Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Schein und Wirklichkeit auf der Bühne

Die alleinseligmachende Theorie des konsequenten Naturalismus war wieder einmal »neu entdeckt« worden. Denn wir waren des Epigonentums überdrüssig. Mitten in die Hochflut jambischer Römer- und Cheruskertragödien, die zur lebendigen Gegenwart nicht mehr Beziehungen hatten als Petrefakten – nur daß diese immerhin etwas Positives sind und eine lebendige Vergangenheit beweisen – mitten in das sterile Geleier des ewigen

Datá Datá Datá Datá Datá,

das den »Schönheitsdurst« der Menge stillen sollte, kamen die Propheten des Naturalismus und erklärten uns, wenn wir künftig in unseren Dichtungen Käse beschrieben, oder Misthaufen, so müßte es auch ordentlich nach den Dingen stinken, sonst würde man nicht mehr zu den deutschen Dichtern zählen. Die meisten, aus Furcht, nicht genug zu tun, beschrieben nun die Dunggruben mit peinlicher Gewissenhaftigkeit, und wenn sich dem Leser der Magen umdrehte, freuten sich die Dichter des sichtbaren Erfolges.

Die klugen Bühnenleiter griffen diese Neuerung mit vielem Feuereifer auf. Und das Publikum, das immer des Staunens voll ist, wenn es auf der Bühne eine »richtige« Birke und keine gemalte, ein »richtiges« Kind und keine Puppe zu sehen bekommt, konnte sich nun nicht genug darüber wundern, daß die Schauspieler sich ebenfalls wie »richtige« Menschen benahmen; daß sie so sprachen und spuckten, wie es die Menschen allerorten tun. Der gesunde Menschenverstand hatte gesiegt. Man begriff nicht, wo man so lange seine fünf Sinne gehabt hatte. Denn wo in aller Welt hatte man auch gehört, daß die Menschen in Jamben sprachen und immer auf Stelzen gingen! Jetzt sah man ein, daß unsere Ahnen – die guten braven Leute! – nie etwas gewußt hatten von wahrer Kunst; die hatten erst die naturalistischen Dichter entdeckt, als sie herausbekommen hatten, daß die Kunst der Natur einen Spiegel vorhalten müßte. Die Bühne insbesondere sollte fürderhin keine »moralische Anstalt« mehr sein, sie sollte vielmehr ein getreues Abbild des Lebens geben. Und jetzt erst bedeuteten die Bretter die Welt.

Diese Welt zerfiel in zehntausend Provinzen, und jede Provinz – das waren die Ergebnisse der neuaufgekommenen Völkerkunde! – hatte andere Sitten und Gebräuche, eine andere Moral und einen anderen Dialekt. In Schlesien sagte man »ju ju«, in Baden »jo jo« und in Berlin »tja ja«.

Welch ein reiches Feld für die Dramatiker! Wenn fortan ein Schauspieler auf der Bühne starb, so ersparte er dem Zuschauer keine Zuckung und keinen Seufzer und kein Röcheln. Wer in Irrenhäusern und Lehrbüchern den Verlauf der Paralyse oder Paranoia am gründlichsten studiert hatte, wurde als der größte Tragöde austrompetet. Es kamen Schauspieler zu mir, die mir erzählten, durch ihren »Oswaldschrei« berühmt geworden zu sein, und wieder andere bedauerten mich, daß ich sie noch nicht als »Molvik« in der »Wildente« hatte kotzen gesehen.

In Meiningen verfolgte man dasselbe Prinzip. Man verpflanzte den konsequenten Naturalismus auf den Boden des Historischen. Spielte man den »Cäsar«, so wurden die Zeichnungen, etwa das Forum romanum mit der Rostra, die Curia des Pompejus vom Konservator Visconti in Rom ausgeführt. Der Zuschauer, der einmal in Rom gewesen war, erstaunte dann über die »peinliche Genauigkeit« und fand alles »so natürlich« und »so lebenswahr«. Meiningen suchte gerade in der Genauigkeit und der historisch treuen Wiedergabe des Äußerlichen seinen Ruhm. Jede Litze und Spitze, jede Spore, jeder Schuhnagel mußte eine historisch getreue Nachbildung sein, und der historischen Phantasie ward nicht der geringste Spielraum gegönnt.

