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Die Alten

Wissen heißt intuitiv genießen. Es heißt: Grund und Wesen der Tatsachen entdecken, um sich ihrer zu bemächtigen. Für die einen besteht freilich die Bildung darin, zu wissen, daß Goethe zu kurze Beine hatte, Beethoven gern gefälschte Weine trank, Klopstock ein flotter Schlittschuhläufer war, Schopenhauer einen Pudelhund besaß, und was derlei Schnickschnack mehr ist. Für die anderen heißt Bildung: reich werden, durch welche Mittel auch immer, und dann im vornehmen Stadtviertel eine große Wohnung, ein Auto, Pferde und ein großes Dienstpersonal halten. Aber was bleibt denn von allem materiellen Besitz übrig? Staub. Vielleicht ein Name; wenn es hoch kommt: eine Erinnerung. Was ist geblieben von den Pharaonen, die ganze Völker verschlungen haben, um sich eine Grabstätte zu errichten? Was ist geblieben von den hochentwickelten Kulturen der Phönizier, Meder und Perser? Von der Siegesbeute des Cyrus, des Alexander? Von den Reichtümern des Mäcen, den prunkvollen Gastmählern des Lukullus, den schwelgerischen Bädern des kaiserlichen Rom, von der Schönheit der Lukrezia, den Orgien der Borgia, den fabelhaften Vermögen der Medici und Sforza? Torsi und Trümmer und eine Anekdotensammlung, deren Echtheit durch nichts bewiesen wird.

Von der endlosen Geschichte des menschlichen Geschlechts, von dem ungeheuren Aufwand seiner riesenhaften Nichtigkeiten ist nichts geblieben als die Idee. Wie schön muß also das Leben eines Menschen sein, der das ganze Reich der Wirklichkeit seinen Gedanken einprägt, der vom Gebiete des Wissens im weitesten Maße Besitz ergreift, kurz, der die Ideen selber zum Zielpunkt seines Strebens macht und so die reinsten und unsterblichsten Freuden genießt?

Wenn man sich in die Unendlichkeit von Raum und Zeit stürzt, über dem grenzenlosen Abgrund der Vergangenheit schwebt, muß unsere in der Endlichkeit gefangene Seele schaudern bei der Vorstellung, daß Milliarden Jahre vergangen sind, Millionen Völker gelebt haben, die von dem schwachen menschlichen Gedächtnis vergessen worden sind und deren Staub, an der Oberfläche unseres Erdballs angesammelt, jene dünne Erdschicht bildet, aus der uns Brot und Blumen wachsen. Die Paläontologie erscheint dann als eine erhabene Dichtkunst. Dank einiger gebleichter Gebeine läßt sie verschollene Welten vor unseren Augen auferstehen; dank einiger Kohlen und Petrefakten baut sie tausend längst gestorbene Wälder wieder auf, füllt sie mit unzähligen Geheimnissen und belebt sie mit seltsamen Formen der Tierwelt. Wenn diese Forschung den vierzig Meter langen Atlantosaurus, den dreißig Meter langen Diplodokus, den zwanzig Meter langen Iguanodon beschreibt, Tierkolosse, deren Backzähne je einen Zentner wiegen, – heißt das nicht den Tod beleben und ohne Zaubersprüche eine Welt aus dem Nichts hervorrufen? Die Auferstehung vergangener Menschengeschlechter wahr machen und das Panorama der Vergangenheit heraufbeschwören? Niedergeschmettert von so vielen zerstörten Welten, fragen wir uns, wozu unser Haß, unsere Liebe, unser Ruhm und unser Streben. Uns wird es nicht anders ergehen, als den Welten vor uns; vorausgesetzt, daß in späteren Jahrtausenden ein Cuvier sich die Mühe machen wird, uns, den Schutthaufen, den wir bilden werden, durch seinen rückwärtsschauenden Blick zu beleben und durch sein Wissen zu beschwören.

