte man die Feder fortwerfen und hinausfliehen ins freie Land, möchte den Lockungen dieses reichen, in jeder Zeile wahrhaften Buches folgen, das die Sehnsucht nach den goldenen Weiten so stark in uns auszulösen vermochte. Denn irgendwo in einem versteckten Winkel unseres Herzens sind wir alle solche Vagabunden, die, losgelöst von allen Konventionen und Lügen, in die Welt hinauswandern möchten, um uns, wie Antäus, aus der unmittelbaren Berührung mit der Erde neue Kräfte zu holen.

So sagt es Gorki einmal: »Oh, es liegt etwas Verlockendes und Hinreißendes in diesem freien Stromerleben – es läßt den Menschen nicht mehr los, wenn er einmal seinen Reiz gekostet, und verschlingt ihn förmlich. Es ist so angenehm, sich ganz frei zu sehen von jeder Pflicht und all den kleinen Fesseln und Strickchen, die das Wesen des Menschen niederhalten, solange er unter seinesgleichen lebt, frei von all den Jämmerlichkeiten, die sein Leben in dem Maße bedrücken, daß es ihm schon nicht mehr zur Lust, sondern zur Last wird. Was scheren mich Anstand und Herkommen und diese ganze Komödie der sogenannten Umgangsformen, die mich zwingen, jemandem guten Tag zuzurufen, dem ich lieber die Pest wünschen würde, und mich hindern, einen Schurken oder Dummkopf beim richtigen Namen zu nennen.«

Man muß in der zivilisierten Gesellschaft geboren sein, um es sein Leben lang geduldig innerhalb derselben auszuhalten und nicht ein einziges Mal den Wunsch zu empfinden, irgendwohin aus der Sphäre all dieser lästigen Bedingungen zu entfliehen, all der giftigen kleinen Lügen, die durch die Macht der Gewohnheit Gesetzeskraft erlangt haben, aus dieser Sphäre krankhafter Eigenliebe, idealen Sektiertums, allgemeiner Unaufrichtigkeit – mit einem Wort, aus all dieser nichtigen Nichtigkeit, die das Gefühl abstumpft und den Verstand korrumpiert. Keine gesunde Natur vermag unsere »Kultur« in größeren Dosen zu sich zu nehmen, ohne von Zeit zu Zeit den lebhaften Drang zu empfinden, aus ihrem Rahmen herauszutreten und sich von der allzu komplizierten Struktur und krankhaften Verfeinerung dieser Lebensweise zu erholen.

In diesem Sinne ist auch Francks Buch eine Erholung, es ist eine billige und angenehme Wanderung durch alle Länder der Erde, die man freilich ein wenig durch die Augen eines fremden Schilderers sieht, aber durch Augen, die scharf beobachten und Beobachtetes darstellen können, ohne im Guten oder im Bösen zu übertreiben. Es ist mit einer wohlwollenden, ruhigen, beinahe geschäftlichen Sachlichkeit geschrieben, und ab und zu werden kleine, ironische Lichter aufgesetzt. In keiner Zeile erhebt es sich zur Dichtung oder zum Kunstwerk, so sehr spiegelt es das klar geschaute Leben – und nichts als das.

In fast allen vorgenannten Büchern werden diese Betrüger, Schufte, Hochstapler, Falschspieler, Vagabunden, Entgleisten, alle die Ritter der Vorurteilslosigkeit und die wirklichen Zertrümmerer der gesellschaftlichen Moral, die ihr Heim bald in einer Villa und bald im Zuchthause aufschlagen, mit einer Note gütiger Voreingenommenheit geschildert. Die Dichter nehmen alle Partei für diese Elenden und suchen den Grund der Verkommenheit ihrer Helden in der Konstruktion unseres Gesellschaftslebens, das durchweg verdammt wird.

Man kann diese Menschen aber auch humoristisch auffassen, wie Dickens, tragisch wie Dostojewski, komisch wie Shakespeare; man kann sie als eine Art kräftiger, brutaler Tiere betrachten, wie Johannes V. Jensen, gefährliche Tiere, mit denen man zu rechnen hat, oder endlich, man sieht sie unter dem Gesichtswinkel einer bedauernswerten sozialen Erscheinung, wie Victor Margueritte.