Aber bald hatte man auch von diesem Geschichtsunterricht genug bekommen, und man wollte nicht mehr, daß die Bühne in ein historisches Museum verwandelt würde. Andererseits hatte die praktische Erfahrung gelehrt, daß die dramaturgische Behauptung, der Glanz der Ausstattung lenke von der Dichtung ab und beeinträchtige das Einfühlen in sie, sich nur am Studiertisch aufrechterhalten ließ, aber nicht im Theater. Darum erwiesen sich auch jene Bühnen, Tribünen, Tribunale u. a., die ohne Dekorationen spielten, die den Schauspieler aber – seltsamer Widerspruch! – trotzdem in Kostüm und Maske auf einem nackten Podium auftreten ließen, als etwas, das weder Fisch noch Fleisch war und keinen langen Bestand haben konnte. Kam es nur auf das nackte Wort des Dichters an, wie man verkündete, dann konnte man es ja im Vortragssaal zu Gehör bringen. Wollte man aber Theater spielen, dann mußte man sich zum Theater bekennen. Mit dem nackten Wort des Dichters auf dem nackten Podium lockten diese Bühnenleiter keinen Hund hinterm Ofen vor; erst als eine nackte Frau (in »Franziska«) sich einem erstaunten Publikum zeigte (es war allerdings die Zeit der Kleidernot!), kam es in Scharen. Aber um nackte Frauen zu sehen, brauchte man ja nicht gerade ins Theater zu gehen, das kein Theater war und ein Bordell nicht sein wollte und für einen Vortragssaal nicht gelten konnte. Der Kenner des Theaterpublikums mußte zugestehen, daß der Zuschauer gerade von der glücklichen Ausstattung eines Dramas den ersten und stärksten sinnlichen Eindruck empfing, und daß der Anstoß vom Dekorativen ausgehen mußte, der die leichtbewegliche Phantasie in eine bestimmte Richtung drängte und sie in ihr festhielt.

Die mannigfachen Versuche mit der Shakespearebühne schlugen fehl. Die Zuschauer fanden es ganz drollig, wenn ein Page mit einem Plakat auf der Bühne erschien, auf dem zu lesen war: »Dies ist der Garten des Capulet« oder »Dies ist ein Zimmer in Shylocks Haus«, obgleich man trotz des jeweils wechselnden Plakates nichts anderes sah als stets dieselben bemalten Kulissen und Soffitten; aber wozu hatte man denn seine Phantasie! Mochte sich jeder die Paläste und Wälder vorstellen, wie er wollte und konnte. Man fand das schnurrig, man lachte, man unterhielt sich gut dabei, nur in Stimmung kommen konnte man nicht, und das Wort des Dichters ging glatt zum Teufel.

Woran haperte es? Mangelte es dem Zuschauer an Phantasie? Sicherlich nicht. Man hatte aber ungefähr dasselbe peinliche Gefühl, das ein Gast haben muß, dem der Kellner anstatt eines wirklichen Brathuhnes eine Attrappe vorsetzt. Es war ein ganz lustiger Anblick, aber satt wurde man davon nicht. Trotz der wechselnden Plakate der Shakespearebühne sah man doch nur die paar armseligen Soffitten. Und man fragte sich: Warum soll ich mich selber uzen? Warum diese Plakate, die dank unserer Technik nur eine historische Kuriosität geworden sind? Soll ich im rumpelnden Postwagen fahren, wenn ich den Blitzzug benutzen kann? Die Zeitgenossen Shakespeares mußten sich mit diesen Plakaten behelfen, aber wir können kein anderes Vergnügen daran finden, als etwa der Gourmet es hat, der zur Abwechslung einmal Gefangenenkost ißt. Verlangt der Dichter einen Dogenpalast, so will ich einen Dogenpalast sehen; diesen Palast soll der Regisseur um Gottes willen nicht aufbauen mit Stein und Mörtel und Holz und Eisen; ich will keinen »richtigen« Palast sehen. In der Welt des schönen Scheines verlange ich vielmehr nur den möglichst vollkommenen Trug, die fast vollendete Täuschung. Gebt mir ein paar gut gemalte Bäume, und ich dichte mir schon selber den Wald hinzu. Schüttelt hinter den Kulissen eifrig die Erbsen in der Drahttrommel herum, und ich will euch gern den Regen glauben; dreht hurtig die Windmaschine in der Nacht, in der Macbeth den König ermordet, dreht das über ein paar Latten gespannte Moiréleinen, und ich will gern an den Sturm glauben, der an Tür und Fenster rattert. Kurz – reicht meiner Phantasie einen kleinen Finger, und ich fasse schon selber nach der ganzen Hand. Gebt mir einen Anhalt, führt mich an die Pforte der Stimmung, in die ihr mich bringen wollt, und ich will schon von allein weitergehen.