Was uns not tut, ist die Klarheit des weiten Umblicks in den unendlichen Wüsten des Daseins. Nur die Alten haben diese Klarheit besessen. Darum muß eine intelligente Ausmünzung der Werke griechischer und römischer Denker, dieser Wunderschätze vergangener Zeit, notwendigerweise das Kulturniveau heben und jeden mit einem Bedürfnis nach dem Luxus edler Gedanken erfüllen. Wenn man die trübe Wirklichkeit verläßt, um zu den verzauberten Stätten der Ekstase zurückzukehren, wo die brünstigen Mythen Griechenlands und Ioniens fortleben, wo man braune Mädchen vor dem Gotte Priapus tanzen sieht, wo man auf üppigem Lager, den reichen Putztisch neben sich, Julia erblickt, die ihren Tibull erwartet, oder Alkibiades, der neben Geaule ruht, dann hat man bald das Gefühl, ein Aladin zu sein, der, immer an Elend und Armut gewöhnt, inmitten einer Einöde zu jenen wunderbaren Sälen hinabgelangt, in denen die kostbarsten Schätze haufenweise daliegen; er braucht sich nur danach zu bücken.

Wir streben stets danach, mit überlegenen Menschen umzugehen oder wenigstens im Geiste mit ihnen zu verkehren. Wenn wir jung sind, ist es unser Traum, die Stätten aufzusuchen, wo die geistesgewaltigen Menschen wohnten, und wenn wir reif sind, ist es unsere ernste Sorge, ihre Werke in unserem Besitz zu wissen. Es gibt Bücher, so heilsam, kräftig, umwälzend und gebieterisch, die der Ausdruck eines so umfassenden Geistes sind und die für unser Innenleben von gleicher Bedeutung und gleichem Einfluß sind wie Eltern und Lehrer. Solche Bücher sind die der Alten. Den Alten verdanken wir alles. Sie sind unsere eigentlichen Väter, der Urquell alles Denkens, wie die Faustischen Mütter der Urquell alles Seins. Sie sind die Wurzeln, denen wir entsprossen sind. Sie haben uns die Basis unseres Wissens gegeben. Von ihnen kommt unsere Liebe zur Kunst, zur Philosophie, zur Schönheit, Wahrheit, zum Ernst und zum Frohsinn des Daseins. Von ihnen kommt unsere Sehnsucht nach einer Vermählung von Kunst und Leben.

Wir Kinder des XX. Jahrhunderts haben freilich wenig vom hellenischen Geiste. Und wir können auch gar nicht hellenisch sein. Wir können nicht mehr in kühler Betrachtung der Tatsachen und in reserviertem Genuß der Schönheit leben. Wir wollen, daß der Sturm in unsere Segel blase und uns unbekannten neuen Landen entgegentreibe. Schon haben wir den Rücken der Erde durchsucht, haben ihre Eingeweide durchwühlt. Die Dinge sind aus dem Sonnenglanz der Klarheit in die Nacht der unendlichen Größe aufgerückt. Aber unser Blick ist nicht gesammelt, nicht auf das Monumentale gerichtet, und wir sehen nicht das Ende aller Möglichkeiten. Wir haben nur die Witterung für die großen Dinge, nur das Gefühl für das Ganze. Dies ist das Neue, das uns aus dem Kirchhof des Hellenismus erblüht ist. Gewiß sind wir etwas Fortgeschrittenes. Aber wir können unsere Gedanken nicht mehr konzentrieren; wohin wir auch blicken mögen, über uns, unter uns, auf sichtbare Dinge oder Ideen, immer verliert sich das Auge ins Unendliche, Unermeßliche. Und wiederum sind wir auch in nichts verschieden von den Alten. Auch unsere Phantasie treibt nach oben, ringt nach Überwindung der Schwere, nach Besiegung des Täglichen, Gewöhnlichen, Althergebrachten.

Und dennoch, wer sich mit den Alten beschäftigt, wird bald von einem Erstaunen ins andere fallen. Wie? Sind das die Alten, die wir ein paar Jahrtausende hinter uns gelassen haben? Wußten sie nicht bereits alles, was wir wissen? Und da ihr Leben einfacher, ihr Denken nicht so ballastbeladen, ihre Seele freier und ihr Blick für die Zusammenhänge des Daseins umfassender war, waren sie durch diese Tatsache allein nicht schon groß und bedeutsam? Denn es sind ganz unwesentliche Dinge, in denen wir ihnen voraus sind; Dinge des Verstandes und der Nerven, aber nicht des Herzens und des Geistes und ganz und gar nicht Dinge der Seele. »Ich greife nicht gern nach neuen Büchern,« sagte Montaigne, »weil mir die Alten mehr Kern und Geist zu haben scheinen.«

Man mache doch einmal den Versuch und befreie sich von der Ehrfurcht, die dies Pantheon der großen Namen uns unwillkürlich einflößt, und lese die Plato, Herodot, Plutarch, Tacitus, Horaz, Lucian, als ob sie Niemand oder Irgendwer hießen. Sie werden wie eine Offenbarung wirken, und die meisten unserer Politiker, Staatsmänner, Historiker, Dichter, Satiriker werden uns klein und kleinlich erscheinen.