Thackeray hat sie ironisch, sarkastisch oder satirisch dargestellt; aber nie ohne den humoristischen Einschlag zu vergessen. Wenn man seine » Feine Gesellschaft« gelesen hat, in der sich englische Gauner in allen Schattierungen und aus allen Gesellschaftskreisen ein Rendez-vous geben, hat man das Gefühl, eine neue Spezies Galgenvögel kennengelernt zu haben, denen man trotz allem ein gewisses Mitgefühl nicht versagen kann. Das wird freilich nur durch die Schilderungsweise Thackerays hervorgerufen, die – obwohl sie sehr überlegen ist – doch immer mitempfindsam bleibt. Nicht, daß er in Gefühlen schwelgte, wenn er die verzweifelten Schliche und dunklen Operationen dieser Halunken beschreibt; aber es klingt durch alle seine satirischen Hammerschläge ein Ton des Mitleids hindurch, der es ihm auch unmöglich macht, seine Helden »schuldig« zu sprechen. Am liebsten gibt er der Gesellschaft selbst schuld, obwohl er nie im eigentlichen Sinne ein Schuldig oder Unschuldig ausspricht. Er hat sogar eine gewisse Freude daran, die Gesellschaft von seinen Strolchen foppen und betrügen zu lassen; er zeigt sie gern denen, die in ebenem Gleise laufen, an Witz und Erfindung, an Talent und Tatkraft überlegen.

Nur eins nimmt er offenbar seinen Galgenstricken übel: wenn sie sich von noch größeren Gaunern bluffen und übertrumpfen lassen (wie etwa in den Geschichten »Die verhängnisvollen Stiefel«, »Die Denkwürdigkeiten des J. Yellowplush«, »Die Liebesabenteuer des Herrn Deucease«); wenn der Betrüger sich selbst betrügen läßt und zum dummen Teufel wird, empfängt ihn der Autor mit einer unbarmherzigen Lachsalve. Wenn der Hochstapler in dem Augenblick, wo er schon die Million erbeutet zu haben glaubt, von einem raffinierteren Schwindler überlistet wird, der ihm die Million aus der Hand nimmt, läßt ihn Thackeray fallen, wirft den armen Teufel in den Rinnstein und gibt ihn dem Spott preis. Bist du schon ein Lump, dann laß dich bei deinen Lumpereien nicht erwischen. Du darfst meinetwegen stehlen; wirst du aber dabei ertappt, dann soll es dir so elend ergehen, mein Freundchen, wie es die korrekte Gesellschaft wünscht; dann verfällst du allen Paragraphen des moralischen und staatlichen Gesetzes, und ich selbst gebe dir ein paar hinten drauf. Dann soll dich das Schicksal windelweich hauen. Denn ob du die Hochstapelei zu deinem Beruf erwählst oder eine ehrbarere Laufbahn – sei, was du bist, recht. Erfülle in jedem Falle deine Pflichten als ein ganzer Mann; sei auch als Gauner ein Talent; unterliegst du aber, dann soll dich der Kuckuck holen, ob du nun auf moralischen oder unmoralischen Wegen wandelst. Der Stärkere hat Recht.

Das ist etwa die überlegen-satirische Stellung, die Thackeray seinen Gestalten gegenüber einnimmt.

Weder über den lebhaften Stil, der voller Drolligkeiten ist, noch über die farbenprächtige Charakteristik Thackerays braucht man ein Wort zu verlieren. Er ist so lebensvoll wie Balzac und in seiner Weise nicht minder bedeutend. Ihm fehlt freilich der titanenhafte Zug Balzacs, der der Welt wie ein Koloß gegenübersteht; dafür hat Thackeray mehr Humor. Und obwohl auch Balzac in seiner »Menschlichen Komödie« die Welt im Sinne Thackerays als »feine« Gesellschaft sieht, betrachtet er sie doch mehr als Soziologe und Psychologe, während Thackeray sie als Gesellschaftssatiriker und Humorist schildert, mit der Freude am Kleinen und Kleinsten.