Hatte man einmal klar erkannt, daß der Zuschauer überhaupt nichts anderes will, so stand die Aufgabe auch unzweideutig vor uns. Wenn der Dichter ein reiches Genua schildert, einen verschwenderischen, goldprunkenden Fiesko, eine prachtstrotzende Donna Imperial, so ist dem Regisseur die unfehlbare Richtschnur für die dekorative Ausstattung gegeben. Aber man verzichtet gern auf alle Historie und Echtheit; man will von der Bühne keine wissenschaftlichen Exkurse, sondern künstlerische Erhebung; man will keine gemeine Wirklichkeit, sondern den schönen Schein. Man sucht sich mit Phantasiekostümen zu begnügen, die in Schnitt und Farbe charakteristisch sind. Man gibt im »Richard III.« dem heiteren vertrauensseligen Hastings ein weißes und lustig ausgezacktes, flottes Kleid; das Gewand des intriganten Buckingham sei dunkel, pompös und mit unklaren Arabesken bedeckt, voller Schnörkel und Windungen, wie sein Wesen selbst. Kann Clarence im Tower nicht einen hellen Mantel getragen haben? Aber wenn es selbst historisch feststellbar wäre, daß er z. B. ein knallgelbes Gewand getragen hat, muß ihm der Regisseur entgegen der historischen Wahrheit ein dunkles Kleid anziehen, weil es die Stimmung und die Situation verlangt. Mit anderen Worten: Die Kunst steht über der historischen Wahrheit. Dieses fundamentale ästhetische Gesetz hat uns für lange Zeit von den Meiningern und von allem Naturalismus entfernt.

Die Dramatiker sind wieder zur Romantik, zum Märchen, zur Vergangenheit, zum Vers, kurz – zur Unwirklichkeit zurückgekehrt, weil sie das Bedürfnis hatten, sich und uns über alle Wirklichkeit und Erdgebundenheit hinauszuheben. Das können sie nur, wenn sie uns nicht in jedem Augenblick in die Wirklichkeit zurückrufen, sondern uns vollkommen an sie vergessen lassen. Wenn man betet, muß man, trotzdem man auf der Erde kniet, von der Erde entrückt sein. Und wenn die Regie Kunstandacht erwecken will, muß die Bühne mich erlösen von mir selbst, sie muß mich befreien können von dem ummauerten Kerkerhof der persönlichen Beziehungen, die mich einengen und bedrücken. Das kann sie aber nicht, wenn sie mich fortwährend an die graue Jämmerlichkeit des Alltages gemahnt. Wie alle Kunst nur Symbol ist, kann auch die Bühne immer nur ein Gleichnis geben; nicht die Wahrheit der Außenwelt, sondern eine allgemein menschliche Wahrheit, die der Dichter uns ins Bewußtsein ruft.

Und dies eben läßt allen Dialekt und allen Naturalismus überflüssig erscheinen. Der Dichter hat mir nichts zu sagen, der mir etwas erzählt, was nur in oberschlesischer oder steirischer Mundart gesagt werden kann. Die Hottentotten und Azteken erleben Tragödien so gut wie wir; aber nicht, daß sie Hottentotten sind, darf das Besondere sein, wenn ich eine Tragödie jenes Naturvolkes schreibe, sondern daß auch sie Dinge erleben, die die Menschen allerorten als tragisch und wahr empfinden. Und dies kann immer gut deutsch gesagt werden, wofern man die deutsche Sprache beherrscht. Glaube ich daran, daß auch Tiere eine Seele haben, daß sie denken und empfinden, lieben und hassen, Leid und Freude fühlen ebenso wie die Menschen, so kann ich auch Tiere auf die Bühne bringen (Aristophanes, Lucian, Maeterlinck), aber es wird mir nie einfallen, sie nur bellen oder wiehern zu lassen. Sie können ebenfalls deutsch reden; die Hauptsache bleibt immer, daß sie etwas zu sagen haben.

Das äußere Drum und Dran, in das der Dichter seine Symbole kleidet, das Dekorative der Ausstattung und der Kostüme, erheischt dasselbe Gesetz. Es ist nicht nötig, daß der Käse, den ich auf die Bühne bringe, bis in den Zuschauerraum hinabstinke oder daß der Sterbende mir keine Zuckung der Agonie erspare; der Schein ist auch in allem Dekorativen mehr als die Wirklichkeit.


 << zurück weiter >>