Ein alter Satz sagt: »Wenn Zeus auf die Erde herabstiege, er würde sprechen wie Plato.« Platos Sprüche sind der Hauptquell alles Schrifttums. Alles, was wir noch heute schreiben, sei es über Logik, Arithmetik, Geschmack, Schönheit, Sprache, Dichtkunst, Rhetorik, Ethik, Erkenntnislehre, – alles kommt von ihm. An ihm gemessen schmelzen die »originellen Denker« fürchterlich zusammen. Seit dreiundzwanzighundert Jahren ist er die Bibel der Gelehrten. Boethius, Augustin, Newton, Kopernikus, Rabelais, Erasmus, Calvin, Bruno, Locke, Spinoza, Goethe, Rousseau, Swedenborg, Schopenhauer, die Alexandriner, die Männer der elisabetanischen Zeit, die Mystiker, die Neuplatoniker – die ganze erdrückende Fülle der Geister und Geistesrichtungen danken Plato ihr wesentliches Teil. Als ob die Welt es müde geworden sei, sich definieren und sich einzwängen zu lassen in die spanischen Stiefel der Theorien und Hypothesen vom »Ding an sich« und dem »Nicht-Ich«, vom »Satz vom Grunde« und vom »Grundsatz der Bestimmbarkeit«, weist sie immer wieder zurück auf Plato. Alle haben sie von Platos Geist geborgt, alle stehen sie auf seinen Schultern. Und er steht auf der Höhe der modernsten Gelehrten.

Und von Plutarch sagt Emerson, wir können ihn nicht lesen, ohne daß unser Blut in Wallung gerät. Seine Welt scheint ein stolzer Ort, bevölkert von Menschen mit positiver Tüchtigkeit, mit Helden und Halbgöttern, die uns nicht schlafen lassen. Darum sollte er auch in der kleinsten Bibliothek nicht fehlen. Wer ihn liest, wird dankbar sein für die Erfindung der Buchdruckerkunst und für das freudenbringende Bereich der antiken Gedankenwelt. Er bezaubert durch die Leichtigkeit seiner Ideenverbindungen, und wo wir auch seine Schriften aufschlagen: überall finden wir uns zu einem olympischen Gastmahl gelagert. Sein Gedächtnis gleicht den isthmischen Spielen, zu denen alles Ausgezeichnete von ganz Hellas zusammenkam.

Die ganze Bedeutung der Weltgeschichte besteht darin, mein Selbstvertrauen zu stärken, das mir die Kraft gibt, große Aufgaben zu erfüllen. Dies ist die Moral des Thukydides. Er ist der klügste, Tacitus der knappste und weiseste und Herodot der unterhaltendste aller Geschichtsschreiber. Juvenal ist die Galle, und Lukian ist die Geißel des hadrianischen Zeitalters. Er ist ein Prometheus in Worten. Sie alle sind uns in den meisterhaften Übersetzungen von Wieland, Schleiermacher, Kaltwasser, Goldhagen zugänglich. Und man hat es keinen Augenblick zu bedauern, wenn man sie in Übersetzungen lesen muß. »Ich lese die alten Griechen nicht in der Ursprache,« sagte Montaigne in seiner nie versiegenden Aufrichtigkeit, »weil meine schüler- und lehrlingsartigen Begriffe von dieser Sprache mir nicht erlauben, sie mit Urteilskraft zu lesen.« Welchen Grund es hatte, daß Goethe und Schiller, Napoleon und Friedrich der Große ebenfalls gute Übersetzungen den antiken Originalen vorzogen, das wissen wir nicht. Aber wir wissen, daß sie sie mit wahrer Leidenschaft lasen.

Mit Grund. Denn alles, was nach diesen Alten geschrieben und gedruckt worden ist, ist Nachahmung, Auslegung und Erläuterung. Darum bedeutet es Zeitersparnis, die Alten zu lesen. Nur Gutes kann durch die Jahrtausende erhalten bleiben, und nur Weise sind die Lehrmeister für tausend kommende Geschlechter.


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