Der Däne Johannes V. Jensen, der es ebenfalls liebt, die »feine« Gesellschaft zu schildern, hält sich mehr an die Linien der feinsten literarischen Kolportage. Er stellt seine Menschen in »Madame d'Ora«, in »Das Rad« u. a. in ein Milieu, in dem der Verbrecher gezwungen ist, all seine Intelligenz, all seine Kraft zu konzentrieren, so daß man bei ihm so etwas wie den Typus des Nietzscheschen Verbrechers kennenlernt, der der Stärkere ist und der infolgedessen auf seine Verbrechen stolz ist. Jensens Verbrecher bauen schwindelnde Lügengebäude auf, voller Winkel und Labyrinthe, in denen sich kein Fremder auskennt. Sie gehen, wenn man das Paradoxon gelten lassen will, offen und gerade auf ihr Opfer los, weil es ihnen dann mehr Freude macht, es zu verschlingen. In seinen » Exotischen Novellen« führt er uns nach China und Japan. Er zeigt uns den zum Zugtier herabgewürdigten, verkommenen Kuli, der, in seiner Lebensweise primitiv wie ein Esel, in seiner verschrumpften Seele dennoch die heftigsten Begierden und Leidenschaften birgt; der aus Rache um ein Nichts zum viehischsten Mörder wird. Oder er schildert betrunkene Matrosen in den Höhlen williger Geishas; namenlose Menschen, die einander ihre Pässe und Stellungen rauben. Oder er beschreibt die Manipulationen amerikanischer Bauernfänger, die in den Hinterzimmern versteckter Kneipen einen mißglückten Feldzug auf den Geldbeutel des harmlosen Fremden mit dem Revolver beenden.

Unter diesen Geschichten, in denen alle wilden Leidenschaften losgelassen sind, gibt es indessen eine Erzählung, » Der kleine Ahasverus« betitelt, die zu den packendsten gehört, die die neuere Erzählungsliteratur besitzt. Er schildert zwei verwaiste kleine Judenkinder, deren Eltern während der russischen Judenverfolgungen nach Neuyork ausgewandert sind. Der Vater, der in der neuen Welt an irgendeiner lebhaften Ecke seinen Hausiererkram feilbietet, wird gelegentlich eines Streiks totgedrückt, und die Mutter, die durch diese Katastrophe den letzten Halt und die kümmerlichen Reste ihrer Hoffnung verloren hat, stirbt vor Hunger. Das letzte Eßbare, das sie besitzt, eine Zwiebel, gibt sie ihren weinenden Kinderchen in die Hand und schickt sie auf die Straßen Neuyorks: »Geht heim!« ist ihr letztes Wort. Kein Segen, keine Brotkrume, nichts als dieses fürchterliche »Geht heim nach Rußland«, aus dem eine Welt der grauenvollsten Enttäuschungen spricht. Und der Fünfjährige wandert mit der Zweijährigen weinend los, Straßen auf und nieder, an Millionen gleichgültiger Menschen vorüber, durch tausend Fährnisse, bis man beide endlich ermattet aufliest und ins Kinderasyl bringt.

Hier hat Jensen das Symbol des Ahasver in einer kurzen Erzählung gegeben, die gewaltiger ist als alle Ahasvergeschichten, die ich kenne. Wir haben Jensen schon immer als einen Dichter geschätzt, der neue poetische Werte, neue Bilder, neue Symbole schuf, der mit einer erstaunlichen Kraft der Charakteristik ein tiefes Gefühl verbindet und der die Gabe besitzt, unser Herz um und um zu kehren, – nie aber hat er so menschlich zu uns gesprochen und in einem so großen, eindrucksvollen Gemälde.

Das Ahasvermotiv ist eines jener poetischen Symbole, das in den Literaturen aller Völker heilig gehalten wird und am häufigsten wiederkehrt. Über die Jahrhunderte hinweg reichen die Dichter dies Motiv einander zu. Ob dieser Ahasver als Jude, Flüchtling, Vagabund oder Pilger bezeichnet wird, ist ohne Belang. Es ist die große Heimatlosigkeit, von der die Dichter singen; es ist das verlorene Paradies, das diese nimmermüden Wanderer suchen, und in jedem Menschen lebt etwas von dieser rastlosen Sucht, die in die unbekannte Ferne treibt, in der man das Paradies zu finden hofft.


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